Biografien & Erinnerungen
Sie haben wohl keine Kinder... - ... dann können sie auch nicht mitreden !

Im Plus an der Kasse.

Wie immer überfüllt. Nur die Anwesenheit meiner Freundin trägt dazu bei, dass ich trotz eines sehr anstrengenden Arbeitstages einigermaßen entspannt bin. Desweiteren lenkt mich ein Kind ab, das wohl Spass daran findet drei Schritte entfernt seiner Mutter rumzustehen und die Leute in der Warteschlange dumm anzuschauen. Es steht einfach nur da und schaut. Es gibt keinen Ton von sich. Sein Gesicht ist regungslos. Lediglich seine Augenlider blinzeln ab und an, wenn er sein trockenes Auge befeuchtet. Was genau er so intensiv betrachtet, ist mir nicht ganz klar. Aber es muss ungeheuer spannend sein. So spannend, dass der kleine Junge die erste keifende Aufforderung seiner Mutter überhört.
"Komm mal her."
Er reagiert nicht.
"Ich hab gesagt, Du sollst herkommen!"
Keine Reaktionen. Lediglich ein Blinzeln. Geständigerweise würde ich auch nicht reagieren, wenn ich in seinem Alter wäre und die Bitte meiner Mutter in solch einer Weise formuliert wäre.
Die Mutter hatte wohl ebenso wie ich einen stressigen Tag und der Ungehorsam ihres Pänz trägt nicht wirklich zur Aufheiterung bei. Sie packt das Kind am oberen Arm und schüttelt es wild. Dabei holt sie tief Luft und während des Ausatmens keift sie durch den Laden.
"Wie oft soll ich dir das noch sagen. Kannst Du einmal auf mich hören. So schwer ist das doch nicht. Wenn ich sage, du sollst herkommen, dann hast du gefälligst zu hören. Womit habe ich dich verdient..."
Sie scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen, aber in dem Gebrüll des Kindes gehen ihre Worte unter.
Ich bin mir nicht sicher, ob er schreit, weil die Mutter ihn vor allen Leuten öffentlich "zur Sau" macht oder ob die Umklammerung ihn schmerzt. Ersteres dürfte er ja eigentlich gewöhnt sein; denn wenn sie schon in der Öffentlichkeit solch einen Aufstand macht, mag ich mir gar nicht vorstellen, wie die Reaktion hinter geschlossenen Türen aussieht. Letzteres scheint eher der Fall zu sein, denn als sie ihn näher an den Wagen gezerrt hat, löst sie die Umklammerung. Das laute Geschrei des Kleinen schlägt in ein Wimmern über.
Ich kann meinen Blick von der Szenerie nicht abwenden; überlege, ob ich was sagen soll. Aber da der Junge jetzt ruhig da steht, wende ich mich lediglich meiner Freundin zu, die bereits die Waren aufs Band pfeffert.
"Also wenn mich jemand so am Arm durch die Gegend zerren würde, würde ich nicht nur schreien. Mein Gott, das arme Kind."
Wahrscheinlich habe ich das doch etwas zu laut gesagt. Denn die junge Kassiererin mischt sich sofort ein.
"Sie haben wohl keine Kinder."
"Nein, habe ich nicht."
Ich wundere mich über ihre Dreistigkeit sich in mein mit meiner Freundin begonnenes Gespräch einzumischen.
"Dann können sie ja gar nicht mitreden."
Eigentlich habe ich keine Lust auf eine Diskussion.
Ich will meinen Einkauf bezahlen und mich bei einem gemütlichen Essen, das wir beide uns gleich kochen werden, entspannen.
Trotzdem entgegne ich:
"Aber ich habe noch fünf Geschwister."
"Sie ist die zweitälteste" wirft meine Freundin ein.
"Ausserdem hat das Kind nichts gemacht und war bis dahin ruhig." teile ich lauthals mit.
"Ich habe zwei Kinder und weiss, was es heisst." sagt die Verkäuferin, während sie die Ware übers Band zieht.
"Das Kind war bis gerade ruhig" wiederhole ich. "Wenn mir jemand so am Arm wehtun würde, würde ich auch schreien."
Ich hasse sinnlose Diskussionen. Desweiteren sieht die Kassiererin sehr jung aus und ich wundere mich, dass sie schon zwei Kinder hat und trotzdem arbeiten geht. Irgendwie finde das wiederrum bewundernswert. Nur ihr Mitteilungsbedürfnis stört mich.
"Wenn sie Kinder hätten, würden sie anders reden."
In Gedanken nehme ich den Salat und haue ihn ihr solange auf den Kopf, bis es wehtut. Und dann darf sie sich nicht wehren, weil ich stärker bin als sie. Ebenso wie die Mutter stärker als der kleine schmächtige Junge ist.
"Ich entstamme einer Großfamilie und habe noch fünf Geschwister, wovon vier jünger sind als ich. Ich muss keine eigenen Kinder haben, um zu wissen, dass dem Kind jetzt der Arm wehtut."
Ausserdem bin ich müde und gereizt und schreiende Kinder sind da nicht gerade vorteilhaft. Aber das sage ich nicht.
"Naja," entgegnet sie. "Geschwister kann man mit eigenen Kindern aber nicht vergleichen. Das macht dann 24,85"
Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, ob ich mir doch eins davon andrehen lassen soll. Dann kann ich das packen und durch die Gegend kicken, wenn ich Aggressionen abbauen möchte. Bei fremden Kinden darf ich das nicht, dann kriege ich direkt eine Anzeige. Bei meinen Geschwistern durfte ich das auch nie. Bei eigenen Kindern, scheint es wohl erlaubt zu sein.
Und selbst wenn nicht, muss man erst eigene Kinder vorweisen können, um etwas dagegen sagen zu dürfen. Die Argumentationsgrundlage werde ich mir merken.
Jetzt habe ich allerdings keine Lust auf eine sinnlose Diskussion. Zum Glück hat meine Freundin ihr Portemonaie in der Hand und reicht der jungen zwei Kinder besitzenden Kassiererin die Scheine. Sie kennt mich und weiss, dass ich kurz vorm Explodieren bin.
Deshalb sage ich lieber nichts, nehme die Einkaufstasche und gehe schon mal in Richtung Ausgang, während meine Freundin noch auf das Wechselgeld wartet.