Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de
Ein strahlend, azurblaues Licht riss Vanessa je aus der Schwärze, die sie gefangen hielt. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich, während sie für einen Moment in einem wolkenlosen Himmel zu schweben schien. Dann war alles vorbei und die Realität brach mit ihrem fahlen Licht sowie dem Leichengeruch wie eine Sturmflut über sie hinweg.
Nachdem Lemorgant ihr wortlos beim Aufstehen geholfen hatte, ging er weiter.
Sie hielt für einen Moment inne, bevor sie sich die Maske übers Gesicht zog und dem Prinz folgte, bis sie zwei Leichen erreichten, die abseits der Kadaverhaufen lagen. Bei einer davon handelte es sich um den Ork, den Lemorgant zuvor erschossen hatte. Hatte er von unten noch wie ein normaler Vertreter seiner Rasse gewirkt, zeigte sich nun, dass auch seine Haut ausgeblichen war, dass er zwar vor Muskeln strotzte, aber dennoch vollkommen abgemagert war. Einige schwarze Geschwüre quollen aus seiner erblichenen Haut, während seine Augen ebenfalls von den dunklen Abszessen durchzogen wurden, dass sie fast gänzlich schwarz waren.
Vor der Kreatur lag die unbekleidete, verdreckte Leiche einer Frau, an deren Armen und Oberschenkeln tiefe Bisswunden klafften.
„Sie fressen die Leichen“, keuchte Vanessa angeekelt.
„Leichen, die von der schwarzen Verderbnis durchdrungen sind“, flüsterte Lemorgant, „Offensichtlich züchten sich die Thanatoiker ihre eigenen Monster. Aber ich nehme nicht an, dass sie all diese Menschen getötet haben, um sie an die Orks zu verfüttern. Ich würde doch meinen, dass etwas anderes dahinter steckt. “
„Was auch immer es ist. Erledigen wir die Quelle des Übels und dann verschwinden wir hier“, zischte sie.
„Wenn wir wüssten, was die Quelle des Übels wäre“, sinnierte der Prinz, bevor er über den ausblutenden Ork hinweg zu einem in den Fels geschlagenen Ausgang deutete, „Nach Euch.“
Vanessa setzte sich darauf sofort in Bewegung, wobei sie dankbar war, endlich den Leichen und dem Gestank entfliehen zu können.
Lemorgant, der mittlerweile anhand der Luftverzerrung erkennen konnte, wo sie sich ungefähr befand, folgte in einigem Abstand. Obwohl der Tunnel eng war und die Holzbohlen auf seinem Boden die unangenehme Angewohnheit hatten, bei jedem Schritt, den man auf sie setzte, ein leises Quietschen von sich zu geben, war er doch, wie Vanessa fand, eine ungemeine Verbesserung zur Grotte.
Der Verwesungsgeruch verflüchtigte sich mit jedem Schritt, den sie tiefer in den dunklen Stollen setzte, während vereinzelte Fackeln an den Wänden etwas Wärme und Licht spendeten. Leicht ansteigend führte der Gang um eine Biegung, vor der Vanessa einhielt und sich an den hinter ihr gehenden Prinzen wandte:
„Ihr wartet kurz!“
„Mit Vergnügen“, gab Lemorgant zurück, worauf sie weiter ging.
Nachdem sie um die Biegung geschritten war, strahlte ihr ein fahles Licht entgegen, das aus dem höher gelegenen Ende des Tunnels drang, wo sich dessen Wände zu einem schmalen Durchgang zusammenquetschten. Obwohl das Strahlen kaum Kraft besaß, blendete es ihre von der Dunkelheit gezeichneten Augen, sodass sie mehrmals stolperte, als sie sich langsam die Stiege hinauf kämpfte. Hinter dem Durchgang fand sie sich in einer finsteren Halle wieder, die vom bleichen Mondlicht erhellt wurde, das durch ein marmorverkleidetes Loch in der Decke fiel, sodass es wie aus einem gewaltigen, milchig weißen Auge in die Höhle hinabstarrte.
Das gespenstische Strahlen offenbarte etliche fahle Gestalten, die zusammengekauert auf dem Boden, auf Matten oder im Dreck lagen, während sich zwischen ihnen mehrere gewaltige Marmorsäulen erhoben, welche die Decke der Halle stützten und auf ein kleines Podest an ihrem Ende zu führten, auf dem sich ein steinernes Tor erhob, dessen Rahmen von etliche Sanduhrsymbolen geziert wurde. Vanessa stockte der Atem, als sie zwei Männer in nachtschwarzen Roben entdeckte, die mit begierigen Blicken eine der fahlen Figuren durch das Portal führten.
Für einen Moment blieb ihr Blick an den Männern haften, die zweifelsohne Schwarzmagier waren. Schwulstige, fleischige Narben prangerten auf ihren Schädeln, schwarze Auswüchse klafften aus Kiefern und Schultern, die Gesichter waren in grausamer Weise verzerrt. Einer der beiden Männer, die schon mehr Kreaturen waren, hielt vor dem Tor inne und ließ seinen Blick durch die Halle schweifen, wobei seine Augen, welche die dunklen Geschwüre gänzlich verschlungen hatten, für einen kurzen Augenblick an Vanessa hängen blieben.
Ein eisiger Schock durchfuhr ihren ganzen Körper, während sie in die schwarzen Höhlen starrte. Dann wandte sich der Mann ab, schob die Gestalt sanft durch das Tor und verließ die Halle. Sein Kamerad folgte ihm.
Langsam ging Vanessa einen Schritt weiter vor, wobei sie versuchte, die Gestalten am Boden nicht anzusehen.
Der Schock aus der Grotte saß noch so tief in ihren Eingeweiden, dass sie sich keinen weiteren zumuten wollte. Ihr Blick folgte dem felsigen Untergrund zum Tor. Der Weg war frei.
Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, während ihre Augen sich an die finstere, schartige Steindecke heften.
„Ich sehe nichts, und was auch immer in dieser Halle lauert, sieht mich auch nicht“, sagte sie sich immer wieder auf dem Weg zum Podest.
Doch plötzlich sah sie im Augenwinkel etwas Bleiches durch die Dunkelheit huschen.
Während sie noch gegen den Drang ankämpfte, hinzusehen, wurde die Erscheinung auch schon wieder von der Finsternis verschluckt. Dafür drang ein leises Röcheln in Vanessas Ohren, das schwere Ziehen von Luft in Lungen. Sie stockte, verhielt sich ganz ruhig, wagte kaum, zu atmen, und lauschte. Nachdem sie das Röcheln noch zwei weitere Male gehört hatte, war sie sich sicher: Wer auch immer es verursachte, stand direkt hinter ihr. Zeitgleich flutete die Erkenntnis ihren Geist, dass ihr nunmehr nur die Möglichkeiten blieben, loszulaufen oder sich umzudrehen.
„Ich kann nicht laufen“, sagte sie sich, „Lemorgant ist bestimmt schon am Eingang.“
„Du musst“, entgegnete eine andere Stimme, „Scheiß auf Lemorgant!“
„Nein, nicht…noch nicht“, fasste sie schließlich den Entschluss, bevor sie sich umdrehte und in zwei milchig weiße Pupillen starrte, die einfach durch sie hindurchglotzen. Das fürchterliche Augenpaar gehörte einer jungen Frau, die jedoch vollkommen unbekleidet war. Ihre Haut war verdreckt und zu einem Aschgrau ausgeblichen, während ihre Haare jede Farbe verloren hatten, sodass sie nur noch wie geisterhafte Fäden im wirkten. Eine lange, pechschwarze Narbe klaffte über ihrer Brust.
Vanessa starrte die Gestalt an und setzte langsam einen Schritt zurück, ohne dass es eine Reaktion von Seiten ihres Gegenübers gab.
Erneut musterte sie die Frau, bevor sie langsam die Stimme hob:
„Könnt ihr mich sehen?“
Die Gestalt neigte den Kopf, wobei ihr verdrecktes Gesicht jedoch keinerlei Regung zeigte. Offenbar hatte sie Vanessa gehört, unternahm aber nichts.
„Sie kann Euch nicht sehen, sie kann Euch vielleicht spüren, aber nichts gegen Euch unternehmen“, erklang eine kalte Stimme, mit der sich Lemorgant ankündigte, welcher kurz darauf aus der Dunkelheit auftauchte.
Die Frau wandte sich ihm zu und musterte ihn, ohne ihre Position zu verlassen.
„Was meint Ihr damit?“, fragte Vanessa flüsternd.
„Diese Kreatur“, antwortete der Prinz mit einem abwertenden Blick auf die Frau, „wurde ihrer Seele beraubt. Sie lebt noch und kann Eindrücke verarbeiten, ohne jedoch ein Empfinden oder einen Willen zu besitzen. Dies hier ist ein leerer Körper, ein gefangenes Bewusstsein.“
„Wie ist das möglich?“, erkundigte sich Vanessa.
„Wenn ein Mensch durch den Angriff mit einer Seelenklinge direkt getötet wird, verliert er seine eigene Seele, sodass diese kernlose Existenz zurückbleibt.“
„Könnten die Todesanbeter sie gegen uns einsetzen?“
„Das nehme ich nicht an“, entgegnete Lemorgant, „Seelenlose wehren sich nicht und befolgen keine Befehle. Sie vegetieren einfach nur vor sich hin, ein verabscheuungswürdiges Dasein.“
„Dann benutzen die Thanatoiker sie nur, um sich mit ihnen zu vergnügen“, Vanessa spuckte angewidert auf den Boden.
„Ich glaube nicht, dass das der einzige Zweck dieses Unterfanges ist. Allerdings müsstet Ihr als Offizier der Verräter doch irgendetwas über diese ganzen Frauen wissen.“
„Nein, ich…“, begann sie, bevor ihr jäh etwas klar wurde, „Doch…die Thanatoiker machen Jagd auf weibliche Magier. Jeden, den die Verräter fangen, müssen sie bei ihnen abliefern, sie dürfen sie auf keinen Fall töten. Ich…ich habe mich immer gefragt, was mit ihnen passiert…“, sie hielt betreten inne, „Das ist es also.“
„Ich nehme an, das ist von Bedeutung, wenn die Todesanbeter einen derartigen Aufwand betreiben, um all diese Magierinnen mit Seelenklingen zu töten“, murmelte der Prinz, bevor er die Stimme hob, „Wohlan denn, lasst es uns zu Ende bringen!“
Mit diesen Worten zog er seine Armbrust, starrte die Seelenlose für einen flüchtigen Augenblick an und drückte ab. Der Pfeil zerriss Luft und Fleisch, bevor der Kadaver der Frau mit einem dumpfen Knall zu Boden fiel. Während Lemorgant seine Waffe zurück in die Halterung am Gürtel steckte, zeigte sein Gesicht kein Zeichen von Trauer oder Schmerz, stattdessen wirkte er beinahe glücklich.
„Ihr könnt das einfach so tun, ohne etwas dabei zu empfinden?“, fragte Vanessa.
„Was sollte ich auch empfinden? Ich tat das Richtige, beendete das würdelose Dasein dieser Frau und bewahrte ihr Andenken vor einer Schändung durch die Weiterexzistenz ihres entwürdigten Körpers. Ich habe ihre Ehre gerettet.“
„Ihr habt sie getötet“, beharrte sie.
„Ihr werdet das nie verstehen“, zischte er zurück, „Bewegt Euch!“
Mit einem finsteren Blick auf ihren Begleiter, den er nicht wahrnehmen konnte, setzte sie sich in Bewegung, wobei sie derart laut auftrat, dass der Prinz hören konnte, wie sie sich entfernte.
Vorsichtig tastete sie sich durch das Tor aus weißem Marmor, welches im Mondlicht fahl leuchtete und von den Thanatoikern unverschlossen zurückgelassen worden war. Sie erwartet, auch hinter dieser Pforte auf sinistere Kreaturen zu treffen, doch dem war nicht so. Der kurze, in den Fels geschlagene Gang hinter dem Tor mündete schnell in einer unsauber gearbeiteten Steintreppe, die sich mit einigen Biegungen nach oben wand.
Während Vanessa die steilen Stufen erklomm, drangen allmählich Laute in ihre Ohren, die mit jedem Schritt an Lautstärke gewannen, bis sie zu einer wahren Flut der Geräusche geworden waren. Es klang wie die Geräuschkulisse einer gutbesuchten Kneipe, die jedoch von Echos und der schwarzen Verderbnis, welche auch die Stimmen der Schwarzmagier veränderte, grauenhaft verzerrt wurde. Ein abgesetzter Krug hallte etliche Male wieder, das Lachen eines Nekromanten drang wie ein Schmerzensschrei durch den rauen Fels, das Klimpern von Würfeln erfüllte die Höhle wie das Läuten von Totenglocken.
Vanessa tat den letzten Schritt über die Schwelle mit einer unerträglichen Schwere.
Der Korridor vor ihr war sauber verkleidet und mit einem blutroten, etwas ausgefransten Teppich ausgelegt, während aus den angrenzenden Räumen das wohlige Licht von Kaminfeuern strahlte. Im Schein einer Fackel saßen zwei weniger entstellte Schwarzmagier an einem Tisch am Anfang des Ganges, spielten ein Würfelspiel und tranken dabei roten Wein aus Zinnbechern. Als sie eintrat, entleerte einer der beiden gerade die Weinfalsche in seinem Humpen. Langsam starrte er mit einem seinen leicht geschwärzten Augen auf den Boden des Gefäßes, bevor er einen unverständlichen Zischlaut ausstieß. Sein Kumpan begann lauthals, zu lachen, bevor ein bulliger, entstellter Ork mit einer neuen Flasche aus einer Tür weiter hinten im Korridor erschien und sie wenig elegant den beiden Todesanbetern servierte.
„So lässt es sich leben“, kommentierte der Lachende, während die Kreatur wieder davon zog.
Wenig vorsichtig ging der Leutnant an den beiden Thanatoikern vorbei, die beide zu sehr mit sich selbst, ihrem Spiel und ihrem Wein beschäftigt waren, um das leise Federn ihrer Schritte zu hören, welches ohnehin von dem verzerrten Stöhnen übertönt wurde, das aus einer verschlossenen Zelle drang, in der sich, wie sie vermutete, gerade ein Todesanbeter mit einer Seelenlosen vergnügte.
„Hassil!“, blaffte plötzlich einer der beiden Spielenden zur Tür hin, „Was auch immer du da tust, mach es leise!“
Dennoch wurde es mitnichten stiller.
Als sie an den beiden Spielern vorbeigezogen war, hielt Vanessa inne und betrachtete verstohlen den ihr zugewandten Rücken.
„Ich muss sie irgendwie aus dem Weg räumen, damit Lemorgant hier vorbei kann“, dachte sie.
Obwohl Schwarzmagier äußerst mächtig waren, glaubte sie doch, die beiden mit Hilfe ihres Tarnanzugs und des Überraschungsmoments ausschalten zu können. Sie sah sich kurz um, wobei die unzähligen Möglichkeiten, die beiden zu töten, so pfeilschnell in ihren Geist drangen, dass es ihren Mund zu einem mörderischen Lächeln verzog. Sie entschied sich für eine effiziente, schnelle und leise Methode, für die sie einen letzten Schritt auf den Thanatoiker zu trat. Dieses Mal achtete sie penibel darauf, unhörbar zu sein, doch plötzlich hob der Thanatoiker an der anderen Seite des Tisches seinen Kopf.
Seine geschwärzten Augen bleiben an den ihren hängen, seine Kinnlade senkte sich überrascht, sie starrten sich einen Moment lang an. Unfähig zu atmen, gelähmt vom eisigen Blick des Schwarzmagiers, fragte sie sich, ob er sie wirklich sehen konnte.
Dann jedoch senkte er den Blick und würfelte.
Vanessa atmete vorsichtig auf.
Sie musste schnell und präzise sein, würde sie einen der beiden zum Zug kommen lassen, oder zu viel Lärm machen, so würde es, das wusste sie, sowohl für sie selbst als auch den Prinzen tödlich enden. Entschlossen senkte sie ihre Hände, sodass sie auf Kopfhöhe ihres Ziels in der Schwebe blieben, ohne dass das ahnungslose Opfer etwas bemerkte. Im nächsten Moment spürte der Thanatoiker nur noch, wie sich der sanfte Stoff des Tarnanzugs auf seine Ohren legte, dann hatte sie ihn gepackt und drehte seinen Kopf in einem Ruck herum. Das Brechen seines Genicks erklang wie das Fallen der Würfel, die sein Gegenüber gerade auf dem Tisch verteilte.
Der zweite Todesanbeter hatte gerade seinen Wurf gemacht, als sein Kumpan leblos in seinem Stuhl zusammensackte. Erschrocken und verwirrt zugleich, riss er den Mund auf, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, wobei er die Verzerrung, die pfeilschnell auf ihn zu raste, kaum noch wahrnahm. Eine gewaltige Druckwelle, schmetterte gegen seine Kehle, ließ seinen Hilferuf im Keim ersticken, und schickte ihn mit einem letzten Röcheln ins Jenseits. Fast wäre er mit dem Stuhl zu Boden gefallen, doch Vanessa war schnell genug herbeigeeilt, um ihn aufzufangen und somit größeren Lärm zu vermeiden.
Schnell atmend horchte sie auf, doch außer dem verzerrten Stöhnen war nichts zu hören.
„Gut gemacht“, lobte sie sich selbst, bevor sie sich auf den Weg zurück zur Treppe machte, an deren Ende bereits Lemorgant wartete.
„Der Weg ist frei“, flüsterte sie ihm zu und setzte sich gleich wieder in Bewegung.
„Nichts anderes hatte ich erwartet“, ließ er verlauten und erklomm ebenfalls die Stufen. Als sie im Korridor an den beiden Leichen vorbei gingen, beobachtete sie ihn, dessen Blick lange an den Toten haftete. Doch in seinem fahlen Gesicht regte sich kein Muskel, sodass sie sich mehr denn je fragte, ob dieser Mann ein Heiliger oder ein Monster war.
Schnellen Schrittes marschierten sie über die schwarzen, kalten Fliesen des Korridors, der auf einen dunkle, hölzerne Doppeltür zuführte. Ein gespenstisch fahlgrünes Licht kroch unter dem Tor hindurch.
„Ich sollte voraus gehen“, schlug der Leutnant vor.
„Das solltet Ihr nicht“, erwiderte Lemorgant, „denn hinter diesem Tor wird uns erwarten, was wir suchen.“
„Wie Ihr meint“, zischelte sie, „Ich lasse Euch gerne den Vortritt.“
„Es ist mir ein Vergnügen“, versicherte er, wobei er mit großen Schritten auf das Tor zuging, welches er mit einer einzigen, mächtigen Armbewegung aufstieß.
Verborgen folgte ihm Vanessa.
Als die beiden Flügel der Tür auseinander gerissen wurden, strahlte ihr das fahlgrüne Licht mit einer derartigen Intensität entgegen, dass sie die Augenlider zusammenpressen musste. Verschwommen erkannte sie die Umrisse einer riesigen Halle aus schwarzem Stein, welche einen kreisrunden Grundriss besaß und über der ein mächtiges Kuppeldach hing. Der dunkle Boden fiel zur Mitte hin ab, aus der eine mehrere Meter hohe, schwarze Säule von gewaltigem Ausmaß empor wuchs, deren krönender Abschluss eine strahlende Kugel aus jenem gespenstisch grünen Licht war. Um das Podest herum gruppierten sich einige niedrige steinerne Aufbauten, die teilweise alchemistische Apparaturen, grobe Werkzeuge und letztlich auch einige reglose Körper beherbergten. Während ihr Blick zum Sockel der Säule in der Mitte fuhr, nahm sie kaum den Windzug war, der an ihr vorbei zog.
Zu bizarr war das, was es dort unten zu sehen gab.
Vor dem Sockel befand sich ein zum Eingang hin ausgelegter Thron, auf dem eine schattenhafte, reglose Gestalt verharrte, die von zwei weiteren Personen flankiert wurde. Bei einer davon handelte es sich um einen glatzköpfigen, übel entstellten Schwarzmagier, dessen vollkommen von Geschwüren überwucherter Kiefer bereits durch seine fahle Haut gedrungen war.
Die zweite Person schien jedoch kein menschliches Wesen mehr zu sein. Zwar besaß sie die verzerrten Züge eines Mannes, bestand jedoch aus einem fahl weißen Licht, sodass sie nicht viel mehr war als eine verzerrte Erscheinung, der jegliche Details fehlten.
Zuletzt fiel Vanessas Blick auf den Rundgang, der an der Wand der Halle entlang führte, an der einige entartete Orks Wache hielten. Alles deutete darauf hin, dass man sie bereits erwartet hatte.
Dann enthüllten sich vor ihr zwei aschfahle Gesichter, die einfach so in der Luft zu schweben schienen.
„Tarnanzüge!“, rann es durch ihren Geist, „Sie sind uns die ganze Zeit über gefolgt!“
„Seid gegrüßt“, sprach die geisterhafte Gestalt neben dem Thron mit einer Stimme, die so grauenhaft verzerrt war, dass sich Vanessas Eingeweide krümmten.
Der Morgen war kalt und der Himmel glotze aus blinden, milchigen Augen auf Ariona hinab, während sie langsam durch den aschgrauen Sand kroch, aus dem sich kein einziger Grashalm erhob. Jedes Licht war fahl, jede Böe wie ein eisiger Dolchstoß. Wie oft hatte sie versucht aufzustehen? Wie oft war sie von jener unerklärlichen, unbezwingbaren Macht in den Staub zurückgepresst worden?
Ein weiteres Mal stemmte sie sich dagegen, hob mit letzter Anstrengung den Kopf und blickte in die Ferne. Bis zum Horizont erstreckte sich die graue Einöde, umringte sie von allen Seiten und schien niemals enden zu wollen. Doch nur wenige Meter vor ihr erhob sich ein Grabstein aus der Wüste, an dem eine dunkle Gestalt saß und mit einem Meißel einen Namen hineinritzte.
Eine überirdische Anziehungskraft ging von dem Stein aus, ein Sog, ein tiefes Verlangen, eine Sucht.
„Du musst es schaffen!“, sagte sie sich, bevor eine kalte, verzerrte Stimme in ihrem Kopf erschallte, die definitiv nicht ihre eigene war:
„Warum all der Aufwand, nur um dein eigenes Grab zu erreichen?“
Die unerklärliche Last auf ihren Schultern nahm plötzlich enorm zu, schmetterte sie in den Staub und presste die Luft aus ihren Lungen. Ihre Rippen knacksten, doch sie bohrte ihre kleinen Finger in den grauen Sand, um sich weiter zu ziehen.
„Zäher, als ich erwartet hatte“, zischte die Stimme, „Letztlich werden dein Leid und deine Mühen nur meinen Triumph versüßen. Sieh all die Opfer und stelle dir selbst die Frage: Waren sie es wert?“
Als seine Worte endeten, wurde sie mit dem Gesicht in den Boden geschlagen, dass sie nur noch Schwärze sah, bis die Last, die auf ihr lag, sich langsam milderte, wodurch sie sich wieder ein Stück erheben konnte. Einige Meter vor ihr befand sich immer noch der Mann mit dem Grabstein, der jedoch nun nicht mehr von einer grauen Einöde, sondern von Bergen aus übel zugerichteten Leichen umgeben wurde. Übelkeit flutete ihren Rachen, sie wandte den Blick gen Boden, krabbelte weiter, bis sie die erste Leiche erreichte.
Sie konnte nicht anders, als in ihr Gesicht zu blicken, und Ferren starrte aus toten Augen zurück. Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie zwang sich, wegzusehen, doch wo sie auch hinblickte, prangerten die hohlen, verwesenden Fratzen von Freunden und Bekannten.
„Sie trifft keine Schuld. Sie alle starben deinetwegen!“, blaffte die Stimme.
„Nein!“, kreischte sie, bevor sie die unerklärliche Macht erneut in den Boden schmetterte und sie in der Schwärze versank.
Die Novizin erwachte. Schweiß perlte auf ihrer Stirn und Tränen trieften aus ihren Augen, während sie zum schwarzen, wolkenverhangenen Himmel hinaufblickte und sich fragte, ob dies einfach nur ein Alptraum gewesen war. Sekunden später drehte sie sich zur Seite und erkannte Ferren, der selig schnarchend in seinem Lager ein Stück neben ihr ruhte.
„Wodurch unterscheidet sich eine Vision von einem Traum?“, fragte sie sich.
„Das war nur ein Traum, nur ein Traum“, sagte ein Teil von ihr, der erschöpft von den Strapazen der letzten Tage nach Schlaf verlangte.
Doch die Angst hielt sie wach, die Angst, alles noch einmal zu durchleben, zurückzukehren in diesen Alptraum, der, wie sie sich alsbald eingestand, keiner war.
„Es war eine Vision, muss eine Vision sein“, dachte sie, „Alles ist zu…zu real für einen Traum. Es war als wäre ich wirklich dort gewesen…dort…“
Diese eine Überlegung war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Dämme, mit denen sie sich vor all dem geschützt hatte, was ihr widerfahren war, brechen ließ. All die unbeantworteten Fragen strömten über sie hinweg wie eine Sturmflut und verlangten begierig nach einer Antwort, die sie nicht geben konnte. Es drängte sich ihr der Zwang auf, nach Hilfe zu suchen, dass sie keine andere Wahl hatte, denn es blieb ihr nur eine Möglichkeit.
Sie musste Truzos fragen.
„Wenn ich ihn jetzt wecke, lacht er mich nicht nur aus, sondern bringt mich auch noch um“, murmelte sie nach einem erneuten Blick zum schwarzen Himmel und musste missmutig feststellen, dass sie nicht anders konnte, als bis zum nächsten Morgen zu warten. Doch schlafen wollte sie nicht, denn die Angst hielt sie wach und führte sie wie eine Marionette hinaus aus ihrem Lager in den Wald.
„Irgendwas muss ich ja tun“, sagte sie sich distanziert von jeder Vernunft, während sie zwischen die Reihen der Bäume trat, ohne zu bemerken, dass ihr Lager nicht das einzige war, das diese Nacht leer blieb.