Fantasy & Horror
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 7; Teil 2/4) - Der Fall Fiondrals

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"Die Gebrochene Welt I (Kapitel 7; Teil 2/4) - Der Fall Fiondrals"
Veröffentlicht am 05. September 2012, 30 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 7; Teil 2/4) - Der Fall Fiondrals

Die Gebrochene Welt I (Kapitel 7; Teil 2/4) - Der Fall Fiondrals

Beschreibung

Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de

Kapitel 7: Verderbnis (Teil II)

Ferren stand in Mitten der Dunkelheit, die alles in ihrem eisigen Griff hielt, sodass zu beiden Seiten des Weges nichts als Schwärze lag, und doch wusste er, dass die gezackte Felswand zu seiner Linken hunderte Meter in die Tiefe führte.
Er konnte gerade noch Olafs Fersen erkennen, die sich unbeirrt einen Weg durch die Finsternis bahnten.
„Kann er eigentlich irgendwas sehen? Oder läuft er einfach nur drauf los?“, fragte sich der Leutnant, während er Ilars Atem bereits im Nacken spürte.
Der hinter ihm gehende Magier hatte anscheinend ein noch schlechteres Auge für diese schattenhafte Welt, da er ihm bereits des Öfteren in die Hacken getreten hatte.
„Gottverschissene Dunkelheit!“, fluchte er, „Ich habe mir den Zeh an…“
„Klappe, Ilar!“, flüsterte Ferren, der sich bereits seit ihrem Abmarsch wünschte, es könnte einfach nur totenstill sein.
Stattdessen ertönte dauernd irgendetwas. Ihre gedämpften Schritte auf dem nadelbedeckten Pfad, ein hörbarer Atemzug, das Zirpen irgendeines Insekts, der Ruf eines verborgenen Nachtvogels, das Fallen kleiner Felssplitter, Knacken, Klackern, Knistern überall.
Es war ihm, als folgte ihnen ein Schatten auf Schritt und Tritt.
Er blickte in die Finsternis und die zerklüfteten Felsen starrten aus leeren, schattenüberlagerten Augenhöhlen zurück.
„Welcher Bastard sollte mich schon hören?“, protestierte der Magier nun mit leiser Stimme, „Die verdammten, schweineköpfigen Orks sind doch sicher noch Meilen entfernt.“
„Vielleicht haben sie Wachposten abgestellt“, wandte Janus ein.
„Diese Idioten? Nie!“, entgegnete Ilar, worauf Ferren sie wieder zur Ruhe aufrief.
Stille. Zumindest für einen Moment, denn innerhalb einer Sekunde heulte ein Uhu, und nachdem sein Ruf verklungen war, stimmten einige Grillen eine Sinfonie des Zirpens an.
Vor Ferren erschien plötzlich eine schwarze Wand, die er viel zu spät wahrnahm, um ihr ausweichen zu können.
Er knallte genau in sie hinein.
Zwei Schmerzensschreie ertönten, Ilar stieß in seinen Rücken, fluchte.
Mittlerweile glaubte der Leutnant, dass er einfach nur gegen seinen Kameraden Olaf gelaufen war, der unvermittelt gestoppt hatte.
„Was sollte das?“, keuchte er immer noch gedämpft, während er sich gegen die harte Felswand zu seiner Rechten stützte und krampfhaft versuchte, nicht daran zu denken, dass er auch in den Abgrund auf der linken Seite hätte stürzen können.
„Ich habe etwas gehört“, antwortete Olaf.
„Wenn du diesen beschissenen Drecksvogel meinst, den hat hier jeder gehört“, maulte Ilar.
„Klappe!“, herrschte Ferren ihn an, bevor er sich an Olaf wandte, „Was habt Ihr gehört?“
„Stimmen, ein Stück vor uns. Oben auf dem Fels, bei der Straße.“
„Die Orks?“, erkundigte sich Janus.
„Die Scheißviecher sind doch niemals hier!“
„Olaf, bringt uns wieder auf die Straße!“, verlangte der Leutnant.
„Das ist schwer. Hier ist nur Fels“, entgegnete dieser.
„Ihr seid ein verdammter Fährtenleser!“
„Es ist dunkel“, entschuldigte sich Olaf.
„Was du nicht sagst“, höhnte der Magier.
„Bring uns einfach da rauf!“, wiederholte Ferren.
„Ich versuch’s“, war die Antwort.
Anschließend tappte der Späher weiter mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Dunkelheit, wobei Ferren sich an seine Fersen heftete.
Während sie jenem schmalen, kaum sichtbaren Pfad folgten, der ein Stück unterhalb der eigentlichen Straße an der Felswand verlief, wurden die Stimmen lauter, sodass auch die anderen sie hören konnten. Es waren gutturale Laute, die zunächst nur wie ein Flüstern durch die Wände der Bäume und Felsen drangen, dann aber stets deutlicher wurden.
„Orks“, dachte Ferren, bevor Olaf erneut abrupt einhielt.
Er deutete in die Finsternis zu seiner Rechten.
„Dort können wir hoch“, erklärte er und nur einen Augenblick später war seine schattenhafte Silhouette gänzlich verschwunden.
Langsam tastete sich Ferren am Fels entlang, ließ seine Hand über die zerfressene Oberfläche gleiten und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, bis dort plötzlich kein Fels mehr war.
Vorsichtig wandte er sich nach rechts, wo sich eine Art Breche in der Felswand befand, die steil nach oben führte.
Nachdem er behutsam einen Schritt hineingesetzt hatte, stellte er fest, dass es sich um eine Treppe handelte, die man einfach in den Stein geschlagen hatte. Einige Stufen über ihm, glaubte er, Olaf erkennen zu können.
„Vorsichtig sein!“, warnte der Späher, „Die Stufen sind sehr klein und steil.“
Ferren hatte selbiges bereits befürchtet.
Mit den Händen an die Außenwände der Breche gestützt folgte er langsam dem Verlauf der Stiege, wobei jeder Meter ein Schritt ins Ungewisse war.
„Welcher verdammte Vollidiot hat diese…“, fluchte Ilar, bevor er erneut zum Schweigen aufgerufen wurde.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie die kurze Treppe hinter sich gelassen hatten und sich in einer Ansammlung von Pinien wiederfanden, die am Rande der Straße wuchsen.
Nicht mehr eingekesselt von den Felswänden der Schlucht erbarmte sich die Nacht einer kleinen Aufhellung.
„Man kann die Hand wieder vor Augen sehen“, lobte Ilar, während sie langsam durch die lichten Reihen der Bäume schlichen.
Dabei folgten ihre Blicke dem Lauf der Straße, die sich im fahlen Licht des Halbmondes wie eine glänzend, graue Schlange um die Felsspitzen zog. Ein einziger, entfernter heller Punkt verlieh dem Reptil sein Auge, ein Lagerfeuer in der finsteren Nacht.
Es stach so heftig aus der Dunkelheit hervor, dass man gar nicht weggucken konnte, es zwang die Blicke auf sich und warf sein warmes Licht auf ein kleines Lager, in dessen Mitte es sich befand. Dieses bestand lediglich aus zwei Zelten, dem Feuer selbst und einigen dunklen Objekten, die wie nasse Säcke auf dem Boden herumlagen, und bei denen es sich, wie die vier Gefährten bald feststellten, um schlafende Orks handelte.
Am Lagerfeuer standen noch einige Gestalten, manche bullig, andere mit menschlichen Zügen, und das Flüstern, das sie in der Schlucht gehört hatten, war nun zu einem lauten Grölen und Schreien geworden.
„Da sind sie“, sagte Ferren, wobei er heftig aufatmete, „Könnt ihr erkennen, ob sie Gefangene haben?“
Janus blinzelte und blickte in die Ferne, bevor er seufzte:
„Bei der Entfernung und den Lichtverhältnissen…unmöglich. Wir könnten noch ein Stück weiter vorrücken, ohne dass sie uns entdecken.“
„Ich gehe ganz bestimmt nicht noch näher an diese stinkenden Schläger heran. Ich bin ihnen gerade erst entkommen, verdammt, und ihr wollt, dass ich ihnen hinterher laufe?“, keuchte Ilar.
„Ihr habt es erfasst, Magier“, lachte der Mönch, während sich Ferren an Olaf wandte:
„Könnt Ihr uns noch näher heranbringen?“
„Ja“, bestätigte dieser.
„Dann geht voran.“
„Wir gehen. An der Felswand. Auf der anderen Straßenseite“, erklärte der Hüne, bevor er über die Straße huschte.
Die anderen folgten ihm, sodass sie sich langsam dem Lager näherten. Ferren jedoch zweifelte daran, dass dies tatsächlich jene Orks waren, die sie einen Tag zuvor überfallen hatten.
„Sind sie wirklich so langsam marschiert?“, fragte er sich, „Das können sie niemals sein! Nein, sie sind es nicht, sie…“
„Da steht ein Wagen mit einem Käfig drauf“, bemerkte Olaf, wobei er vorsichtig in die hintere Ecke des Lagers deutete, wo tatsächlich ein Karren mit einem hölzernen Käfig stand, gerade so groß, dass ein paar erwachsene Menschen hinein passten.
Da sie näher gekommen waren, konnte man nun auch die Gestalten am Feuer erkennen, bei denen es sich um drei Orks und vier Menschen handelte. Den Orks stand ein besonders großes und hässliches Exemplar vor, das mit zweien der Männer diskutierte, wohingegen die übrigen nur wortlos daneben standen.
Während es sich bei einem der beiden Männer um Tymaleaux handelte, was den vier Beobachtern jedoch entging, war der andere ein hochgewachsener Kerl, der einen nachtschwarzen Mantel trug, welchen das Sanduhrsymbol zierte. Offensichtlich ein Offizier der Todesanbeter.
„Ich wollen nur meinen Lohn“, forderte der Orks, „Haben Leben riskiert, meins und meine Männer.“
„Ihr bekommt gar nichts, Ork!“, blaffte der Offizier, „Unsere Richtlinien sind klar. Die Magierin wird den Nekromanten überstellt und zwar lebend.“
„Ich sie nicht töten. Wollen nur meinen Spaß.“
„Widerliche Bestie!“, harschte der Thanatoiker ihn an.
„Nun, sie sieht schon recht gut aus…“, wandte Tymaleaux ein.
„Was für den Ork gilt, gilt auch für Euch, Schwein! Die Novizin wird nicht angerührt! Unsere Meister wollen sie unversehrt.“
„Unversehrt oder jungfräulich?“, hakte der Ledrianer mit einem schmierigen Grinsen nach.
„Schweigt! Das Gespräch ist beendet!“, zischte sein Gegenüber und wandte sich ab.
Darauf jedoch hob der Ork wieder seine gutturale Stimme:
„Ihr mich nicht abhalten. Ich bekommen sie, oder ich töten euch und nehmen sie“, langsam zog er sein rostiges Falchion.
Während Tymaleaux einen Schritt zur Seite machte, drehte sich der Todesanbeter wieder um.
„Das wollt Ihr nicht wirklich, Kreatur!“
Der Ork setzte unbeeindruckt einen Schritt nach vorne, dann riss er mit einem diabolischen Grinsen auf seiner entstellten Fratze das Falchion in die Höhe, bereit einen tödlichen Abwärtshieb auszuführen.
„Er darf ihn nicht töten. Er darf nicht gewinnen. Wenn die Thanatoiker tot sind dann…ich muss etwas unternehmen, ich…“, raste es durch Ferrens Kopf.
Doch der Ork sollte nicht mehr zu seinem Angriff kommen, denn sein Gegenüber beschwor in einer lässig peitschenden Bewegung eine zischende Flamme, die nicht feurig rot, sondern fahl, gespenstisch grün war.
In einer einzigen durchgehende Bewegung fuhr der Flammenschweif durch die Brust der Bestie, während der grüne Schein plötzlich aus ihrem Mund, den Augen und Nasenlöchern strahlte, als würde sie innerlich verbrennen, und genauso klang auch ihr Schmerzensschrei.
Binnen Sekunden erhoben sich die schlafenden Orks vom Boden, sahen grunzend umher, starrten eine Weile auf ihren Anführer, der mittlerweile rauchend zu Boden gesunken war, ballten die Fäuste.
„Vergesst nie“, begann der Thanatoiker, „warum ihr hier seid! Vergesst nie, warum ihr uns dient!“
„Er Recht haben. Nicht kämpfen gegen Feuer“, rief einer der Orks.
„Made! Töten alle!“, brüllte ein anderer.
Darauf wurden noch mehr Waffen gezogen, Worte verklangen und es ertönte der Gesang von Stahl untermalt mit den Schmerzensschreien derer, die von der Schwarzen Magie zugrunde gerichtet wurden. Das Schauspiel war grauenhaft anzusehen und ergab für die vier Beobachter keinerlei Sinn, denn der Kampf schien sich zu einem Gemetzel unter den Orks zu wandeln, aus dem sich die Todesanbeter und Tymaleaux immer weiter zurückzogen.
Für Ferren sah es so aus, als würde jeder gegen jeden kämpfen, eine brutale Schläger- und Stecherei, die nur durch Blut beendet werden konnte. Er beobachtete, wie einige Orks zu Boden geworfen wurden, um anschließend von ihren eigenen Kumpanen mit Kolben zu Brei geschlagen zu werden.
Sie traten, stachen und schlugen so lange, bis ihre Gegner tot waren, oder gar noch länger.
Dann endete der Kampf ebenso plötzlich wie er begonnen hatte, die Sieger zogen sich zurück und legten sich schlafen, während ihre toten Kameraden aus leeren Augen in den schwarzen Himmel hinaufstarrten.
„Was beim verdammten, fauligen Atem des Erlösers war das?“, keuchte Ilar.
„Ich habe keine Ahnung“, gestand Ferren gleichermaßen geschockt.
„Das“, erklärte Janus, „ist das orkische Rechtssystem. Diese Kreaturen kennen kein Gericht. Wenn es also eine Meinungsverschiedenheit gibt, wird sie so geklärt. Ich schätze, gerade haben jene, die gegen die Thanatoiker waren, gegen deren Sympathisanten verloren.“
„Aber das ist doch viel zu brutal für eine Entscheidung“, klagte Olaf.
„Ich denke, diese dreckigen Mistviecher machen das eher zum Spaß“, Ilar spuckte auf den Boden.
„Umso besser für uns“, merkte Ferren an, „Jetzt stehen weniger Feinde zwischen uns und unseren Kameraden.“
„Das sind immer noch zu viele“, wandte der Mönch ein, „Zumal sie mindestens einen Schwarzmagier dabei haben.“
„Mit diesem Bastard werde ich schon fertig“, blaffte ihr Magier.
„Mit Schwarzmagie legt man sich besser nicht an, wenn es sich vermeiden lässt“, dementierte Janus, worauf Olaf nickend zustimmte.
„Was schlagt Ihr also vor, Bruder?“, erkundigte sich der Leutnant.
„Ich würde meinen, wir folgen ihnen weiter. Irgendwo müssen sie die Gefangenen ja schließlich hinbringen.“
„Ja, wahrscheinlich an einen Ort, der wesentlich besser befestigt ist, als dieses Lager“, entgegnete Ilar, „Ich sage: Wir schlagen jetzt zu!“
„Nein…wir folgen ihnen“, sagte Ferren matt, „Der Feind ist da am schwächsten, wo er sich am sichersten fühlt.“
„Das würde ich meinen“, stimmte der Mönch zu, worauf sie beschlossen, zu ruhen, bis die Orks weiterzogen, was bereits früh am nächsten Morgen der Fall war.

Raham saß mit gesenktem Kopf im Büro des Wachhauptmanns von Delion, bekleidet mit einem reich dekorierten Wappenrock, der ihm zu weit war, in einem Stuhl, der für seine schmalen Schultern zu breit war, am Ende eines korridorähnlichen Raumes, den er mit seinen matten Augen kaum ganz erfassen konnte.
Während seine Rechte von Krämpfen geplagt wurde, die dem Schreiben etlicher Berichte entsprungen waren, sehnten sich seine Füße nach einem der altgedienten Patrouillengänge durch das Viertel. Doch stattdessen zwang ihn die Pflicht in diesem dämmrigen Raum zu verharren, Berichte durchzusehen und Schlüsse zu ziehen, sofern es möglich war.
„Immerhin“, dachte er sich, „war es Hochgeneral Montierre selbst, der mich damit betraut hat.“
Und die Worte des Herzogs hallten in seinem Schädel wider:
„Hauptmann Raham, es ist von äußerster Wichtigkeit, dass auch die letzten Reste des Verräterrings und des Dunklen Kults in Galor aufgedeckt werden. Von äußerster Wichtigkeit.“
War er zunächst noch energisch an die Arbeit gegangen, hatte er sich alsbald in einer Sackgasse wiederfinden müssen. Die meisten Mitverschwörer waren tot und Blaek sowie Ysil hatte man noch vor einem ausführlichen Verhör hingerichtet.
Raham glaubte allerdings nicht, dass sie sich allzu kooperativ gezeigt hätten, und ertappte sich des Öfteren dabei, mit dem Kurs der Ledrianer zu sympathisieren.
„Für das, was sie Ferren und Ariona angetan haben, ist der Tod eine gerechte Strafe. Weitergebracht hat mich das allerdings nicht…“
Zwar wusste er mittlerweile, dass Ilar sich unter den Männern des Himmelfahrtkommandos befand, war aber durch Befragung derer, die sich seine Freunde schimpften, zu dem Schluss gekommen, dass der Angriff auf ihn in Bezug auf Ilars sonstiges Verhalten als eine vollkommen normale Reaktion zu bezeichnen war.
Die einzige Spur, die sich wie ein pechschwarzer Faden durch alle Aktivitäten der Verräter zog, war Kelrayass, der ebenso bewunderte wie gefürchtete Anführer des Thanatoikerrings. Doch Kelrayass war eben nur ein Name, ein Phantom, eine sinistere Krankheit, die man zwar spüren, aber nicht benennen konnte.
Wen auch immer man fragte, niemand kannte ihn, und trotzdem hatte man das Gefühl, der eiskalte Blick dieses Mannes läge auf allem.
„Er ist hier“, dachte Raham noch, bevor ein lautes Klopfen an der massiven Holztür seines Büros erschallte. Einen Moment lang starrte er wie benommen auf das Schloss, wobei seine Finger über den Griff seines Schwertes glitten.
„Hier ist Leutnant Vigard“, schallte es durch das Holz, „Ich muss mit Euch sprechen.“
Hastig blickte Raham zu seinem Schreibtisch hinab, schüttelte kurz den Kopf und hob die Stimme:
„Tretet ein, die Tür ist offen!“
Als der ledrianische Leutnant eintrat, war das leise Rascheln seiner silbernen Kettenrüstung zu vernehmen, die er unter seinem Wappenrock trug. Seinen Offiziershelm mit dem gewaltigen königsblauen Federbusch hatte er sich unter den Arm geklemmt.
„Setzt Euch doch“, sagte Raham freundlich, wobei er über die Gipfel der Aktenstapel hinweg auf einen der niedrigen Lehnstühle vor seinem Schreibtisch deutete. Der Leutnant trat heran, stellte seinen Helm vor sich auf dem Schreibtisch ab, wo sich zwischen zwei Patrouillenbüchern ein freier Platz fand, und setzte sich.
„Was gibt es denn?“, erkundigte sich der Hauptmann.
„Nun“, räusperte sich Vigard, bevor er damit begann, von einer Entdeckung zu berichten, die eine Schwester des Iurionischen Ordens bei der Totensalbung jener Soldaten gemacht hatte, die am Hafen gefallen waren.
„Ihr fiel auf“, erklärte der Leutnant, „dass die meisten von ihnen durch Schüsse in die Brust getötet wurden.“ 
Der Hauptmann blickte ihn durchdringend an und schürzte die Lippen.
„Ist das ungewöhnlich?“, wollte er wissen.
„Nur bedingt“, entgegnete Vigard, „Einen ledrianischen Elitesoldaten frontal zu attackieren, ist eine eher heikle Angelegenheit. Es kann vorkommen, dass die Soldaten dagegen nichts unternehmen können…aber bei so vielen, die zumal auf einen Angriff aus dem Hinterhalt gefasst waren. Was ich sagen will ist: Wir gehen davon aus, dass sie den oder die Täter gekannt haben.“
„Ihr meint also, die Verräter stammen aus Euren eigenen Reihen?“, Raham sprach langsam und gedämpft.
„Nein, ich halte die meisten Ledrianer für durchweg loyal…aber da gibt es noch eine Sache. Jeder Soldat, den die Brustschüsse nicht erledigt hatten, wurde nachher mit einem Schuss in die Stirn erledigt. Aber Major Tymaleaux, der einzige, der nicht einmal eine Rüstung trug, kommt mit zwei Treffern in die Schulter davon…das passt nicht.“
„Das heißt, dieser Tyma…Tymaleaux könnte zu den Verrätern gehören?“
„Das kann ich natürlich auch nur vermuten. Sagen wir, unter den ledrianischen Offizieren genießt er einen, nun ja“, Vigard räusperte sich, „zweifelhaften Ruf.“
Tatsächlich war Major Tymaleaux, als er während der Eroberung Skatrias noch unter Lemorgant gedient hatte, ein angesehener Offizier der Krone gewesen.
Nach dem Fall Skatrias und der Auflösung beziehungsweise Zerschlagung von Lemorgants Streitkräften, war seine Karriere jedoch steil bergab gegangen, sodass man am ledrianischen Hofe schließlich gespottet hatte, sein Leben habe sich zu einer einzigen Kneipentour gewandelt.
Schließlich war er unehrenhaft entlassen worden, nachdem er im Vollrausch einen serpendrianischen Hochadligen beleidigt hatte.
Kurz nach der Entdeckung Fiondrals war er aus unbekannten Gründen rehabilitiert worden, um anschließend im Korps eines gewissen Marquis Lucian de Nord zu dienen. Seine Vergangenheit war ihm dorthin allerdings ebenso gefolgt wie seine Alkoholsucht und die stetige Schnapsfahne.
Die beiden Offiziere einigten sich im Folgenden darauf, der Spur weiter nachzugehen, auch wenn sie sich nicht viel davon erhofften, da sich der einzige Verdächtige, den sie hatten, nicht mehr in Galor befand. Allerdings gingen sie beide davon aus, dass Tymaleaux nicht alleine für das Massaker am Hafen und die Versenkung der Schiffe verantwortlich war.

Da der Weg nach Narbenfels lang war und sie unerkannt reisen mussten, sahen sich Vanessa Firani sowie Prinz Lemorgant am Abend dieses Tages dazu gezwungen, unter freiem Himmel auf einer Bergwiese am Rande eines Tannenwäldchens zu rasten.
Ihre Pferde  ließen sie frei auf der Weide grasen, denn der lange Holzzaun, der am Rande der Wiese verlief und als einziges überhaupt darauf hindeutete, dass dort irgendwann einmal Menschen gelebt hatten, war vollkommen morsch, weshalb man an ihm nicht einmal mehr eine Katze hätte anbinden können.
Vanessas braune Stute grase auf der Weide, Lemorgants Schimmel blickte zu den Gipfeln hinauf, der Leutnant schärfte seine Klinge, der Prinz notierte etwas in seinem Logbuch. Seine Feder fuhr noch unbeirrt über die Seiten, als das Knirschen des Wetzsteins plötzlich verklang und Vanessa langsam ihren Kopf hob:
„Wie ist es eigentlich in Galor?“, erkundigte sie sich.
Der Prinz wandte sich ihr bedenklich zu, wobei er fast überrascht wirkte, hatten sie doch auf ihrer bisherigen Reise kaum drei Worte gewechselt.
„Bitte was?“
„Ich wollte wissen, wie es in Galor ist“, wiederholte sie, während sie ihre Klinge zurück in die Schwertscheide schob, „Ich meine, es ist die letzte freie Stadt auf Fiondral.“
Lemorgant betrachtete sie geradezu gelangweilt aus seinen Augenschlitzen heraus.
„Ich muss gestehen, dass sich mir der Sinn Eurer Frage entzieht“, entgegnete er schließlich, „da Galor doch nur eine einfache Stadt ist, aus Stein und Holz.“
„Stellt Euch nicht dumm!“, maulte Vanessa, „Gibt es dort noch Hoffnung? Oder nur noch Verzweiflung? Was denken, was fühlen die Menschen dort?“
„Ich hoffe, Ihr erwartet nicht, dass ich darüber mit einem Offizier unserer Feinde spreche“, höhnte er.
„Wollt Ihr den Abend wieder schweigend verbringen?“
„Selbst nachdem ich einige Jahre mit einer falschen Identität lebte, verspüre ich wahrlich nicht den dringlichen Zwang, mit Euch ein Gespräch zu führen“, erklärte der Prinz.
„Ihr Iurionisten seid alle gleich“, spottete Vanessa, „Allesamt arrogant und in den meisten Fällen auch noch rassistisch.“
Lemorgant lächelte, während er sich, auf einer Bastmatte sitzend, an einen Baumstumpf lehnte.
„Ich nehme an, Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie oft mir dieser weitverbreitete Irrtum schon untergekommen ist“, seufzte er mit gespielter Theatralik.
„Irrtum?“, ächzte der Leutnant, „Betrachtet Euch doch selbst! Ihr seid das beste Beispiel dafür, dass es kein Irrtum ist. Ich meine, was unterscheidet Euch von uns? War Euer Feldzug in Skatria besser als der Krieg, den wir führen?“
„Ihr erdreistet Euch dieser Frage?“, zischte der Prinz, wobei ein stechendes Funkeln in seinen Augen blitzte, „Unser Feldzug war heilig. Wir hatten ein Ziel, welches so weit über Eure erbärmliche Gier hinausgeht, dass Ihr es Euch nicht einmal vorstellen könnt! Skatria war ein Barbarenstaat, eine entartete Anarchie, in der sich die Mächtigen alles nahmen, was sie wollten, ohne dabei jegliche Skrupel zu zeigen.“
„Ah“, Vanessa räusperte sich bedeutungsschwer, bevor sie mit einer spöttisch gehobenen Augenbrauen fortfuhr „der Zweck heiligt also alle Mittel, was?“
„Das tut er absolut nicht“, dementierte Lemorgant unter einer wegwischenden Armbewegung, „Wir haben trotz unseres erhabenen Ziels kein Leid verursacht.“
„Was?“, ihre Augen weiteten sich und ein verständnisloses Lachen sprudelte durch ihre breiten Lippen, „Ihr habt Krieg geführt und tausende Menschen ermordet.“
„Exekutiert“, berichtigte Lemorgant beiläufig, während er mit der Hand ein paar Krümel von seinen Armschienen entfernte, „die würdevolle Hinrichtung einer Person verursacht kein direktes Leid. Wir überstellen den Verurteilten nur einem höheren Gericht. Was jene Schergen, die sich Soldaten der skatrischen Clans schimpften, angeht, so haben diese sich für den Krieg gemeldet und wussten um ihr Schicksal. Wir begegneten ihnen weder mit Gnade noch mit Grausamkeit.“
„Euer Glaube ist seltsam“, warf sie ihm entgegen.
„Offensichtlich wissen die meisten Menschen nicht allzu viel über ihn, was wohl auch der Grund für all die Narreteien ist, die ich mir fortlaufend gefallen lassen muss.“
„Vielleicht würde man mehr verstehen, wenn man das Wort dieser Religion wenigstens in ihren Tempeln predigen würde“, Vanessas Stimme triefte erneut vor Hohn, während sie sprach.
Zwar gab neben den monumentalen Statuen auch prunkvolle Tempel, Klöster und Kapellen Iurions, doch wer in ihnen einen Prediger oder Priester des Gerechtigkeitsgottes suchte, der begab sich auf eine vergebliche Reise. Iurionisten kamen nur zum Beten oder der Geselligkeit wegen an ihre heiligen Orte, die jedoch nur jenen zugänglich waren, welche zuvor ein Aufnahmejahr in einem Kloster verbracht hatten.
„Nun, es verhält sich so, dass unser Glaube keine Priester braucht“, erwiderte der gefallene Prinz, „ebenso wenig, wie er eine Predigt oder ein Buch benötigt, denn das Wort Iurions ist bereits in unseren Geist gebrannt, und wer es erst vernommen hat, den empfangen wir mit offenen Armen.“
Sie zischelte etwas, als Lemorgant geendet hatte, bevor sie erneut die Stimme hob:
„Merkwürdiger Kram…ich glaube, ich werde es nie verstehen.“
„Solltet Ihr mir Intoleranz vorgeworfen haben? Ihr scheint ebenso nicht den Willen zu besitzen, Euch mit meiner Meinung auseinanderzusetzten. Warum sollte Ich also gewillt sein, Euren Standpunkt, den der Verräter, für gerechtfertigt zu halten?“, sprach er leise, „Wobei ich natürlich anmerken muss, dass es keinen Weg gibt, Eure Taten zu rechtfertigen, unabhängig davon, wie lange man darüber nachdenkt.“
„Schön, dass Ihr mir immer wieder vorzuhalten versucht, wie falsch mein Handeln angeblich sein soll.“
„Womit ich augenscheinlich an verschlossene Türen klopfe“, diesmal war es sein Gesicht, das sich zu einem hämischen Lächeln verzog, „Möglicherweise solltet Ihr Euch fragen, warum Ihr Euch den Verrätern angeschlossen habt. Ich nehme an, Ihr werdet, sofern Ihr ehrlich zu Euch selbst seid, erkennen, dass Eure Ziele nur Euch selbst betreffen und somit verwerflich sind.“
„Wisst Ihr…“, begann sie, während sie wieder den Wetzstein ansetzte, „ich verbringe den Abend lieber schweigend.“
„Es ist mir ein Vergnügen“, gab Lemorgant geradezu höflich zurück, worauf er sich zurücklehnte und wieder damit begann, in seinem Logbuch zu blättern.

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