"Meinst du, deine anderen Freunde werden mich mögen?" fragte Abby ihn nervös, als sie gemeinsam Beckys Spielzeug, das im ganzen Haus verteilt war, zusammensuchten. "Sicher", sagte er leise. "Die Frage ist nur, ob du alle von ihnen mögen wirst." Mir hat die alte Version nicht gefallen, und wie soll ich das gleiche dann von anderen erwarten? Ich hoffe es ist nicht zu lang geworden.
Grübelnd saß Finn am Küchentisch über seinen Hausaufgaben, während Abby am Waschbecken stand und das Geschirr vom Abendbrot abwusch. Becky hatte ihre Buntstifte geholt und malte leise ein Bild. Diese friedliche Stille gefiel ihm außerordentlich gut. Seit Abby vor drei Tagen eingezogen war, gab es diese Stille öfter, wenn gerade kein fröhliches Gelächter durch das kleine Haus der Rabolds hallte. Finn fühlte sich sehr viel wohler, als hätte man ihm eine schwere Last von seinen Schultern genommen, und dem war ja auch so. Mit viel Enthusiasmus und Geduld erledigte der Engel den Haushalt, brachte Becky in den Kindergarten und holte sie auch wieder ab, spielte mit ihr und übernahm auch sonst alles, für das Finn sonst immer Zeit aufwenden musste, die er nicht hatte. Sie beschwerte sich nicht über ihr eher unbequemes Lager in der Waschküche, hatte nie keine Lust oder keine Zeit. Ob wohl alle Engel so waren? Oder lag die Hilfsbereitschaft einfach in Abbys Natur? Mit gerunzelter Stirn blickte er auf seine Biologieaufgaben und stellte seufzend fest, dass er in den vergangen Monaten im Unterricht viel zu wenig aufgepasst hatte. Das dunkelhaarige Mädchen setzte sich neben ihn und sah ihn mitfühlend an. „Welches Fach ist es denn?“ „Bio.“ Abby machte ein ratloses Gesicht. Sie hatte auch gestern schon versucht, ihm in Geschichte zu helfen. Sie hatte sein Geschichtsbuch in der Hand gehabt und beim Lesen immer wieder ausgerufen: „So ist das aber nicht gewesen!“ Dann hatte sie ihm spannende Geschichten erzählt, und obwohl er mehr gelacht als gelernt hatte war alles ein bisschen klarer geworden. „Finn?“ fragte sie vorsichtig. „Hm?“ „Becky hat gefragt, ob wir mal zusammen einkaufen können.“ Er seufzte. Der Weg bis zum Kindergarten war kurz und einsam, sie ging ihn nur mit ihrem Kleid und einem seiner Mäntel bekleidet. Für einen Supermarkt reichte das auf gar keinen Fall. Becky hatte natürlich mitgehört und ihre Augen begannen zu leuchten. „Ja, ja! Dann kann ich Abby zeigen, wo alles steht und was wir immer kaufen!“ rief sie stolz, und Finn musste lächeln. „Na ja“, sagte er dann. „Ich wollte dir sowieso jemanden vorstellen.“ Er kramte sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer einer guten Freundin. „Hey! Bei uns gibt es sozusagen einen Modenotfall. Ja, genau. Hast du Zeit? Super! Bis gleich dann!“ Zufrieden legte er auf. „Sie ist in zehn Minuten hier, dann bekommst du endlich was zum Anziehen“, erklärte Finn, und Abby lächelte nervös.
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Tatsächlich klingelte es bereits kurze Zeit später an der Tür. Abby blieb dicht hinter Finn, als dieser die Haustür öffnete. Vor ihnen stand ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, dass fröhlich lächelnd erst Finn und dann auch ihr einen Kuss auf die Wange gab. Sie war etwas kräftiger gebaut, aber hübsch, hatte hellblonde glatte Haare und wunderschöne Augen. Sie waren wohl eigentlich grau-grün, aber durch den Lichteinfall wirkten sie manchmal gelb, als würden sie ständig die Farbe wechseln. Es muss toll sein so auszusehen, dachte Abby bewundernd. In der Hand hielt sie eine riesige Plastiktüte, in der es leise raschelte. „Hi!“ strahlte sie. „Ich heiße Monika Biermann, aber meine Freunde nennen mich Nika. Und du musst Abby sein! Ich hab schon so viel von dir gehört! Du bist aber wirklich sehr hübsch, und so schlank! Ob dir meine Sachen überhaupt passen? Na, egal. Darf ich dich Abby nennen oder ist dir Abigail lieber? Ach, das wird toll, wenn noch ein Mädchen in der Clique ist, wir verstehen uns bestimmt super! Komm schnell mit, ich hab dir so viel mitgebracht, jetzt machen wir `ne Modenschau!“ Völlig überwältigt von Nikas Redefluss brachte Abby kaum etwas heraus, aber das schien sie auch gar nicht zu stören. Sie schnappte sich Abbys Hand und zog sie ins Wohnzimmer. Sie kennt sich aus, dachte Abby, sie muss oft hier sein. Ob sie und Finn wohl zusammen sind? Er war ihnen mit der neugierigen Becky gefolgt und stand so lange grinsend im Türrahmen, bis Nika ihn energisch nach draußen schob und die Tür hinter ihm schloss. Dann kippte sie die Plastiktüte auf dem braunen Teppich aus und sah Abby erwartungsvoll an. Fassungslos starrte sie auf die Kleidung in allen möglichen Farben und Formen und brachte nur ein „Wow“ heraus. Das reichte dem blonden Mädchen schon, um breit zu grinsen. „Ja, nicht wahr? Ich habe das Meiste sogar selbst gemacht, aber mir passt es inzwischen nicht mehr.“ Zielsicher zog sie ein wunderschönes Jäckchen aus dem bunten Haufen und drückte es Abby zusammen mit einigen anderen Sachen in die Hand. „Anprobieren!“ verlangte sie, und in der nächsten Stunde machte sie nichts anderes als von einem von Nika zusammengestellten Outfit in das nächste zu schlüpfen. Fast jedes Mal klatschte das Mädchen begeistert in die Hände, wenn Abby sich verlegen im Kreis drehte. Am Ende saßen beide erschöpft auf Finns Sofa, aber sie lächelten beide. „Weißt du“, sagte Nika glücklich. „In unserer Clique bin ich das einzige Mädchen, und ich habe noch vier Brüder zu Hause. Da vergisst man manchmal wie toll es ist Mädchensachen zu tun.“ Abby nickte schüchtern. Sie fand Nika nett.
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Als die Tür zum Wohnzimmer sich wieder öffnete, sah Finn in die beiden fröhlichen Mädchengesichter. „Und?“ fragte er interessiert. „Sie behält alles!“ verkündete Nika. „Es steht ihr einfach viel zu gut.“ Abby hob abwehrend die Hände. „Ich kann doch nicht all die tollen Sachen…“
„Und ob! Ich werde den ganzen Kram bestimmt nicht wieder nach Hause schleppen.“ Stürmisch umarmte sie erst Finn, dann Abby und wandte sich dann zum Gehen. Als sie schon draußen stand, drehte sie sich noch einmal um. „Ach Abby, hast du nicht Lust, morgen mal mit in unsere Schule zu kommen? In der dritten und vierten Stunde ist Projektunterricht, und davor und danach treffen wir uns in der Cafeteria. Du musst da noch unbedingt ein paar Leute kennen lernen. Na, was sagst du?“ Zögerlich sah Abby zu Finn, der mit den Schultern zuckte. „Komm ruhig mit. Da gibt es so viele Sachen, da ist bestimmt auch für dich was dabei. Die Lehrer werden sicher nichts dagegen haben.“
„Also abgemacht!“ rief Nika. „Bis morgen dann!“
„Bis morgen!“ antworteten Finn und Abby im Chor, und die Tür schloss sich langsam. „Meinst du, deine anderen Freunde werden mich mögen?“ fragte Abby ihn nervös, als sie gemeinsam Beckys Spielzeug, das im ganzen Haus verteilt war, zusammensuchten. „Sicher“, sagte er leise. „Die Frage ist nur, ob du alle von ihnen mögen wirst.“
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Am nächsten Morgen ging Abby tatsächlich nach ihrem Gang zum Kindergarten auf direktem Weg zu Finns Schule. Sie lag im Stadtzentrum und war durch die vielen Hinweisschilder auch ohne Finns Wegbeschreibung leicht zu finden. Nach knappen zwanzig Minuten stand der Engel vor einem großen, in allen möglichen Gelbtönen gestrichenen Gebäude mit riesigen Fenstern und großzügig angelegten Blumenbeeten. Hinter dem großen Eisentor lag ein gigantischer Schulhof mit Tischtennisplatten und einem abgesteckten Fußballfeld. Im Schatten einiger großer Bäume reihten sich Holzbänke aneinander. Links gelangte man zu den Bushaltestellen und dem Lehrerparkplatz, rechts führte ein gepflasterter Weg durch den sauberen und bunten Schulgarten zu einem zweiten Gebäude, von dem ein Geruch nach warmem Brot und scharfen Gewürzen ausging. Das muss die Cafeteria sein, dachte Abby, und statt durch das riesige Hauptgebäude zu irren, beschloss sie, einfach dort auf Finn und die anderen zu warten. Was für eine schöne Schule, dachte sie beeindruckt. Sie ist bestimmt auch von innen sehr sauber. Als sie die Tür des Hauses aufstieß, fühlte sie sich umgeben von Licht, Wärme und freundlichen Farben sofort wohl. Die schlanke Frau hinter der Essensausgabe nickte ihr freundlich zu, als sie an ihr vorbeiging und sich in einer Ecke an einen Tisch setzte. Wie schön muss es sein, hier lernen zu dürfen, fand Abby und bedauerte zutiefst, dass sie selbst nie Gelegenheit gehabt hatte, eine Schule zu besuchen.
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Nach etwa einer Stunde riss Nikas Stimme Abby aus ihren Gedanken, die, ohne dass sie es gewollt hatte, immer wieder zu ihrem Verlobten abgeschweift waren. „Da bist du ja, Ab! Okay, das ist jetzt vielleicht zu kurz. Bleiben wir bei Abby. Leute, sie sitzt hier hinten! Kommt schon!“ Jetzt wussten ausnahmslos ALLE Besucher der Cafeteria, wo genau Abby saß, und schon bald standen nicht nur Finn und Nika bei ihr, sondern auch noch fünf oder sechs andere Schüler, die ihr die Hand gaben und sich vorstellten. Zwei fielen Abby besonders auf. Der eine war ein Junge in Finns Alter, mit hellbraunen, kurzen Haaren, braunen Augen und geschmackvoller, auffälliger Kleidung. Er war im Gegensatz zu den anderen Jungs eher klein, aber das störte ihn selbst wohl am allerwenigsten. Sein breites Lächeln ähnelte dem von Nika, und er begrüßte Abby auch genau so herzlich mit einem Wangenkuss. „Ich heiße Jerome Neuer. Jey ist mein Spitzname, klingt auch cooler. Ist Abby okay?“ „Sicher“, sagte sie lächelnd, und zufrieden ließ Jey sich auf den Stuhl neben Nika fallen. Die beiden begannen zu reden wie ein Wasserfall. Die zweite Person war ein sehr hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren, blauen Augen und einem frechen Grinsen auf den Lippen. Abby entgingen die Blicke nicht, die ihr fast alle Jungs inklusive Finn zuwarfen. „Hey“, sagte das Mädchen und schüttelte ihr kräftig die rechte Hand. „Ich bin Felicia. Finn und ich gehen in eine Klasse.“ Bildete Abby es sich nur ein, oder wurde Finn leicht rot, als Felicia ihn ansah? „Freut mich sehr!“ erwiderte Abby höflich, und langsam verabschiedeten sich alle und zogen sich zurück. Finn setzte sich neben Abby an den Tisch und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Jey und Nika hatten inzwischen aufgehört zu reden und grinsten Abby verschwörerisch an. „Du musst wissen, Abby, Felicia ist das begehrteste Mädchen der Schule!“ flüsterte Nika. „Hmm, und Finn steht voll auf sie!“ kicherte Jey mit einem Seitenblick auf seinen Freund. „Gar nicht wahr!“ wehrte dieser ab, aber seine Augen sagten etwas anderes. Abby lächelte ihn an. „Das ist doch schön. Sie ist hübsch, und sie sieht so aus als würde es mit ihr nicht langweilig werden. Hast du es ihr schon gesagt?“ Finn sah auf den Tisch, als würde es dort etwas ungeheuer Interessantes zu sehen geben. „Nein“, murmelte er. Jey und Nika brachen wieder in gutmütiges Lachen aus, Abby legte Finn tröstend die Hand auf die Schulter. Das mit der Liebe war schwierig, das wusste sie nur zu gut.
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„Ich mache die Schülerzeitung!“ erklärte Nika, als es darum ging, für Abby ein Projekt auszusuchen. „Ich möchte nämlich mal Journalistin werden. Da ist das ein guter Anfang. Jey trainiert die jüngeren Schüler im Fußball. Du wirst ihn schon brüllen hören!“ grinste Nika und kassierte von Jey einen freundschaftlichen Schlag. „Was machst du denn, Finn?“ fragte Abby neugierig. „Musikwerkstatt. Wir machen das Programm für ein Wohltätigkeitskonzert der Schule im nächsten Jahr.“
„Finn ist nämlich ein unglaublicher Pianist!“ erklärte Jey. „Dadurch haben wir uns erst kennengelernt. In der Grundschule hat er auch bei einer Feier Klavier gespielt, das war so toll, da habe ich ihn hinterher angesprochen.“
„Na ja“, stammelte Finn verlegen. „So gut ja nun auch wieder nicht.“
„Spielst du mir mal was vor?“ fragte Abby vorsichtig, die sich Klaviermusik wunderschön vorstellte. „Klar“, murmelte Finn. „Muss jetzt aber weg.“ Auch Jey und Nika verabschiedeten sich, nachdem sie Abby die Liste gezeigt hatten, auf der die verschiedenen Projekte aufgeführt waren. Bei der „Poesiewerkstat“ blieben ihre Augen hängen. Gedichte mochte sie, und so fragte sie höflich an, ob sie teilnehmen könne. Außer ihr waren nur vier Schüler in diesem Kurs, und der Lehrer war ganz entzückt über den Neuzugang. „Das hier ist Paul, er geht in die 10c.“ 10c? „Dann bist du in Finns Klasse!“ rief Abby erfreut. „Ich bin…“
„Was hast du mit Finn zu tun?“ unterbrach er sie barsch. Erst da sah sie ihn richtig an. Der Junge hatte blau gefärbte Haare und hatte seinen dürren Körper unter dunklen Hosen und einem ebenso dunklen Kapuzenpulli versteckt. Seine Augen waren eisblau und spießten Abby mit feindseligen Blicken auf. Er machte ihr Angst.
„Er wird dich über alles aufklären. Ihr werdet euch sicher gut verstehen!“ Der Lehrer klang, fand Abby, nicht so, als würde er seinen eigenen Worten Glauben schenken. Als sie sich zusammen an einen Tisch setzten, wagte Abby nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Paul wusste ihren Namen wahrscheinlich vom Lehrer. Er redete von irgendwelchen Gedichtbänden, aber Abby war damit beschäftigt, den Impuls, wegzulaufen, zu unterdrücken. „Sag mal, hast du Angst vor mir?“ fragte er nach einer Weile ärgerlich. Abby schluckte und nickte dann. Das war also der Freund, von dem Finn vermutet hatte, sie würde ihn nicht mögen. Voller Scham gestand sie sich ein, dass er Recht gehabt hatte. Sie mochte ihn nicht.