Für eine liebe Freundin
„Das Leben wie ein Pendel,
Dem alles Sein entrinnt,
Eh’ in tiefster Schwärze
Der Lebenshauch gerinnt.
Denn Zeit ist…“
„Denn Zeit ist“, fuhr es mir durch den Kopf, während ich im fahlen Schein der Petroleum-Lampe auf die Seiten starrte und das gefiederte Ende des Gänsekiels nachdenklich zu meinen Lippen führte. Zeit… was war Zeit. Ein Gedanke, der mich zuvor nie beschäftigt hatte und es gewiss auch nie getan hätte, wäre da nicht jener einschneidende Augenblick gewesen, der mich nun seid einem vollen Jahr täglich meiner Lebensfreude beraubte. Jener Augenblick, da sie starben: Theodora, mein geliebtes Weib, und meine Tochter. Namenlos war sie verschieden, und meine Frau war ihr gefolgt, ehe der nächste Morgen angebrochen war. Keinen Namen habe ich auf den Grabstein meißeln lassen, als ich mein eigenes Kind zu Grabe trug, doch im Geheimen nannte ich sie Gabriella, denn engelgleich war ihre Schönheit mit der blassen Haut und dem sich bereits andeutenden goldenen Schopf gewesen, obgleich sie nicht geatmet hatte, keinen Laut, kein Lebenszeichen gegeben hatte, als wäre diese Schönheit unbeseelt zur Welt gekommen.
Es war in jenem Augenblick, da ich zum ersten Mal dieses eigenartige Geräusch vernahm. Tick tack, tick tack. Aufgeschreckt aus meinen düsteren Gedanken von Tod und Leid blickte ich durch das Arbeitszimmer meines Wohnsitzes. Das Petroleum in der Lampe neigte sich allmählich dem Ende. Nur noch zaghafte orange Schatten warf die klägliche Flamme an die holzgetäftelten Wände. In dieser Düsternis der späten Abendstunden suchte ich den Raum nach dem Ursprung des unliebsamen Klanges ab. Tick tack, tick tack.
Meine Augen fanden ihren Weg zur einer in Schatten getauchten Ecke, in der ich, wenn auch nur aufgrund dessen, dass ich dieses Zimmer vor Jahren selbst möbliert hatte, die große Standuhr erspähte, die dort ihren Platz gefunden hatte. Es war ein kurioses Kleinod; aus Ebenholz mit barocken Schnitzereien. Pompös und bedrohlich. So wie fast alles in diesem Zimmer bedrohlich wirkte.
Meine einstige Vorliebe für exotische Mitbringsel, die ihren Anfang in afrikanischen Masken und chinesischen Papierfächern genommen hatte, war in den Tagen nach dem Tode meiner Liebsten zu einer morbiden Leidenschaft erwachsen, die mein Arbeitszimmer nun einem Spukhaus nahe kommen ließ. Und mit dieser Leidenschaft für das Dunkle, das Abscheuliche, kam dieser unzügelbare Trieb zu schreiben. Worte zu Papier zu bringen, meine Gedanken in Tinte zu bannen und den blau-schwarzen Linien das Geheimnis des Todes zu entlocken.
Und so saß ich nun hier, im Schein meiner Lampe an einen November-Abend und starrte die tickende Standuhr an, während draußen vor dem Fenster der Wind an den Zweigen rüttelte.
Mir war plötzlich, als sei das Ticken leiser geworden, als habe es das hohle Nachhallen verloren. Es war nunmehr das monotone Geräusch eines Chronometers aus Holz und Metall.
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab. Meine düsteren Gedanken spielten bereits ihre Streiche mit mir.
Ich beschloss, meine Arbeit für eine Weile ruhen zu lassen und mich stattdessen den Briefen zu widmen, die mein werter Gottfried, ein Freund aus Kindertagen, mir aus der Ferne schickte. Er hatte das Erbe seiner Familie aufgebracht, um zu reisen und die entlegensten Orte der Welt zu entdecken. Ein romantischer Träumer war er, so wie ich es selbst einst war.
Dieses Mal schrieb er von Gizeh her, wohin er sich aufgemacht hatte, um die jahrtausende alten Bauten eines vergessenen Volkes zu betrachten. Pyramiden nannten sich diese eckigen Monumente, in denen ihre einstigen Erschaffer ihre Könige zur letzten Ruhe gelegt hatten. Es hieß, die Mumien, die sie angefertigt hatten, sollen unter ihren Leinenbinden nicht verwesen, ewig überdauern, um im Jenseits aufzuerstehen…
Tick tack, tick tack.
Wieder dieser hohle Klang, der mich zusammenfahren ließ, sodass ich die Briefe meines Freundes zu Boden fallen ließ. Grimmig sah ich zu der Uhr herüber, die sich an meinem Schrecken zu ergötzen schien. Nun fiel mir auch auf, dass dieses Möbelstück etwas Düsteres, Unheimliches ausstrahlt. Hatte diese bösartige Aura schon immer bestanden und war es mir bislang nicht aufgefallen? Oder war es erneut meine eigene Phantasie, die die Schreckensgeister meines betrübten Gemüts auf dieses Stück Holz projektierte? Ich wusste keine Antwort darauf. Fakt aber war, dass es mir nun schauderte und ich den dringlichen Wunsch verspürte, den Raum zu verlassen.
Hastig griff ich nach dem Brief auf dem Boden und hastete zur Türe, ohne die Uhr aus den Augen zu lassen.
Schlaf, Schlaf und einen tiefen Blick in den Absinthkelch, um einen erregten Geist zu beruhigen.
Der dämonischen Uhr entkommen, schleppte ich mich in den Speisesaal des Hauses, das ich noch immer bewohnte. Einsam war es hier, besonders seid ich die Diener davongejagt hatte, doch ich hatte es nicht übers Herz bringen können, dieses Haus – dieses Haus –, das meine Theodora so sehr geliebt hatte, zu verkaufen. Und so blieben mir nur die Schatten der Erinnerung in dieser Stille, bedeckt von grauem Staub, der davon zeugte, dass schon lange keine weibliche Seele mehr Einzug in dieses Heim gehalten hatte.
Gottfried hatte mir stets geraten, erneut zu heiraten, immerhin war ich noch kein alter Greis und hätte, wenn ich meinem Äußeren mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, einen stattlichen Anblick geboten. Und wenn ich dies nicht konnte, meine wunderschöne Theodora nicht vergessen konnte, so solle ich mich ihm anschließen und gemeinsam mit ihm die Welt erkunden.
Einfache Worte für einen Mann, der nie die Freuden eines häuslichen Lebens kennen gelernt hatte. Gottfried war das älteste von fünf Kindern gewesen, und nachdem sein Vater früh an einer Lungenentzündung gestorben war, hatte er mit knabenhaften sechzehn Jahren die Geschäfte des Hausherrn übernommen. Kaum, dass seine Brüder alt genug waren und seine Schwestern verheiratet waren, hatte ihn der Ruf der Freiheit gepackt. Eine Frau hatte er sich nie genommen, denn die Bande der Ehe erinnerten ihn zu sehr an die Jahre, da er seiner Familie den Vater ersetzen musste. Reisen, das wollte er, die Wunder der Welt erblicken, mit Gelehrten zu Abend speisen und das Leben der fremdartigsten Kulturen kennen lernen. Ich indes sah darin nur eine Flucht. Eine Flucht vor der Verantwortung, vor den Erinnerungen. Und fliehen konnte ich nicht, denn jene, vor denen ich vielleicht fliehen sollte, waren nicht mehr an sterbliches Fleisch gebunden, und ich wusste, wohin es mich auch verschlug, sie würden mir folgen, würden mir das Vergessen verwähren.
Und so verblieb es bei einem regen Briefwechsel mit meinem lieben Gottfried, dessen Worte mir zumindest hin und wieder etwas Trost schenkten. Seine Besuche aber wurden immer seltener, während seine Reiselust ihn in immer weiter entlegende Lande trieb.
Meine Beine fanden, während ich meinen Gedanken nachhing, von selbst den Weg ins Speisezimmer und hielten auf die mit grauen Staubflöckchen bedeckte Anrichte zu. Einige Staubfreie Kreise auf dem einst schönen Eichenholz zeugten davon, dass dieses Möbelstück noch regelmäßig genutzt wurde. Dies lag allerdings mehr an der kunstvollen Glasflasche mit einem smaragd-grünen Inhalt, den die Künstler liebevoll „Grüne Fee“ nannten. Und eine Fee war diese Wermut-Spirituose wirklich, wenngleich auch eine launische. Den Künstlern und Dichtern schenkte sie inspirative Trance, den Leidenden einen Augenblick der Freiheit und der Freude, doch manchmal forderte sie auch einen Preis für diese Gaben, indem sie ihre Opfer gefangen hielt und wahnsinnig machte. Mich allerdings bestrafte das bittersüße Gebräu bisweilen nur mit regen Kopfschmerzen, wenn es mich aus ihrer tröstenden Umarmung entließ. Und in diese Umarmung sehnte ich mich nun.
Mit fahrigen Bewegungen griff ich nach der Flasche und goss das grüne Gold in eines der Gläser ein, die dort standen und noch nicht allzu gebraucht aussahen. Dabei versprengte einige Tropfen auf den hölzernen Untergrund, auf welchen das Nass noch einige Momente wie Perlen ruhte, ehe es begierig aufgesogen wurde. Alles hier sehnte sich nach Frieden, einen kleinen Augenblick Gückseligkeit. Und so auch ich.
Kühl und zugleich doch lodernd wie das Fegefeuer lief es meine Kehle hinab, als ich den Absinth genüsslich hinabstürzte. Ich goss einen zweiten Kelch ein. Und einen Dritten. Die Flammen brannten die Trauer in mir nieder und ließen sogar mein ob der Standuhr erregtes Gemüt in Wärme baden. Die Dunkelheit meines schattenhaften Fristens war gebannt – zumindest für einige Stunden. So berauscht war ich nun in der Lage, meinem lieben Gottfried eine Antwort zukommen zu lassen, die ihn nicht mehr beunruhigte, als er es bereits schon war.
So gingen die Tage dahin. Ich hatte versucht, den Schrecken, den die alte Holzuhr mir eingejagt hatte, zu vergessen, und meine Arbeit an meinem Gedicht fortzusetzen, doch jedes Mal, wenn ich den Gänsekiel in die dunkelblaue Tinte tunkte und meine Gedanken über die letzte Strophe schweifen ließ, vernahm ich erneut diese seltsamen Laute. Manchmal genügte es bereits, wenn ich lediglich das Arbeitszimmer betrat. Dieses fremdartige, geisterhafte Ticken war mir ein Graus geworden und aus Furcht, die verhängnisvollen Klänge würden mich verfolgen, hatte ich das Zimmer verschlossen und geschworen, es nie wieder zu betreten. Die nunmehr tief sitzende Angst linderte ich nun immer häufiger mit Absinth – unzählige Stunden, die ich in wirren Träumen und Trance zubrachte, nur um dieses Ticken nicht mehr zu hören. Doch jedes Mal, wenn ich aus dem Rausch erwachte, schien auch meine Furcht gewachsen zu sein, als wäre sie ein Parasit, der sich an meinen Alkohol-Exzessen labte und daraus seine Nahrung zog.
Meine Arbeit hatte ich indes vollends aufgegeben. Auch die Briefe Gottfrieds kamen nun seltener. Noch seltener aber öffnete ich sie. Ich konnte sie nicht mehr ertragen. Diese Worte von der freien, schönen Welt, wo in mir doch nur Dunkelheit währte. Alles um mich war nun nicht mehr, als ein düsterer Schatten einer längst vergangenen, längst vergessenen Zeit. Theodora und Gabriella schwanden hinter schwarzen Schleiern der Trunkenheit, während ich allmählich auch mich selbst vergaß.
Umso mehr erschrak ich, als es eines späten Nachmittages – es musste bereits Herbst gewesen sein, denn ein frostiger Hauch zog durch das offene Fenster des Speisesaals und es hatte schon vor einigen Tagen angefangen, früh zu dämmern – ganz unerwartet an meiner Türe klopfte.
Träge schritt ich den Salon hinab zur Haustür, um zu sehen, wer mir da – so gänzlich unerwünscht – seine Aufwartung machte. Besuch hatte ich in letzter Zeit nur selten empfangen. Viele fürchteten sich inzwischen vor mir und meinen Launen, die gewiss dem Absinth zuzuschreiben waren. Und außer meinen lieben Gottfried, hatte ich ohnehin keinen Menschen mehr in meiner Nähe geduldet.
Uns so kam es, dass, als ich die schwere Tür öffnete, in das Antlitz eines hochgewachsenen Mannes mit Mantel und Hut blickte. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, um sich besser vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Ein verzweifeltes Lächeln huschte über seine Lippen, als er mich mit meinem ungekämmten Haar und dem schäbigen, alten Morgenmantel sah.
„Da habe ich mich wohl nicht zu Unrecht gesorgt“, murmelte Gottfried und trat über die Schwelle. Kaum, dass er den Hut abgenommen hatte, schweifte sein Blick durch den Raum. Ein seltsamer Ausdruck legte sich auf seine Züge. Eine Traurigkeit gepaart mit Mitleid, mit der man einen Menschen ansah, der nur noch wenige Tage zu leben hatte.
„Ich hätte schon viel eher kommen sollen“, murmelte mein Gast erneut, ehe er sich direkt an mich wandte, „Warum hast du auf meine letzten Briefe nicht geantwortet?“
Während ich ihn durch den Salon führte, versuchte ich, ihm von dem Gedicht zu erklären, dass mich nun schon seid längerem beschäftigte. Meine wahren Beweggründe verschwieg ich ganz oder wiegelte sie herunter. Es war meinem werten Gottfried anzusehen, dass er sehr besorgt um meine Verfassung war. Und ich wollte ihm nicht noch mehr Grund zur Sorge geben. Seine Sorgen nicht bestätigen. Mir nicht eingestehen, dass ich nur noch ein Schatten meiner selbst war.
So machten wir uns zur Bibliothek auf, jener nach Staub und altem Pergament riechenden Kammer, in welcher wir einst, als Theodora noch gelebt hatte und mein Herz noch Freude empfunden hatte, so oft tiefgründige Konversation über Philosophie und Lyrik gepflegt hatten. Dort, in diesem Raum, hatten wir Träume aus Mondenschein gesponnen, unsere Herzen durch die Myriaden der Sterne Astartes, hinfort zu jenen Orten, wo selbst die Götter sterblich waren, treiben lassen; die Schleier Persephones zur Seite geschoben und ein Elysion gefunden. Dieser Ort war mir ein Heiligtum geworden, das einzige Zimmer in diesem verdammten Haus, dass immerzu nur einen Namen, IHREN Namen, Theodora, rief. Die allgegenwärtige Präsenz meiner verstorbenen Geliebten lastete schwer auf mir. Nur in der Bibliothek hatte ihr Geist keinen Einzug. Hier weilte ein der letzte Frieden meiner Seele, die letzte Erinnerung an eine einst schöne Vergangenheit, die ich, wie meine eigene Hoffnung, weggeschlossen hatte, um sie nicht durch die unheilige Finsternis meiner Seele zu entweihen.
Und nun, nun brach ich dieses Siegel, indem ich meinen alten Freund in dieses Zimmer führte.
Mit vertrautem Blick durchschritt Gottfried den rechteckigen Raum und legte, wie es stets seine Gewohnheit war, seinen Mantel ab, welchen er dann über einen der staubigen Lehnstühle warf. Er wirkte erleichtert, nicht mehr in den Gängen und Fluren meines grausigen Heimes zu stehen. Spürte auch er diese erdrückende Gegenwart?
Wie immer machte er sich an den Lampen zu schaffen, stellte hie und da einen Doch höher, entzündete eine weitere Lampe, sodass der Raum perfekt ausgeleuchtet war und kein Platz für Schatten blieb. Friedlich schimmerte der Staub in dem warmen Licht. Lederne Einbände kamen nun deutlich in den schweren Holzregalen zum Vorschein. Noch immer hatten wir kaum ein Wort gewechselt.
„Heute strahlt der Abendgöttin Licht geringer…“[1]
Überrascht sah ich zu Gottfried auf. Ein trauriges Lächeln hatte sich auf sein Gesicht gestohlen und er schien eine Erwiderung zu erwarten. Deutlich konnte ich die Worte, seine bloßen Gedanken, in seinen klaren Augen lesen. Sein Mitleid, seine Sorge, seine stillen Vorwürfe. Und die Aufforderung, meine eigenen Gedanken auszusprechen. Ich ahnte, hätte ich seine Briefe in den letzten Wochen sorgsamer gelesen und geantwortet, hätte ich diesem Besuch entgehen können, doch dies war wohl das Schicksal, dass die goldene Nemesis mir zugeteilt. Und wie ich dort nun stand und das Ausmaß der wenigen Worte, die mein getreuer Freund für eine verlorene Seele aufbrachte, verstand, brachen die gläsernen Mauern meines Herzens. All die Gedanken und Gefühle, die ich in Fluten des Absinthes zu ertränken gesucht hatte, wogten sich auf und brandeten gegen meine zu lang verschlossenen Lippen.
Ich erzählte. Erzählte von meiner Trauer, meinem Leid, der Sinnlosigkeit meiner Existenz seid dem Verlust von Weib und Kind, von all den Dingen, die ich sonst keinem Menschen hätte anvertrauen können. Gottfried indes hatte Platz genommen und lauschte. Erst, als ich meine Erzählung geendet hatte, erhob er sich und zog eines der Bücher aus den Regalen. Bald schon schien er die gesuchten Worte gefunden zu haben und andächtig las er vor.
„Dein Seel` wird einstens einsam sein/in grauer Grabsgedanken Schrein –/kein Blick. der aus der Menge weit/noch stört` deine Abgeschiedenheit.“[2]
Dieses und vieles mehr las er nun und bald schon begannen wir, unsere Gedanken in jene Worte zu kleiden, die einst die großen Meister dieser Kunst ersonnen hatten. Dunkelheit und Tod waren jene Themen, in denen wir uns an diesem Nachmittag duellierten. Und obgleich keiner von uns eine Silbe
Für Hoffnung oder Trost übrig hatte, waren diese Stunden das Balsam meiner Seele. Die düsteren Geister meines Herzens flogen aus, wenn auch nur für eine kleine Weile, und indem wir in solch verhängnisvollen Worten sprachen – von schwarzen Göttern und dem blutbeflecktem Äther – wurde meine Seele leicht. Freilich tat der Alkohol seinen Teil dazu, den ich in meiner Unwissenheit über diesen unerwarteten Besuch genossen hatte, und seine Wirkung kaum verfehlte. Manchmal, wenn Gottfried die Bücher beiseite legte und von seinen Reisen erzählte, begann sich ein mystischer, düsterer Schleier über die erzählten Worte zu legen. Deutlich sah ich die Chinesinnen mit ihren Seidenroben und Fächern vor mir, die geschminkten Gesichter wie das Antlitz einer toten Jungfrau. Ich sah dunkelhäutige Pharaonen, die in ihren goldenen Palästen ihren Götzen opferten und zeit ihres Lebens ihr eigenes Grab errichteten. Schaudernd fand ich mich in den Dörfern Rumäniens wieder, wo die Leute von lebenden Toten – Strigoi – berichteten, die des Nachts aus ihren Gräben stiegen um sich am Fleisch und Blute ihrer Verwandten zu laben.
Rasch – zu rasch – hatte sich das Abendrot über den Wolken ausgebreitet, als hätte der strahlende Hesperos den Himmel mit dem Blute der Engel getränkt. Dann, allmählich, wurde es dunkel und still. Wie die Düsternis das Himmelsreich erobert hatte, war mir schleierhaft. Zu sehr waren meine Sinne benebelt von dem Rausch aus Alkohol und verhängnisvollen Worten. Ich wurde der Dunkelheit nur plötzlich gewahr, als Gottfried in seinen Erzählungen inne hielt und hinaus, aus dem Vorhang-umrahmten Fenster blickte, fort in die Nacht. Der fahle, bleiche Vollmond hatte ich bereits erhoben und warf ein grausiges Schattenspiel gegen die Wände jenes Zimmers in dem wir saßen. Wie alte, knöcherne Klauen erschienen die Zweige der Bäume im Vorhofe und wenn der Wind an ihnen zerrte und riss, schienen sie sich zu bewegen, als schlössen sich gichtgekrümmte Finger um die blassen Mondenstrahlen.
Eine Unruhe, eine nur allzu bekannte Unruhe, hatte mich wieder gepackt. Das morbide Schattenspiel ließ mein Herz erschaudern, doch so sehr ich mich auch fürchtete, so konnte ich den Blick doch nicht abwenden, meinen Geist auf ein angenehmeres Bild richten, mich von diesem Grauen befreien. Gebannt, mit Schrecken musste ich lauschen, wie der Wind zu pfeifen begann, aufheulte und dem Mond, dem totenblassen Antlitz der der Zerstörerin Kalí, seine Gebete zurief.
Auch Gottfried schien von diesem Naturereignis, dieser bedrohlichen Urgewalt, ergriffen, doch seine Züge zeigten keine Furcht, keine Abscheu. Vielmehr das Interesse eines Gelehrten und Wissenschaftlers, der die Kräfte, die hinter diesen dunklen Göttern wirkten, zu erforschen suchte.
In eben solch einer Nacht war es, dass meine geliebte Theodora ihren Kampf um das beginnende Leben der unter ihrem Herzen erwachsenen Frucht focht. In eben solch einer Nacht war es, dass ich das engelsgleiche Wesen, den leblosen Körper meiner unbeseelten Tochter in den Armen hielt und mitansehen musste, wie auch mein Weib ihre Seele zum Monde aushauchte, wie sie aus dem Lichte schwand und zu einem schwarzen Engel wurde, der Einzug ins Reich der Toten hielt. In eben solch einer Nacht verlor mein Leben all seinen Sinn.
Ein schnappendes Geräusch ließ mich zusammenfahren. Ich wandte mich um, um den Störenfried in der Stille meiner düsteren Wachträume auszumachen und erblickte die goldene Taschenuhr, die Gottfried aus der Westentasche gezogen und geöffnet hatte. Missmutig beobachteten meine Augen jede einzelte feine Linie in dem ziselierten Metall, die filigranen Muster, die vielleicht hübsch erscheinen mochten, jedoch ob der Tatsache, dass sie jenen mir so verhassten Boten des Fährmannes Charons zierten, waren sie mir Graus und Feind zugleich.
Gottfried jedoch schien meine zornigen Blicke nicht zu bemerken. Zu sehr war sein Blick auf die Zeiger des Chronometers fixiert. Mit einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zum Nachthimmel sprach er bloß: „Wie die Zeit vergeht. Es ist bereits dunkel, ich sollte gehen.“
Zeit… Zeit… Zeit! Oh, du mir so verhasster Diener aus den Tiefen des Tartaros! Oh, du schwarze Nebelkrähe aus dem Totenreich! Und erneut wurde ich der hohlen Laute gewahr. Tick tack, tick tack. Wie ein Hohnlied schallte es mir entgegen: Tick tack, tick tack.
Welch Raserei und flammende Wut packte mich da ob jenes kleinen Wortes „Zeit“, dass ich, nicht mehr Herr meines Körpers und Handelns, mich aus dem staubigen Lehnstuhl erhob und nach dem ungebrauchten Kerzenständer griff, welcher zur Zierde auf einem Beistelltischchen ruhte, damit ausholte und – weh! – meinen guten, lieben Gottfried niederschlug. Mein Wahn fand erst sein Ende, als ich auch die goldene Uhr aus seiner Hand gerissen und zerschmettert, das höhnische Ticken ein für alle Mal beendet hatte. Und als der Anfall, dieser Rausch, verflogen war, bemerkte ich es. Das Blut… überall Blut. Ich hatte meinen lieben Freund erschlagen, getötet, ermordet.
Der Zorn verrauchte und wich der Trauer. Ängstlich, besorgt hob ich den leblosen Körper des mir so brüderlich verbundenen Mannes an und ließ ich sogleich wieder fallen, als ich auch das Blut an meinen Händen sah, das aus der schweren Kopfwunde tropfte. Ein Geräusch wie ein tiefes Seufzen ließ mich aufblicken. Der Wind vor dem Fenster stöhnte sein Klagelied ins Dunkel. Und plötzlich schien der gesamte Raum nur immerzu den Namen des Toten zu rufen, so wie die übrigen Zimmer stets nur die Namen meiner Frau und Tochter riefen. War dieses elende Haus denn mein Fluch, oder war ich es, an dem die Seelen hafteten und ihnen ihre Kammern in diesem Hause wies?
Welch Furcht musste da über mich gekommen sein, dass ich diese leblose Hülle packte und sie fortzog. Fort von der Bibliothek, von allen Räumen, denen der Atem des Todes anhaftete, hinein in jenes Zimmer, jenes eine, gottverlassene Zimmer, welchem ich doch zuvor hatte entfliehen wollen. Welcher Teufel hatte Besitz von meiner Seele ergriffen, dass ich wie von Zinnen den Leichnam meines Freundes in mein Arbeitszimmer zerrte und mich dort verbarrikadierte. Dir Furcht vor den Geistern, die ich heraufbeschworen, musste in diesem Moment noch größer gewesen sein, als die Furcht vor diesem Raum mit seiner grässlichen Uhr. Und dort saß ich im Halbdunkel der wenigen Kerzen und Öllampen und ertränkte meine Furcht und Trauer in Fluten aus smaragdgrünem Absinth. Erst, wenn der Wahn mich wieder ergriffen hatte und aus dem Ängstlichen Wimmern ein düsteres, abwesendes Lachen erwachsen war, stoppte ich den Fluss und harrte dort in meiner Totenwache aus, bis der nächste Anflug von Seelenqual nach der Umarmung der Grünen Fee rief.
Viele Tage und Nächte harrte ich so aus, mein Blick nur auf die blutige Fleischeshülle gerichtet, die einst eine Seele beherbergt hatte. Schön erschien sie mir, die bleiche Haut, gerahmt von dunkelbraunen Locken, die sich aus dem samtenen Haarband gelöst hatten. Schön, engelsgleich, friedlich war der Ausdruck, der die blassen und doch wohlgeformten Lippen umspielte. Die Kronjuwelen dieses Gemäldes aus Fleisch und Blut bildeten die grünen Augen. Ein Hauch von stählernem Grau umspielte die Pupillen, welche nun leer ins Dunkel blickten. Wolfsaugen, die einst mit einer Intensität und Leidenschaft gefüllt waren, wie man sie nur bei Menschen finden konnte, die wahrlich ihr Glück gefunden hatten.
All dieser Dinge, dieser Schönheit, dieser Vollkommenheit, dieser göttlichen Herrlichkeit, wurde ich erst in diesen finsteren Momenten gewahr, da die letzte Wärme aus dem Toten schied. Oh, wie lange mochte ich wohl so verharrt haben, im Rausche meiner irren Muse gefangen. Tage, Nächte, Sie alle verschwammen vor meinen Blicken wie Ölgemälde, über die man Wasser verschüttet hatte. Bald schon wusste ich nicht einmal mehr, wie es dazu hatte kommen können, dass ich meinen lieben Gottfried, meinen besten Freund, meinen einzigen Freund in den Tagen größter Not hatte erschlagen können.
Gebannt war ich, gefesselt von jenem Anblick, der sich mir bot. So wie mich einst der Anblick meines toten Kindes in all meiner Trauer und Verzweiflung in seinen Bann geschlagen hatte. In meinem Wahn wollte ich meine Augen nicht abwenden, wollte immerzu nur in die wolfsgleichen Augen schauen, nicht zurückkehren in die Wirklichkeit, die mir noch schwärzer erschien als jener apokalyptische Wachtraum.
Doch bald schon aber, ich weiß nicht, wie viele Tage verstrichen sein mussten, bemerkte ich erste Veränderungen an dem regungslosen Körper. Erst war da dieses Schmatzen, das eigenartige Gefühl, Gottfrieds Leichnam sähe besser genährt aus, als es zu Lebzeiten der Fall war. Allmählich breitete sich ein übler Geruch aus, dass sich mir, wenn der Rausch mir nicht vollends die Sinne benebelte, der Magen umdrehte und ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Und dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden, war noch immer gebannt von der Friedlichkeit und der Ruhe, die dieses Gesichts ausstrahlte, von der einstigen Vertrautheit, die von diesen warmherzigen Zügen ausging.
Als aber sich die ersten Maden – weiße, dicke Tiere, wie sie abscheulicher nicht sein konnten – durch das tote Fleisch wühlte, davon zehrten und sich satt fraßen, konnte ich nicht mehr umhin, zu akzeptieren, dass der Körper meines lieben Freundes allmählich der Verwesung, dem endgültigen Zerfall anheim fiel. Unendlich viele Tränen vergoss ich in jenem Augenblick, da sich mir diese schreckliche Wahrheit offenbarte; umso schrecklicher noch, dass sie sich nicht mit Fluten grünen Giftes fortwaschen oder ertränken ließ. Egal, wie viel des Alkohols ich trank, diese eine Erkenntnis blieb klar und wach vor meinen Augen: Alles war zum Tode, zum ewigen Vergehen verdammt.
Wie zur Mahnung an die Endgültigkeit dieser Worte vernahm ich wieder das hohle Ticken, das teuflische, höhnische Lachen der Uhr, die ich einst so gefürchtet. Diese Furcht war nun verschwunden, war dem Hass gewichen. Mit dem Lachen eines verzweifelten Irren richtete ich mich auf, stieg über den von der Verwesung geschändeten Toten hinweg, während dieses Ticken, dieses dämonische Ticken mich zu locken, zu rufen, anzuklagen schien.
Und in all meiner Wut, all meiner Verzweiflung rief ich, während ich nach der Absinthflasche griff, jenen letzten Gedanken, der meiner Brust und entfliehen suchte.
„Das Leben wie ein Pendel,
Dem alles Sein entrinnt,
Eh’ in tiefster Schwärze
Der Lebenshauch gerinnt.
Denn Zeit ist stiller Fährmann,
Ist schwarzer Gott auf dunklem Thron.
Und wem das Pendel nicht mehr schwingt,
Ist Vergänglichkeit der letzte Lohn.
So halte nur den Lebenshauch,
Eh du dem Untergang geweiht;
Das Pendel dient nur einem Herrn:
Dem Dämon namens Tod und Zeit.“
Mit einem letzten Schrei warf ich die Flasche der Wanduhr entgegen, dass das dünne Glas, welches dass Messingpendel hinter sich verschloss, klirrend zersprang. Rasend riss ich den dunklen Korpus nieder, suchte nach Gegenständen, um ihn zu zerschmettern, trat wütend auf ihn ein, bis das Ebenholz barst und brach. Meine Zerstörungswut kannte kein Ende. Erst, als ich bemerkte, dass die Uhr, diese Ausgeburt der tiefsten Hölle, der Folterknecht des schwarzen Engels Azrael, ihren letzten Schlag getan hatte, dass es still war, so unendlich still, wagte ich es, in meinem Handeln inne zu halten und ins Dunkel zu lauschen. Nichts, kein Ticken, kein verräterischer klang. Es war still…
Und doch, wie ich so lauschte, die Dunkelheit um mich herum, unterbrochen von den Mondenstrahlen, die durch das Fenster fielen, wurde mir Bang. Ängstlich besah ich mein Werk, das Ausmaß meines Wahnes und entsann mich all der Dinge, all der grausamen Dinge, die ich im Rausche getan, all der Dinge, die ich, nicht mehr Herr meiner Sinne, verübt, verbrochen, dass ich es war – Ich! - der in Raserei und Trauer, all jene schrecklichen Schicksal beschworen hatte.
Klagend ließ ich mich auf die Knie fallen und schrie meine Trauer zum Mond hinauf. Der Raus des Absinths war von mir gefallen und der letztendlichen Erkenntnis gewichen. Und als die Wolken das bleiche Antlitz der Selene verdeckte, als ich der Stille des Pendels erneut gewahr wurde, da wusste ich, dass mit ihm auch mein Ende gekommen war.
ENDE
[1] Aus „Trauer einer Mondgöttin“ von Charles Baudelaire
[2] Aus „Geister der Toten“ von E. A. Poe
FrozenHeart Re: Dein FrozenHeart-Gänsekiel ... - Zitat: (Original von Rattenfaenger am 12.09.2012 - 22:01 Uhr) ... lässt uns in die Abgründe blicken für die uns die Zeit die Spalten reißt ***** LG Rattenfänger Hab Dank fürs Lesen und den Kommentar! |
Rattenfaenger Dein FrozenHeart-Gänsekiel ... - ... lässt uns in die Abgründe blicken für die uns die Zeit die Spalten reißt ***** LG Rattenfänger |
FrozenHeart Re: Absolut genial - Zitat: (Original von shirley am 12.09.2012 - 08:55 Uhr) Eine Hammer Athmosphäre!!! Sehr, sehr gern gelesen. Bis auf einige Flüchtigkeitsfehler, die bei nochmaligem Lesen deinerseits sicher rasch entfernt werden könnten - perfekt. Großes Lob! Liebe Grüße Shirley Vielen Dank für dein Lob und deinen Hinweis. Werde bei Gelegenheit noch mal Korrektur-lesen! |
FrozenHeart Re: - Zitat: (Original von shirley am 12.09.2012 - 06:26 Uhr) Ich lese auf jeden Fall weiter. Hab nur eben keine Zeit. Der Anfang ist einmalig schön. S. Vielen lieben Dank! Hoffentlich gefällt dir dann auch der Rest :D |
FrozenHeart Re: - Zitat: (Original von roxanneworks am 11.09.2012 - 23:44 Uhr) Die ersten Seiten sind schon wundervoll geschrieben... ich freue mich darauf, diese Geschichte zu genießen ;-)) also bis zum nächsten Kommentar ;-)) ganz liebe Grüße roxanne Dann bis hierhin schon mal vielen lieben Dank! Hoffentlich wird der Rest dann nicht zur Enttäuschung... |
FrozenHeart Re: WoW - Zitat: (Original von mozimi am 11.09.2012 - 23:21 Uhr) ein ganz eigener Stil... LG Uwe Vielen lieben Dank, aber so ganz eigen nun auch nicht. Hab mich zuvor ein bisschen von E. A. Poe und Anne Rice inspirieren lassen. |
FrozenHeart Re: Oh mein Gott! Episch! - Zitat: (Original von Strigoia am 11.09.2012 - 21:46 Uhr) Das war... atemberaubend. Ich war ja schon von den ersten Zeilen begeistert, aber so im ganzen ist es noch eindrucksvoller! Du gehst mit dieser Geschichte in die Tiefe der Psyche eines Menschen hinein, wie ich es nicht gekannt habe. Unglaublich! Der einzige Makel, der mir auffiel war, dass der Tod von Gottfried finde ich etwas detaillierter hätte sein können ;) Ansonsten ganz große Klasse! Lg Strigoia Ja... ich weiß, nur dann wäre ich wohl zu sehr in einzelne blutige Details abgedriftet, die dann doch eher etwas ZU blutig gewesen wären... wir können uns ja mal zusammen an die Passage heranmachen und sehen, was da noch zu machen wäre... |
roxanneworks Die ersten Seiten sind schon wundervoll geschrieben... ich freue mich darauf, diese Geschichte zu genießen ;-)) also bis zum nächsten Kommentar ;-)) ganz liebe Grüße roxanne |