Romane & Erzählungen
Dragenia

0
"Dragenia"
Veröffentlicht am 21. August 2012, 44 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Naja - was wohl? Ich schreibe schon sehr lange. Ich glaube, mein erstes Buch - naja, Geschichte - habe ich im Kindergarten geschrieben, bzw. schreiben lassen. Da ich hier und in der Umgebung kaum Zuhörer fand, habe ich es über's Internet probiert. Und ich hoffe, dass ich hier den einen oder anderen finden kann, der meine Geschichten gerne liest. Ich schreibe fast immer Fantasy, weil ich schon zu sehr in der Realität lebe ;-)
Dragenia

Dragenia

 

Kapitel I

In Dragenia herrschte bereits geschäftiges Treiben, als die Sonne zaghaft ihre langen Arme hinter den Bergen hervorstreckte. Sanft ergoss sich das goldene Licht über die gläserne Kuppel des Palastes, über die Felder und Häuser. In den Gassen ertönte Gemurmel und Gelächter. Es war ein wunderschöner Morgen, so wie es jeder Morgen in Dragenia war. Kinder trugen gefüllte Wassereimer aus der eiskalten Bergquelle im Herzstück Dragenias in die Häuser, Frauen schürten das Feuer und Männer trafen sich auf dem Markt, um ihre Waren zu tauschen. Der Himmel war frei von Wolken, der Morgen jedoch war noch kühl und vorfrühlingshaft. Hühner liefen aufgeschreckt durch die Straßen und Schweine durchsuchten grunzend Schuppen nach etwas Essbarem. Kreischend zogen abgerichtete Falken ihre Kreise über Dragenia, um ihre steifen Flügel zu lockern. Dann, als die Sonne begann, mehr Kraft zu bekommen, zogen sich die meisten Menschen in ihre Häuser zurück, um ihre

 

erste Mahlzeit einzunehmen.

*

Inzwischen hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und Dragenia wurde immer lebendiger. Auch auf den Wiesen und Feldern tat sich etwas. „Brav“, lobte Salinda den Falken, der soeben auf ihrer Hand gelandet war und ihr nun gierig das zu früh geborene Kücken aus der Hand riss. Dann sah er sie aus klugen, flinken Augen an. „Mehr hab‘ ich nicht“, sagte Salinda entschuldigend und ließ den Falken fliegen. Falken spielten in Dragenia eine große Rolle. Sie wurden für die Jagd eingesetzt, mehr noch als Hunde. Schon kleine Kinder lernten die gefiederten Jäger kennen und lernten, sie zu beherrschen, mit ihnen umzugehen. Salinda hatte vor ein paar Wochen ein Ei aus dem Gelege eines Falkenpärchens erhalten. Sie hatte das Ei ausgebrütet und das Junge gefüttert und es gezähmt. Sie hatte ihn Windschwinge genannt. Windschwinge hatte einen getupften Bauch und dunkelbraune Schwingen. Salinda und

 

Windschwinge hatten eine enge Freundschaft gefasst. Und Salinda freute sich über die Erfolge. Bald würde Windschwinge mit auf die Jagd gehen – nun gut, es würde noch einige Jahre dauern. Der Vogel war bereit, aber Salinda war noch zu jung. Niemals würden die Jäger ein Mädchen mitziehen lassen, dass gerade einmal dreizehn Winter gesehen hatte. Windschwinge stürzte wieder vom Himmel herab auf Salindas Hand. Gemeinsam gingen sie zurück in die Stadt. Windschwinge zeigte keinerlei Furcht vor den Katzen, die auf der Suche nach Nahrung waren. Windschwinge hatten einen spitzen Schnabel und wusste ihn einzusetzen – das hatte er einem frechen Kater bereits deutlich genug gemacht. Salinda trat in eines der Häuser, das aus festem Lehm gebaut war. „Salinda? Salinda! Warst du wieder draußen auf dem Feld? Sieh dir deine Robe an, schon wieder ganz schmutzig.“ Salinda seufzte. „Die war schon vorher so, Mutter“, sagte sie. „Schlimm genug. Wie dem auch sei, oben liegt Wolle, die noch heute versponnen werden muss“, sagte Salindas Mutter und hechtete durch die Tür

 

davon. Salinda sah nachdenklich zu Windschwinge, der auf der Wäscheleine herumturnte. Dann stand sie auf, kramte in einem kleinen Schrank nach Fladenbrot und gab Windschwinge großzügig etwas davon ab. Dann stand sie auf und ging die Treppe hinauf. Die Häuser in Dragenia waren hoch gebaut, wie Türme schraubten sie sich in den Himmel. Das Haus, in dem Salinda wohnte, hatte vier Stockwerke und einen Keller. Im zweiten Stockwerk fand Salinda Webstuhl, Spinnrad, Herd und Truhen vor. Brav setzte sie sich ans Spinnrad und spann die Wolle, die davor lag, zu Garn. Nach mühevollen drei Stunden taten Salinda die Hände weh, doch sie hatte die Wolle komplett zu feinem Garn versponnen. Salinda stand auf, lief die Treppe hinunter und öffnete eine kleine Tür, die in den kleinen Garten führte. Dort liefen einige Hühner herum. Schnell sammelte Salinda die Eier ein, die die Hühner gelegt hatten und rupfte kurz das Unkraut zwischen den Maispflanzen. Dann ging sie wieder ins Haus und machte die Betten. Schließlich rührte sie einen Maisbrei zusammen und aß

 

schweigend. Ihre Mutter würde bis Mitternacht nicht aus der Gerberei, in der sie arbeitete, zurückkehren. Salindas Vater war seit dem frühen Morgen in einer der Tavernen verschollen. Doch er würde sicher wieder auftauchen. Bis dahin hatte er das immer getan. Manchmal ein wenig betrunken, manchmal auch ein bisschen zu sehr. Manchmal schlug er dann seine Tochter und seine Frau. Salinda mochte ihn eigentlich nicht. Er war auch nicht ihr richtiger Vater, sondern nur einer von Mutters vielen Ehemännern, die sie bisher hatte. Doch Salinda hatte ihn ja aktzeptieren müssen. Als Gwynth dann heimkam, saß Salinda artig am Webstuhl. Aber seit wann machte sie etwas richtig? „Bring mir ein Bier, Weib!“, knurrte er und schmiss sich in seinen Sessel. Salinda stand auf und musterte Gwynth argwöhnisch. „Du hattest schon genug“, sagte Salinda mürrisch. Gwynth sprang auf und baute sich drohend vor Salinda auf. "Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?“, fragte er gefährlich langsam. „Jetzt wo du schon mal stehst, kannst du dir auch selbst eins holen.“ „Du gehst

 

jetzt in den Keller! Oder muss ich dir erst Manieren lehren?“ Salinda trat einen Schritt zurück. Die Angst vor der harten Gürtelschnalle machte ihr dann doch Beine. Sie lief hinunter in den Keller und stellte fest, dass die Vorräte alle waren. Sie lief wieder hinauf. „Das Bier ist aus“, sagte sie. „Geh in die Taverne und hol welches, unnützes Mädchen!“, fauchte Gwynth. „Jetzt? Aber es ist nacht!“, sagte Salinda. Niemals hätte sie zugegeben, dass das Dunkel ihr Angst machte. Aber so viele hungrige Hunde und diebisches Gesindel trieb dort sein Unwesen! Natürlich hätte sie Windschwinge mitnehmen können, doch das widerstrebte ihr. Auch Windschwinge könnte sie nicht vor bösen Männern verteidigen. „Wenn du das Wort Gehorsam noch nicht kennst, kann ich es dir beibringen. Dein nutzloser Vater scheint es nicht gekonnt zu haben!“ Gwynth brüllte schon fast. „Sag nichts gegen meinen Vater!“, schrie Salinda. Sie hatte ihren Vater geliebt. Fünf kurze Jahre lang. Aber sie hatte ihn geliebt. Hart traf Gwynths Handrücken ihre Wange. „Wenn du als Magd nicht

 

taugst, dann vielleicht als Dienerin!“

 

 

 

Kapitel II

 Schmerzen. Jeder einzelne Knochen schmerzte, als Salinda sich langsam erhob. Nachdem Gwynth sie verprügelt hatte, hatte er sie zum Palast gebracht. Dort war sie unsanft auf Waffen durchsucht worden und einige Dinge hatten sie ihrer genommen. Sie hatten ihr ihr Messer und ihre Muschelkette abgenommen. Zwei Dinge, die Salinda in Dragenia das Ãœberleben und den Mut gesichert hatten, wenn sie allein in den dunklen Gassen unterwegs war. Nun war sie auf einen staubigen Boden geworfen worden und die Tür war lautstark ins Schloss gefallen. Tapfer biss Salinda die Zähne zusammen und stand auf. Es schien eine Art Bibliothek zu sein… Sie dachte an das, was Gwynth zu den Wächtern gesagt hatte. Archiv hatte er gesagt. War sie nun in das Archiv geperrt worden? Sollte sie hier verhungern? Unruhig sah sie sich um. Das durfte Gwynth nicht tun! Wenn Mutter das erfuhr würde sie… ja was? Gwynth könnte sagen, sie, Salinda, wäre auf dem Weg zur

 

Taverne von einer Horde Raufbolden angegriffen worden. Nun ja, das war nicht sehr vorteilhaft, denn dann würde Gwynth Mutter verlieren, weil er ja schuld an ihrem Tod war. Aber er könnte sagen, dass sie kurz gegangen und nie wieder zurückgekehrt sei. Salinda bekam eine Gänsehaut. Langsam ging sie zwischen die Regale und stellte fest, dass das Archiv unheimlich groß war. „Dragenia muss schon sehr lange existieren“, dachte Salinda ehrfürchtig. „Oder die Könige waren nur sehr sorgfältig.“ „Bist du neu hier?“ Salinda fuhr, zu Tode erschreckt, herum. Sie erblickte einen Jungen, der vielleicht drei Jahre älter war als sie. Er trug ein in Fetzen hängendes Hemd, das ihm viel zu groß war. Auch seine Gestalt flößte Salinda Angst ein. Er war dünn wie eine Bohnenstange. Er wäre vielleicht sogar hübsch gewesen, wenn sein Gesicht nicht so knochig gewesen wäre, und auch an den Schultern standen die Knochen erschreckend weit heraus. Salinda nickte. Der Junge lachte. „Tut mir leid, dich so erschreckt zu haben“, sagte er. Das nette Lachen machte ihn gleich sympatischer. „Ist

 

schon gut“, sagte Salinda und lächelte. Der Junge musterte sie. „Was macht ein Mädchen wie du hier?“, wollte er wissen. „Das wüsste ich auch gern“, erwiderte Salinda. „Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, kann ich dir helfen – du kannst die Akten sortieren“, sagte der Junge. Salinda sah sich um. „Wie lange?“, fragte sie. „So lange, wie du hier bleiben musst. Ich schlage vor, du verlierst keine Zeit“, sagte er. „Wie lange muss ich hier bleiben?“, fragte sie weiter. „Hör mal, Kleine. Ich bin schon seit Monden hier unten und keiner hat mich bisher geholt. Diese Frage beantwortest du dir lieber selbst.“ Salinda schluckte. „Aber das würde mein Vater niemals…“ Der Junge sah sie mitleidig an. "Dein Vater also. Also wenn ein Vater seine Tochter hier abgibt, kannst du davon ausgehen, dass du ihn nicht interessierst. Es tut mir leid, aber soviel Wahrheit muss sein.“ Salinda nickte leicht. „Mein Vater konnte mich noch nie leiden“, sagte sie leise. Dann sah sie auf. „Muss ich hier verhungern?“, fragte sie klagend. Der Junge schüttelte den Kopf. „Alle drei Tage kommt jemand hier runter und gibt

 

uns etwas zu Essen. Es ist nicht viel, aber zum Ãœberleben reicht es. Wie heißt du?“, fragte er. „Salinda“, antwortete sie. „Ich bin Yanish“, sagte der Junge und lächelte. „Schön dich kennenzulernen, Yanish“, sagte Salinda und lächelte. „Mir geht es genauso. Weißt du, es war ziemlich einsam hier“, sagte Yanish. „Warum bist du hier?“, wollte Salinda wissen. „Meine Eltern sind vor einem Jahr gestorben. Ich bin betteln gegangen, aber irgendwann hat mich ein Sklavenhändler eingefangen und mich an den König verkauft. Der König hat mich hier eingesetzt. Es hätte mich schlimmer treffen können“, erzählte Yanish. „Das mit deinen Eltern tut mir leid“, sagte Salinda. Yanish lächelte. „Komm. Ich glaube, wir fangen lieber gleich an“, sagte er.

*

Salinda freundete sich mit Yanish immer mehr an. Sie redeten viel, während sie die Aufzeichnungen längst verstorbener Könige nach dem Datum ordneten. So fand Salinda auch heraus, dass

 

Dragenia seit genau fünftausend und fünfhundert Jahren existierte. Etliche Könige hatten ihre Stammbäume aufgezeichnet und diese vielen Dokumente verrieten, dass die Königinnen und Könige tatsächlich immer noch von selbem Blut waren wie der erste König. Salinda grinste, als sie an die Worte ihres Vaters – ihres leiblichen Vaters – dachte, der gesagt hatte, dass sie die Kunst des Lesens eines Tages noch brauchen würde. Yanishs Künste im Lesen und Schreiben umfasste nur ein paar Buchstaben. Umso mehr freute er sich darüber, dass Salinda im Lesen sehr sicher war. Sie räumten die Regale aus und begannen, die alten Aufzeichnungen nach dem Datum zu sortieren. Salinda wusste nicht, wie lange sie mit den Aufzeichnungen der königlichen Familie beschäftigt waren. Sie verlor jedes Zeitgefühl, denn die Fackeln an den Wänden brannten immer und gleichmäßig. Salinda bekam keinen Sonnenstrahl und kein Mondlicht zu sehen und sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht schon Wochen hier unten saß. Was war wohl mit ihrer Mutter? Saß sie jetzt in

 

einem Sessel und weinte um ihre Tochter, die laut Gwynth tot und verschollen war? Oder hatte Gwynth ihr das alles ausgeredet? Ob Mutter sich überhaupt um sie, Salinda, sorgen würde? Vielleicht war sie sogar froh. Diese Gedanken ließen Salinda nicht los. Aber noch mehr quälte sie der Gedanke an Windschwinge. Wo war er nur? Ging es ihm gut? Salinda hoffte, betete, dass Gwynth ihn nicht aus dem Weg geschafft hatte. Vielleicht war Windschwinge vor Schreck in die Berge geflogen und fror nun in einem dichten Schneetreiben? Vielleicht war er einem größeren Raubvogel zum Opfer gefallen. Salinda schob die Gedanken beiseite, so schwer es auch war. Als sie endlich mit den Stammbäumen fertig war, widmete sie sich alten Forschungen und stöberte in alten Experiment-Aufschrieben. Dabei entdeckte sie eine alte, knarrende Holztür. Sie schob sie langsam auf. Dort fand sie ein altes Arbeitszimmer, das im Laufe der Zeit sehr zerfallen war. Die Balken, die wohl Steinbrocken aufhalten sollten, waren zum Teil heruntergebrochen. In den Ecken hatten Spinnen

 

vermutlich vor Jahrhunderten schon ihre Netze gesponnen. Modder hatte den alten Schreibtisch zerfressen und das, was wohl einst ein Teppich gewesen war, war als solcher nicht mehr zu erkennen.

 

Kapitel III

„Große Götter“, murmelte Yanish, als Salinda ihm das Arbeitszimmer zeigte. „Wie alt mag es wohl sein?“, fragte Salinda. „Sehr alt“, erwiderte Yanish. Er sah Salinda an. „Hast du hier etwas wichtiges gefunden?“, fragte er. Salinda nickte. „Eine Truhe. Aber der Deckel ist so schwer. Ich kriege ihn nicht auf“, sagte sie und zeigte auf eine kupferne Truhe, die in der Ecke stand. Yanish ging näher und sah sich die Truhe an. „Sie ist nicht verschlossen“, stellte er fest und versuchte, sie zu öffnen. Tatsächlich gelang ihm das. Er stemmte die Truhe auf und sah hinein. Salinda lief zu ihm. „Ein altes Buch“, sagte Yanish enttäuscht. „Wahnsinn! Und das in einem Archiv“, sagte Salinda und lachte. Yanish grinste. „Scheint mit ein altes Tagebuch zu sein“, sagte Salinda leise, als sie das alte Buch in die Hand nahm und las. „Man darf nicht in fremden Tagebüchern lesen“, meinte Yanish. Salinda sah genervt auf. „Meinst du, uns wird hier unten jemand daran hindern?“, fragte sie. Yanish grinste.

 

„Nein, ich glaube nicht“, sagte er. Gemeinsam blätterten sie. Sie fanden heraus, dass es das Tagebuch eines Forschers war. Die Seiten waren alle schlicht und einfach, bis die beiden Kinder auf eine Seite mit roten Verzierungen stießen. Laut las Salinda vor: „Nach etlichen Tagen der Enttäuschung zeigen meine Forschungen wieder Erfolg. So ist es inzwischen, als würden die Steine zu mir sprechen. Und heute fand ich heraus, was in ein paar Jahrhunderten geschehen wird: Der ruhende Vulkan im Gebirge wird in genau fünfhundert Jahren ausbrechen – bis jetzt wurde der schlafende Berg für ungefährlich und erloschen gehalten. Doch jetzt weiß ich, dass dem nicht so ist. Wenn der Vulkan ausbricht, werden riesige Gesteinssplitter den Palast zerstören und Asche wird Dragenia begraben. Und dann, wenn auch das letzte Leben erstickt ist, wird eine Lawine aus Schlamm und glühendem Gestein Dragenia für alle Zeiten begraben. Zum Glück bin ich da schon lange tot.“ Salinda sah Yanish betreten an. „Wann wurde dieser Eintrag geschrieben?“, wollte Yanish wissen.

 

„Hier steht kein Datum“, sagte Salinda. „Doch, da!“, sagte Yanish und zeigte auf eine winzige Schrift am unteren Seitenrand. "Am fünfhundersten Tage im Jahre fünftausend“, las Salinda. Sie schreckte auf. „Das war…“ Salinda stockte. „Morgen vor fünfhundert Jahren“, beendete Yanish leise. „Meinst du, dass das eintrifft?“, wollte Salinda verängstigt wissen. „Die Forscher früher waren weitaus klüger als die heute. Ja, ich glaube, dass es eintrifft“, sagte Yanish langsam und leise. „Aber Yanish! Morgen sind die Tage unseres Lebens gezählt! Was sollen wir nur tun?“, fragte Salinda. „Da gibt es drei Möglichkeiten. Entweder, wir bringen uns in Sicherheit, oder wir warnen den König, oder wir lassen es bleiben.“ "Ich bin dafür, dass wir den König warnen!“, sagte Salinda. Yanish nickte. „Das erscheint mir sinnvoll. Wir werden den nächsten Diener, der uns das Essen bringt, ansprechen.“

*

Salinda musste sich anstrengen, ihren Blick auf den

 

König zu richten. Der Thronsaal war so wunderschön, dass sie ihren Blick kaum davon abwenden konnte. Als der König sie zum Sprechen aufforderte, ergriff Yanish das Wort. „Mein König, meine Freundin Salinda und ich, wir fanden soeben ein Dokument, dass großes Unheil ankündigt.“ Yanish überreichte dem König das uralte Tagebuch, die Seite mit dem besonderen Eintrag aufgeschlagen. Der König las schweigend die Seite und besah sich dann einige andere Seiten, sowie den Einband. „Hexenwerk“, sagte der König gelassen. „Dragenia, unsere stolze Stadt, blüht seit Jahrtausenden, ich sehe keinen Grund, wieso sich dies ändern sollte.“ Damit gab er Yanish das Buch zurück. „Aber Vater, was, wenn das Tagebuch recht behalten sollte?“ Das vorsichtige, zarte Stimmchen der Prinzessin hallte von den Wänden wider. „Kind, sei gewiss, dass dies nicht geschehen wird“, beruhigte der König seine Tochter. Die Prinzessin schwieg. Yanish und Salinda wurden den Gang zurück ins Archiv geschubst, bis sie schließlich wieder in der Finsternis waren. Umso überraschter 

 

waren sie, als die Tür sich plötzlich erneut öffnete. "Prinzessin!“, rief Yanish überrascht aus. „Psst“, zischte die Prinzessin. „Ich glaube dem Buch. Und ich habe Angst um Dragenia und alles, was hier lebt. Es muss einen Weg geben, das Unglück zu verhindern.“ Salinda machte ein unschlüssiges Gesicht. „Einen Vulkanausbruch verhindern? Aber wie?“, fragte sie. „Ich weiß es nicht. Aber Dragenia kann doch nicht einfach so seinem Schicksal ausgeliefert sein!“ Salinda nickte. „Vielleicht finden wir irgendetwas. Und wenn nicht, dann sollten wir fliehen und so viele Menschen wie möglich warnen“, sagte sie. Die Prinzessin überlegte. „Vor kurzem entdeckte ich einen Gang, den ich jedoch nicht gehen wollte. Nicht allein. Aber es sah fast aus wie ein Labyrinth, denn es gab tausende Wege“, sagte sie. „Wir sollten es probieren“, sagte Salinda. „Wir folgen euch, Prinzessin“, sagte Yanish. Die Prinzessin drehte sich noch einmal um. „Ihr könnt mich Alissa nennen.“

 

Kapitel IV

 Alissa führte sie sicher durch die Regale. Salinda und Yanish folgten dem Mädchen. „Hier. Helft mir!“, sagte Alissa und zog an einem Fackelhalter, der an der Wand befestigt war. Gemeinsam schoben sie die Wand zur Seite. „Genau“, sagte Alissa und betrat den Gang. An der ersten Weggabelung blieben sie jedoch stehen. „Mögen die Götter uns beistehen“, murmelte Alissa. Sabelia lehnte sich gegen eine Wand und seufzte. „Wir werden uns hoffnungslos verlaufen“, sagte sie. Sie lief zu dem einen Eingang und sah bis zur nächsten Ecke. „Salinda! Sieh nur!“, rief Yanish. Salinda drehte sich um. Dort, wo sie sich angelehnt hatte, war Staub gewesen – und darunter stand eine drei. „Hier war bereits jemand! Hier hat jemand notiert, wo es lang geht!“, rief Alissa aus. „Drei?“, fragte Yanish. „Der dritte Eingang“, sagte Salinda und ging zu dem rechten Weg. So ließen sie sich durch das Labyrinth führen, bis sie plötzlich in einen kleinen Raum geführt wurden. „Ich sehe nichts“, sagte 

 

Salinda. „Ich auch nicht“, flüsterte Alissa. „Ein Glück, dass ich immer Licht dabei habe“, sagte Yanish und lachte. Plötzlich wurde es hell. Yanish hielt eine Fackel in der Hand und sah sich um. „Große Götter, steht uns bei!“, rief er aus. Salinda sah sich um und riss die Augen auf. „Was zum…“ Ihre Stimme versagte. „Was ist das?“, fragte Alissa entsetzt. Yanish lief vorsichtig an die Wand. Die Wand sah aus wie ein riesiger Kristall. Gläsern und verschiedenste Farben. Die Kristalle funkelten blau, gelb, grün, violett und rot. Doch das war nicht alles. Das, was darin eingeschlossen war, war viel interessanter. „Sind das… Monster?“, fragte Alissa. „Mir sieht das nach Drachen aus“, meinte Salinda. „Drachen? Aber was tun die hier?“, fragte Yanish. „Sind sie… tot?“, fragte Alissa. Salinda lief an dem Kristall entlang und sah sich die eingeschlossenen Kreaturen genauer an. Sie sah eine Kreatur mit drei Köpfen, Kreaturen mit Flügeln und ohne Flügel, mit Schuppen und Hörnern. „Sie sehen so unversehrt aus. Wie schlafend“, sagte Salinda leise. „Wo kommen sie her? Und wieso sind sie hier?“,

 

fragte Alissa leise. „Ich weiß es nicht.“ „Seht mal!“, rief Yanish und zeigte auf einen Kristall, in dem einer der Drachen schlief. „Er sieht ganz nah aus“, sagte Alissa. „Ob wir ihn befreien können?“, fragte Salinda. „Sei nicht albern“, sagte Yanish. „Lass es uns ausprobieren. Vielleicht weiß er etwas über das Gebirge!“, sagte Salinda. „Und wie?“, fragte Yanish. Salinda sah sich um. „Wir brauchen etwas scharfkantiges“, bemerkte Salinda. „Geniale Idee. Hast du etwas scharfkantiges?“ „Nein.“ „Aber ich!“, rief Alissa. Salinda und Yanish sahen sie überrascht an. Alissa zog einen kleinen, aber scharfen Dolch. „Perfekt“, sagte Salinda und sah zu dem eingeschlossenen Drachen zurück. Alissa trat an den Kristall und hieb mit ihrer ganzen Kraft dagegen. Doch der Säbel rutschte fruchtlos vom Kristall ab und hinterließ nicht einmal einen Kratzer. „Lass mich mal“, sagte Yanish und nahm Alissa den Dolch aus der Hand. Er holte aus und stach zu. Ein ohrenbetäubendes Krachen zerriss die Stille. Ein leises Zischen, ein Knacken… Und dann bildete sich ein Riss von der Stelle, an der Yanish

 

zugestochen hatte, nach oben und nach unten. Mit einem leisen Scherbeln sprang der Kristall auseinander. Obwohl die Kreatur so nahe ausgesehen hatte, war der Kristall doch einige Meter dick gewesen. Der Drache im Inneren des Kristalls reckte sich nun, gähnte und hob den Kopf. Zur Ãœberraschung seiner Befreier war es mit einem Kopf nicht genug. Zwei weitere Köpfe hoben sich und sahen sich um. Der mittlere Kopf sah mit großen, schwarzen Augen auf die Kinder herab. „Seht her, Brüder, unsere Befreier!“, sagte er. Der linke Kopf senkte sich ebenfalls herab. „Soso. Menschen. Haben ihre Meinung geändert. Oder Angst“, sagte er. „Welche Meinung?“, fragte Yanish mutig. Der rechte Kopf sah ebenfalls auf die Kinder hinunter. „Ihr vergesst, dass die Menschlinge bereits Generationen über die Verdammung hinausgewachsen sind“, sagte er. „Wer seid ihr?“, fragte Alissa. „Und warum seid ihr hier?“, wollte Salinda wissen. Der linke Kopf legte sich auf den Boden und betrachtete die Kinder durch seine grünen Augen. „Der mittlere ist Mi, der

 

linke ist Ra, mein Name Ya“, sagte der Drache. Mi senkte seinen Kopf ebenfalls herab und ließ seine Zähne blitzen. „Ihr – ihr habt uns hier eingesperrt“, stieß er hervor. „Wir? Nein, bestimmt nicht!“, rief Salinda. Ya sah auf. „Diese jungen Menschlinge sind nicht an dem Schuld, was vor langer Zeit geschah!“, stellte er richtig. „Was geschah denn vor langer Zeit?“, fragte Yanish. Ya legte den Kopf schief und sah sie eine Zeit lang nachdenklich an. „Ich glaube, diese Menschen sind reinen Herzens.“ „Glauben konntest du schon immer. Beweisen nichts“, erwiderte Ra. „Wir waren vielleicht tausende Jahre eingesperrt. Diese Menschen sind nicht böse“, sagte Ya. Yanish trat vor. „Wir schwören, dass wir nichts im Schilde führen!“, sagte er. Ya nickte gnädig. „Die Menschen vor ein paar tausend Jahren fürchteten, wir könnten ihnen etwas zuleide tun. Ein mächtiger Fluch sperrte unser Volk in diese Kristalle.“ Salinda sah Ya an. „Wir waren es nicht. Und wir haben auch nicht vor, es wieder zu tun!“, sagte sie feierlich. Ya nickte. Alissa räusperte sich. "Seid ihr

 

Drachen?“, fragte sie. Ya nickte. „Ein einst mächtiges Volk, doch nun seht uns an. Allein und verlassen in den Tiefen dieses Gebirges. Seht euch um: Unsere Familie, unsere Freunde, alle sind sie eingesperrt.“ „Nicht mehr lange“, warf Ra ein. Yanish nahm das alte Tagebuch und hielt es Ya unter die Nase. „Was weißt du darüber?“, fragte er. „Kind, meinst du, wir sind allwissend?“, fragte Mi. Ya legte den Kopf schief und sah über die Seite hinweg. „Brüder, die Menschen wissen, was morgen für ein Tag ist“, stellte Ya fest. Salinda runzelte die Stirn. „Nein, wir wissen nichts. Nur, dass Dragenia bedroht ist“, sagte sie. Ya sah zu seinen Brüdern. Dann sah er wieder auf die Kinder herab. „Ihr müsst die Stadt verlassen“, sagte er. „Warum? Stimmt das, was hier steht?“, fragte Yanish. Ya nickte. „Aber es kann doch nicht einfach so enden! Warum geschieht eine solche Katastrophe überhaupt?“, fragte Alissa. „Weil es Zeit wird, die Drachenstadt zurückzuerobern“, sagte Mi unerbittlich. „Die Drachenstadt?“, fragte Salinda. „Dragenia, die stolze Drachenstadt“, nickte

 

Ra. Ya nickte. „Morgen, in der hellsten Stunde des Tages, wird unser Herrscher erwachen und mit ihm unser Volk. Er wird den Schlot des Vulkanes öffnen und den Thron seiner Väter wieder einnehmen“, sagte er gelassen. „Aber die Stadt wird zerstört werden!“, rief Alissa. „Wir werden sie neu erschaffen“, erwiderte Mi gelassen. „Menschen werden sterben!“, sagte Yanish. „Ist das unser Problem?“, fragte Ra mitleidlos. „Wie kann euch das nur so egal sein? Habt ihr kein Herz?“, fragte Salinda. „Nicht für Menschen, wie ich fürchte“, sagte Ya leise. Salinda sah auf den Boden. „Wir sollten keine Zeit verlieren“, sagte sie leise. „Salinda! Willst du unsere schöne Stadt einfach so aufgeben?“, fragte Yanish fassungslos. Salinda sah ihn traurig an. „Es ist nicht unsere Stadt. Nicht mehr.“ „Was? Salinda, willst du diesen schuppigen Monstern einfach so unsere Stadt in die Klauen fallen lassen?“, fragte Yanish entsetzt. „Das sagst ausgerechnet du, der du nicht mehr als ein Hemd besitzt“, gab Salinda leise zurück. Die drei Drachen sahen noch immer wartend auf die Kinder herab.

 

„Ya, Mi, Ra?“, fragte Salinda und sah herauf. „Ich habe noch nie solch wundervolle Geschöpfe wie euch gesehen und ich sehe, dass unser Volk euch eure Heimat weggenommen hat. Ich gehe. Ich hoffe, dass ihr Dragenia wieder zu dem macht, was sie einst war.“ „Salinda, bist du von Sinnen?“, rief Alissa und ihre Stimme überschlug sich. Salinda seufzte. „Es ist doch so. Zu was hat es Dragenia denn gebracht? Ein protziger Palast und ein hungerndes Volk? Lieber werde ich im Wald von wilden Tieren zerrissen. Ya, Mi und Ra haben mir die Augen geöffnet. Selbst wenn Dragenia den morgigen Tag überstehen sollte, so werde ich nie wieder in Frieden dort wohnen können“, sagte sie und machte kehrt.

 

Kapitel V

 „Salinda, warte!“, rief Yanish und hechtete hinter seiner Freundin her. „Was denn?“, fragte Salinda gereizt. „Du kannst nicht einfach so gehen!“, rief Yanish. „Hör auf so zu brüllen! Ich bin nicht schwerhörig!“, rief Salinda zurück.
„Und wie ich gehen kann“, fügte Salinda hinzu. „Was, wenn die Drachen sich dafür entscheiden, die Stadt gleich zu vernichten?“, fragte Yanish besorgt. „Willst du vielleicht hier bleiben und warten, bis die Höhle auf unsere Köpfe fällt?“, fragte Salinda. „Aber wenn du jetzt in die Stadt gehst, könnte dir etwas passieren!“, rief Yanish. „Du sollst endlich leiser sein. Ich kann allein auf mich aufpassen“, sagte Salinda und riss ihren Arm aus Yanishs Umklammerung. Dann lief sie durch das Labyrinth zurück in die Archive. Dort sah sie sich um. Sie fand die Treppe und öffnete die Tür. Sie sah sich um. Kein Wachen, keine Diener. Niemand. Schnell huschte sie durch die nächste Türe und stolperte kurz darauf die lange Treppe hinunter. Frei. Sie war 

 

frei. Sie lief durch die Gassen und wunderte sich. Wo waren die ganzen Leute? Hühner, Schweine und Schafe schienen von der Straße verschwunden zu sein. Sie entdeckte einen Hund unter einer dürftigen Hütte aus zwei Latten, der sie aus ängstlichen Augen anstarrte. Eine Katze hockte in einem leeren Fass. „Was ist denn mit euch los?“, fragte Salinda. „Habt ihr etwa Angst? Aber vor was?“ Sie sah in den Himmel. Die Sonne stand schon hoch. „Moment“, dachte Salinda. „Es kann unmöglich noch der Tag sein, an dem wir den Hinweis fanden – es ist der Tag des Ausbruchs!“ Entsetzt drehte sie sich um. Niemand war ihr gefolgt. Sie mussten hier weg. Umgehend. Aber wo waren die ganzen Leute? Salinda lief weiter durch die Straßen und fand auf dem Stadtplatz das ganze Volk vor. „Es besteht kein Grund zur Panik!“, rief der König, der sich notgedrungen auf den Brunnenrand steigen musste, um über dem Volk zu stehen. Bevor Salinda fragen konnte, was passiert war, gab die Erde selbst ihr die Antwort: Auf einmal bebte der Boden. Die Menschen schrien auf,

 

der König stürzte rücklings in den Brunnen und Salinda musste sich an einem der Fackelhalter festhalten, um auf den Beinen zu bleiben. Dann stand die Erde wieder still. Nur noch das feine Rieseln der Häuser, an denen der Lehm zu brechen begann, war zu hören. „Ich muss Yanish und Alissa suchen“, dachte Salinda und rannte zurück zum Palast. Sie lief die Treppe hinunter in die Archive und lief ins Labyrinth. Auf halben Weg stieß sie auf Yanish und Alissa. Alissa hatte sich ängstlich an Yanish geklammert. „Kommt! Ihr seid hier nicht sicher!“, rief Salinda und zog ihre Freunde mit sich. Als sie gerade auf die Straße traten, tönte ein ohrenbetäubendes Krachen zu ihnen herüber. „Lauft!“, rief Salinda, als sie das Gebirge sah. Dort bildeten sich nämlich Risse um den Gipfel des höchsten Berges. Gerade, als sie Yanish und Alissa folgen wollte, hörte sie ein ihr sehr vertrautes Krächzen. „Windschwinge!“, rief Salinda erfreut und streckte die Arme aus. Windschwinge landete auf ihrem Arm, er atmete heftig und rieb seine Wange an Salindas. „Ich weiß. Ich habe auch

 

Angst. Los“, sagte sie und rannte Alissa und Yanish hinterher, die inzwischen schon fast das Stadttor erreicht hatten. In diesem Augenblick bebte die Erde abermals. Das Stadttor stürzte lautstark zusammen und verperrte den Weg. „Zum anderen Tor!“, rief Alissa. Zum ersten Mal verfluchte sie die starken Stadtmauern, die auch dem Beben standhielten. Sie liefen durch Dragenia und blieben unwillkürlich stehen, als ein weiteres Krachen durch die Luft hallte. Der Vulkan brach aus.

 

Kapitel VI

Das Schreien der Menschen wurde vom Zischen der Lava, die langsam den Berg herunter rann, übertönt. Der Schnee schmolz und ein zäher Schlamm entstand. „Ihr sollt laufen, verdammt!“, schrie Yanish. Salinda nickte und rannte los. Sie erschrak, als ein Haus neben ihr von einem riesigen Brocken, den der Vulkan von sich geschleudert hatte, eingerissen wurde. Windschwinge kreischte und Salinda bekam eine Flügelspitze von ihm ins Gesicht, als er zu flattern begann. Doch Windschwinge vertraute seiner Herrin und blieb trotzdem auf ihrer Schulter sitzen. Salinda rannte schneller als Alissa, weshalb Alissa bald hinten blieb. Salinda drehte sich jedoch um, als Alissa plötzlich aufschrie. Sie war über eine fliehende Ziege gefallen, die plötzlich ihren Weg gekreuzt hatte. Die Ziege meckerte aufgeregt und rannte weiter. Alissa rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Sie blieb jedoch wieder stehen, als Glas am anderen Ende der Stadt splitterte. Salinda schüttelte 

 

traurig den Kopf. „Vergiss den Palast, Alissa. Denk an dich!“, rief sie und zog Alissa weiter mit sich. Das andere Stadttor stand noch. „Was ist?“, rief Salinda. „Warum bleibst du stehen?“ Yanish sah Salinda an. „Diese ganzen Menschen da drin werden hier nicht lebend rauskommen. Wir müssen zu den Drachen. Noch ein letztes Mal. Wir müssen um Gnade flehen. Die Kammer, in der sie waren, wird auch nicht einstürzen“, sagte Yanish. Salinda drehte sich um. Die Häuser, die eingestürzt waren, boten einen jämmerlichen Anblick. „Zurück? Bist du von Sinnen?“, fragte Salinda. „Vielleicht“, antwortete Yanish. „Ich glaube, er hat recht“, sagte Alissa. Salinda schluckte. „Na gut.“ Sie sah zu Windschwinge. „Warte auf mich. Und pass auf dich auf. Ich komme wieder“, sagte sie und kraulte ihn ein letztes Mal. Windschwinge flatterte auf das Stadttor und sah aus weisen, stolzen Augen auf sie herab. Salinda winkte noch ein letztes Mal. „Gut. Los!“, rief sie und wendete sich um. Inzwischen regnete vom Himmel Asche und die Straßen und Häuser waren bereits zentimeterdick begraben. Das

 

Laufen war schwierig, die Asche glühte teilweise noch und bald waren die Kinder mit Brandwunden übersäht. Endlich erreichten sie den Palast. Doch die gläserne Kuppel war von einem Steinbrocken eingeschlagen worden und die feinen Glassplitter bedeckten zusammen mit den Ascheteilchen den roten Teppich. Die Kinder liefen hinunter in die Archive und fanden die wertvollen, uralten Bücher auf dem Boden vor. Die Regale waren kaputt und zersplittert. Erde war von der Decke heruntergebrochen, feine Risse zeigten sich im Stein am Boden. Sie liefen zum Labyrinth und rannten hindurch. Die Risse im Stein waren zentimeterbreit und Dämpfe quollen aus dem Boden. Endlich erreichten Alissa, Salinda und Yanish die Drachenhöhle. Sie blieben entsetzt stehen. Mindestens zwanzig riesige Drachen versammelten sich um eine gläserne Kugel, die von vier Farben durchtränkt war. Der größte Drache musste der Anführer sein. Er hatte nur einen Kopf und vier Beine, einen Schwanz und zwei Flügel, sogar Haare hatte er. Die Haare waren schwarz,

 

seine Schnauze lang, seine Zähne golden und spitz, seine Flügel braun und rot, sein Körper war grün, sein Kopf grau.  Er war wunderschön. Ya, Mi und Ra waren auch bei den vielen Drachen. Die Kristalle waren alle gesplittert und geborsten, die Drachen waren wieder frei. Obwohl sie keinen Laut von sich gegeben hatten, drehte Ya sich auf einmal um. Er flüsterte kurz mit seinen Brüdern, dann drehten sie sich um und trotteten auf die Menschenkinder zu. „Kleine Menschen, ihr seid hartnäckig“, stellte Ya gutmütig fest. „Wir wollen nicht sterben“, klagte Salinda. „Oh, wir wollten auch nicht sterben“, meinte Mi und lachte leise. „Seid ihr denn gestorben?“, fragte Alissa. Einen Moment schwieg Ya verdutzt. „Nein. Aber die Menschen hätten es fast geschafft“, erwiderte er schließlich. „Aber nur fast“, warf Yanish ein. „Bitte, Ya! Bitte lasst Dragenia in Ruhe!“, bat Alissa. Ya schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist so bestimmt. Wir Drachen haben unseren Platz in Dragenia – in der Drachenstadt“, sagte er. „Aber was ist mit uns?“, fragte Yanish. „Euer Schicksal

 

erwartet euch. Geht, Kinder“, sagte Mi unerbittlich. „So große Wesen und so wenig Herz!“, klagte Salinda. Ya, Mi und Ra blinzelten sich einen Augenblick lang an. Dann gaben sie ein pfeifendes Geräusch von sich, das wohl ein Seufzen darstellen sollte. „Seht es so – unsere Brüder sind fest entschlossen, Dragenia wieder zu besetzen“, sagte Ra. „Können wir es uns nicht teilen?“, fragte Alissa. Ya seufzte. Dann drehten die drei Drachen sich um. Einen Moment fürchtete Salinda, sie könnten einfach gehen, doch dann sagte Ya: „Los, steigt auf.“ Salinda, Alissa und Yanish sahen sich einen Augenblick lang überrascht an, dann kletterten sie auf den massigen Körper und rutschten auf die drei langen Hälse. Ya, Mi und Ra liefen zurück zu den anderen Drachen. Der Anführer sah entsetzt auf. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte er mit mächtiger Stimme. „Myridol, ich glaube, es wird Zeit, Frieden zu schließen“, sagte Mi. "Zwischen uns und den Menschen? Unmöglich“, sagte Myridol. „Oh doch. Schließ den Schlot.“ Ya’s Stimme duldete keinen

 

Widerspruch. Myridols Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen, als er auf die leuchtende Kugel starrte. „Es ist unsere Stadt. Und unsere Verantwortung“, sagte er leise. Plötzlich bäumte er sich auf und schlug mit der Pranke die prächtige Kugel von ihrem Sockel. Klirrend splitterte sie auf dem feinen Boden und zersprang in tausende und abertausende Scherben. „Wir danken dir, Myridol!“, rief Salinda. Sie rutschte von Ya’s Hals und sah dem Drachen in die eigentlich gutmütigen, grünen Augen. „Ihr habt recht gehabt, Menschenkinder. Und nun geht in die Stadt und sucht nach Ãœberlebenden.“ Alissa, Salinda und Yanish nickten und liefen durch das Labyrinth davon. Es musste wohl weitere Beben gegeben haben, denn sie mussten im Labyrinth und im Archiv über riesige Felsbrocken klettern. Auch der Palast war sehr zerstört. Einer der vier Türme war umgestürzt und hatte einige Häuser eingerissen, auch ein Stück der Stadtmauer. Ein Blick auf den Vulkan genügte. Es regnete noch immer Asche, doch die Lava war auf dem Berg abgekühlt und der

 

Vulkan rauchte nur noch. Einige Flammenteufel leckten noch an den Häusern. Trümmer lagen auf den Straßen, die durch die viele Asche kaum zugänglich waren. Katzen, Hunde, Ziegen, Schafe, Hühner, Gänse, Kühe und Pferde lagen auf der Straße, erstickt an Dämpfen oder an den dicken Wolken aus Staub, erschlagen von Gesteinsbrocken, zugedeckt von Asche. Alissa, Yanish und Salinda trennten sich. Salinda hatte als einzigste noch ein zu Hause aufzusuchen, Yanish und Alissa wollten das Volk beruhigen und vorallem den König suchen. Salinda lief zu ihrem Haus. Es stand noch. Die Brocken und die Beben hatten es wohl verschont. Salinda nahm ihren ganzen Mut zusammen und betrat das Haus. Asche war durch den Eingang und durch die Fenster geweht worden und lag auch hier dick auf dem Boden. Kleinere Steine hatten das Dachen eingeschlagen und Asche rieselte leise herein. Salinda durchsuchte kurz eine Schublade und zog ein Tuch hervor und band es sich vor den Mund und die Nase. Ihre Augen brannten und ihre Zunge

 

war trocken. Sie fand einige der Hühner ihrer Mutter im kleinen Garten, die teilweise sogar noch lebten, allerdings durch die Türe in das Haus flitzten und dort sofort an der Asche erstickten. Der schweflige Geruch in der Luft sorgte bald dafür, dass Salinda schwindlig wurde. Langsam schleppte sie sich in das nächste Stockwerk, wo sie die Türe in ihr kleines Zimmerchen aufstieß. Dort ließ sie sich in ihr Bett fallen. Da die Kammer keine Fenster besaß, war keine Asche eingedrungen. Ein paar Augenblick verharrte Salinda, bis ihre Gedanken wieder klarer wurden. Dann ging sie wieder hinaus und sah sich um. Sie zuckte zusammen, als sie auf dem Boden einen mit Asche bedeckten Körper sah, den sie vorher wohl übersehen hatte. Langsam ging sie näher und sah ihn genauer an. Er war zu kräftig gebaut, um von ihrer Mutter zu stammen. Gwynth schien sich im betrunkenen Zustand dafür entschieden zu haben, seinen Rausch auf dem Boden auszuschlafen. „Ich habe ja immer gesagt, dass es ihn irgendwann umbringt“, murmelte Salinda. „Wenn ich allerdings

 

behauptet hätte, dass er so ein krasses Ende findet, hätte ich mir selbst nicht geglaubt.“ Sie setzte sich neben den Leichnam ihres Stiefvaters und dachte an ihre gemeinsame Zeit zurück. Sie wartete auf Tränen, die sie angesichts seines Todes hätte vergießen müssen, doch sie wartete vergeblich. Seufzend erhob sie sich wieder und verließ ihr Haus. Es war zerstört. Plötzlich dachte sie an Windschwinge. Wo war er? Hatte er auf sie gewartet? Lebte er noch? Schnell rannte Salinda los.

 

Kapitel VII

Als Salinda das Stadttor erreichte, hätte sie heulen mögen. Kein erfreutes Kreischen, kein Flügelschlagen. Kein leichter Druck der Krallen auf ihrer Schulter, keine weichen Federn, die sie kraulen sollte. Hatte Windschwinge sich in Sicherheit gebracht?  War er tot? Salinda lief durch das Tor und hielt nach einem Kadaver Ausschau. Sie fand nichts. Sie atmete tief durch. „Bestimmt ist er noch am Leben. Bestimmt kommt er wieder“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. „Ach Yanish“, sagte Salinda mit tränenerstickter Stimme. „Was, wenn nicht?“ „Salinda. Er war nur ein Vogel“, sagte Yanish. „Und der beste Freund, den ich je hatte.“ Yanish seufzte. „Er kommt wieder. Ich verspreche es dir“, sagte er. Salinda fuhr herum. „Was kannst du schon versprechen?“, fauchte sie. „Du bist nicht allmächtig, du kannst gar nichts versprechen.“ Mit diesen Worten lief sie durch die Gassen davon. Sie stolperte fast über die Leiche eines alten Mannes und hätte beinahe eine verwirrte

 

Katze überrannt. Und plötzlich fing sie etwas auf. „Mutter?“, fragte Salinda leise und sah auf. „Ja, Salinda. Ich hatte solche Angst um dich!“, sagte die junge Frau. Salinda ließ ihren Tränen freien Lauf. Tränen der Angst, Tränen der Erleichterung, Tränen der Verzweiflung, Tränen der Trauer und Tränen der Freude flossen ineinander und sie brachte nur ein hilfloses Schluchzen hervor. „Es ist alles gut, Liebling“, sagte Mutter. „Nichts ist gut“, schluchzte Salinda. „Weine nicht, Menschenkind.“ Salinda fuhr herum. Hinter ihr stand Myridol und nickte mit dem Kopf. Seine goldenen Zähne blitzten auf, als er lächelte. „Mutter? Das ist mein neuer Freund Myridol. Er hat uns gerettet“, sagte Salinda und fiel Myridol um den Hals.

*

Die Drachen hatten ihre Höhle verlassen und die Menschen hatten sich in die Höhle der Drachen begeben, um dort Zuflucht zu finden. Sie waren verängstigt und trauerten um Angehörige. Die Drachen machten sich währenddessen daran, die

 

Trümmer von den Straßen zu räumen. Die mit Flügeln schafften die großen Felsbrocken fort und die anderen kehrten mit ihren haarigen Schwänzen die Straßen. Salinda trat an diesem Morgen auf die Straße und hielt Ausschau nach Windschwinge. „Wahre Freunde kehren wieder“, sagte Myridol tröstend. „Aber was, wenn er tot ist?“, fragte Salinda leise und wischte sich eine Träne von der Wange. „Hast du seinen Körper gefunden? Nein. Es gibt keine Anzeichen für sein Ableben. Glaube deinem Herzen, nicht deinen Augen“, sagte Myridol. Salinda atmete tief durch und schluckte ihre Tränen hinunter. Dann nickte sie tapfer. „Danke.“

*

Salinda ging zu dem Stadttor, an dem sie Windschwinge das letzte Mal gesehen hatte. Sie setzte sich vor die Mauer und wartete. Die Sonne erreichte ihren höchsten Stand und wanderte weiter, dem Horizont entgegen. Es dämmerte, doch Salinda

 

rührte sich nicht. Als die Sonne dann fast verschwunden war, sah Salinda auf. Ein leises Krächzen war da gewesen. War es ein Spatz? Eine Krähe, eine Elster? Ein anderer Falke? Oder gar Windschwinge? Salinda stand langsam auf. Am Himmel zeichnete sich eine zarte Gestalt mit Flügeln ab. Einer der Drachen? Ein anderer Vogel? „Windschwinge!“, rief Salinda. Und da war es. Das ihr so vertraute Krächzen. "Windschwinge!“, rief sie noch einmal. Und dann war sie sich sicher. Es war Windschwinge, ihr bester Freund und treuester Gefährte. Der Falke setzte elegant zum Sturzflug an und landete auf Salindas Schulter. „Windschwinge“, flüsterte Salinda noch einmal, zu froh, um lauter zu reden. Leise vor sich hin gackernd forderte Windschwinge seine Streicheleinheiten ein und trocknete mit seinen weichen Federn Salindas Freudentränen. „Und nun komm“, sagte Salinda und lachte. „Jetzt kann ich wieder in Dragenia, der Stadt der Drachen, wohnen.“

http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811201.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811202.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811203.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811204.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811205.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811206.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811207.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811208.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811209.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811210.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811211.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811212.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811213.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811214.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811215.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811216.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811217.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811218.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811219.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811220.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811221.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811222.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811223.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811224.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811225.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811226.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811227.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811231.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811232.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811233.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811234.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811240.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811241.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811242.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811243.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811244.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811245.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811246.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811247.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811248.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811249.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811250.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811251.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_811252.png
0

Hörbuch

Über den Autor

Selene
Naja - was wohl? Ich schreibe schon sehr lange. Ich glaube, mein erstes Buch - naja, Geschichte - habe ich im Kindergarten geschrieben, bzw. schreiben lassen. Da ich hier und in der Umgebung kaum Zuhörer fand, habe ich es über's Internet probiert. Und ich hoffe, dass ich hier den einen oder anderen finden kann, der meine Geschichten gerne liest.
Ich schreibe fast immer Fantasy, weil ich schon zu sehr in der Realität lebe ;-)

Leser-Statistik
27

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

76938
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung