Fantasy & Horror
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 6; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

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"Die Gebrochene Welt I (Kapitel 6; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals"
Veröffentlicht am 18. August 2012, 34 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 6; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

Die Gebrochene Welt I (Kapitel 6; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

Beschreibung

Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de

Von Helden und Verrätern (Teil I)

50. Grünwalden. 52 n.V.
Doch zu Lucians Abreise sollte es nicht mehr kommen, da noch in derselben Nacht ein Bote die Tore erreichte und die Nachricht vom Fall Baskats überbrachte, einem Dorf westlich von Galor, das dessen letzten Außenposten dargestellt hatte.
Denjenigen, die ihre Sinne nicht mit Alkohol und Dunkelkraut vernebeln mussten, um die Realität zu ertragen, wurde recht schnell klar, dass die Zeit der Feste und Feiern nun endgültig vorbei war.
Die Orks kamen und mit ihnen eine schwarze Wolke der Angst, die sich wie ein Totenschleier auf die Gemüter der Menschen legte.
Plötzlich war jedes Ringen um Individualität verklungen, von Hass wurde nicht mehr gesprochen, sogar das Gerücht, de Nord stecke hinter der Zerstörung der Schiffe verflog ebenso schnell, wie es aufgekommen war.
Farruk ließ sich drei Tage lang vertreten, bevor er wieder auf die Bildfläche, um von Ehre und Würde zu reden, als hätte ihn ein Blitz getroffen.
Binnen einer Woche wurde der Plan einer zentralverwalteten Armee Galors in die Tat umgesetzt und plötzlich durfte sich, sogar mit Farruks Zustimmung, Herzog Jean Montierre Hochgeneral von Galor nennen.
Ging man abends durch die Straßen Galors, so traf man keine betrunkenen Adligen mehr, keine pöbelnden Jugendlichen, keine Rassisten, die sich von den gegenüberliegenden Straßenseiten her verspotteten. Vor den Häusern lehrten Veteranen Jünglinge das Kämpfen, nagelten Handwerker Fenster mit Brettern zu, schnitzten betagte Männer Speere, webten Weiber Wamse.

An einem warmen Spätsommerabend blickten Jean Montierre und Prinzessin Filiana vom Balkon der xendorischen Botschaft auf ein geschäftiges Viertel hinab.
„Wir haben es geschafft. Die acht Nationen sind sich einmal einig“, schwärmte Filiana, wobei sie sich tief in ihren Bastsessel sinken ließ.
„Ja, ich denke, wir werden einen guten Kampf geben“, stimmte Montierre zu, „doch gewinnen werden wir ihn wahrscheinlich nicht.“
„Müssen wir das denn?“, fragte die Prinzessin, „Es ist schon amüsant: Die Verräter, oder wer auch immer die Schiffe angezündet hat, dachten ganz sicher nicht, dass sie damit das erreichen würden.“
„Nein, wahrlich nicht“, lachte der Herzog, „Hätte ich wetten müssen, ich hätte mein ganzes Vermögen darauf gesetzt, dass nach der Zerstörung der Schiffe hier der Bürgerkrieg ausbricht.“
„Und de Nord gelyncht wird“, fügte Filiana hinzu, „Aber stattdessen wird er plötzlich verehrt.“
„Er wusste die ganze Zeit über, dass er sterben würde, und danach hat er gehandelt. Jetzt, wo allen klar wird, dass sie wahrscheinlich nicht mehr allzu lange leben werden, begreifen sie sein Handeln. Jetzt gibt es nur noch die Ehre zu retten, wie er immer sagte.“
„Ihr sprecht wahrlich so, als gäbe es nicht den Hauch einer Siegeschance für Galor.“
„Es tut mir leid, wenn ich Euch enttäuschen muss, Prinzessin, aber den gibt es auch nicht“, dementierte Jean, „Ja, Galor mag stark sein und randvoll mit Menschen, die bis an ihr Ende kämpfen würden - vor allem natürlich, weil sie gar keine andere Wahl haben - aber uns steht ein gewaltiges Heer gegenüber, das bereits einen ganzen Kontinent überrannt hat, und wir wissen noch nicht einmal, wer es anführt. Aber wir wissen, dass sie Schwarzmagier und wahrscheinlich noch Schlimmeres auf ihrer Seite haben. Von einem Sieg auszugehen, wäre arrogant.“
„Es gibt also keine Hoffnung?“, fragte Filiana.
„Ich fürchte, nicht“, gab der Herzog zurück, während ein Page auf den Balkon trat.
„Eure Hoheit, verzeiht, dass ich störe, doch der Marquis de Nord verlangt eine Audienz beim Hohen Rat. Er besteht darauf, ihn binnen einer Stunde einzuberufen.“
„Seit wann befiehlt ein Marquis de Nord dem Rat, was er zu tun hat?“
„Er sprach davon, eine Lösung gefunden zu haben“, erklärte der Laufbursche.
„Eine Lösung wofür?“, erkundigte sich Filiana.
„Das wollte er nicht sagen.“
„Nicht? Lasst ihm ausrichten, dass ich bereit bin, ihn anzuhören“, gab sie zurück.
„Ich ebenfalls“, fügte Montierre hinzu.

Da Farruk sein Einverständnis bereits gegeben hatte, kam es tatsächlich dazu, dass der Hohe Rat Galors den Marquis binnen einer Stunde im marmornen Audienzsaal des Stadtpalastes empfing. Aus drei goldenen Thronen blickten sie auf den galanten Adligen in seinem dunklen Samtjackett hinab.
„Seid gegrüßt, Marquis Lucian de Nord“, begann Prinzessin Filiana, worauf ihr Gegenüber eine leichte Verbeugung andeutete.
„Ich nehme an, Ihr habt den Rat nicht ohne Grund einberufen?“, fuhr der Herzog fort.
„Ihr verspracht mir eine Lösung für unsere Probleme. Eine Fluchtmöglichkeit von diesem Kontinent!“, donnerte Farruk.
„Dann wisst Ihr mehr als ich“, gestand Montierre.
„Das habe ich in der Tat“, sagte de Nord.
„Moment“, unterbrach die Prinzessin, „Die Lösung, von der Ihr spracht, betrifft den Sieg Galors?“
„Ich sprach von Flucht, nicht von Sieg“, korrigierte Lucian.
„Gleichviel!“, rief der Kalif, „Wie lauten Eure Pläne, Marquis? Geraderaus damit!“
„Nun, ich sollte vielleicht zunächst anmerken, dass es sich bei meinen Plänen nicht um ein sicheres Unterfangen handelt. Es ist keine greifbare Lösung; nichts, das man ohne Anstrengung erreichen könnte; keine göttliche Intervention; ein Himmelfahrtkommando im besten Sinne.“
„Ich bitte Euch, Marquis, kommt zum Punkt“, unterbrach die Prinzessin.
„Wie Ihr wünscht“, entgegnete der Marquis, „Als ich in der vergangenen Woche die Truppenberichte vom Beginn der Invasion durchstöberte, um genauere Angaben zu den Waffen unserer Feinde zu finden, stieß ich auf einen interessanten Vermerk. Die Orks nutzten für ihre Seeblockade hauptsächliche kleinere Galeeren und Schiffe, die sie von den Menschen erbeutet hatten. Ihre Landetruppen kamen jedoch mit gewaltigen Segelschiffen nach Fiondral, die bis zum Ende der Aufzeichnungen noch bei den Landezonen vor der Ostküste lagen. Die Orks sind primitiv. Den Beschreibungen, die den Aufzeichnungen beilagen, konnte ich entnehmen, dass fünf Männer ausreichen, um ein solches Schiff zu segeln. Wenn man dabei Magier einsetzt, ist es sogar mit einer deutlich geringeren Anzahl machbar. Auf der anderen Seite sind die Schiffe jedoch so groß, dass es möglich sein sollte, ganz Galor mit drei von ihnen zu evakuieren.
Mein Plan sieht also folgender Maßen aus:
Ihr unterstellt fünfundvierzig Soldaten, die besten Männer und Frauen Galors, meinem Befehl und ich garantiere dafür, bei meiner Ehre, dass diese Schiffe in den Hafen dieser Stadt einlaufen werden.“
Der Wind wehte sanft durch den Saal, die untergehende, blutrote Sonne warf ihre letzten Strahlen durch seine Fenster und brachte den weißen Marmor zum Glänzen. Farruk grinste wie ein Kind, Montierre neigte den Kopf, die Prinzessin taxierte de Nord nachdenklich.
„Euch ist klar, dass zwischen Galor und der Ostküste Fiondrals tausende Meilen Feindesland liegen?“, fragte sie.
„Selbst mir ist der Fall Fiondrals nicht entgangen“, spottete de Nord, „Aber unsere letzten Kundschafter berichten, dass die Hauptstreitmacht der Orks bereits weiter vorgerückt ist. Mein erster Schritt bestünde darin, den Tunnel wieder ausheben zu lassen, um durch ihn hinter die feindlichen Linien zu gelangen. Dort würden wir uns in drei Gruppen aufteilen, die, aus nur fünfzehn Personen bestehend, hinter den feindlichen Linien kaum auffallen sollten.
Ihr vergesst, dass Fiondrals Weiten keine orkische Festung sind. Hinter der feindlichen Hauptstreitmacht liegt verwüstetes Land, besiegte Städte und Dörfer, deren Bewohner zu jedem loyal sind, der ihnen eine Klinge an die Kehle hält. Wir werden dort keinen Heerscharen von Orks und Verrätern gegenüberstehen. Ein paar Jägern vielleicht. Wer weiß, ob es überhaupt zum Kampf kommt.“
„Die Mondgöttin sei gepriesen!“, keuchte Farruk, „Vergesst all meinen Spott über Euch, Marquis! Ihr seid brillant!“
„Brauchen wir denn nicht jeden Krieger hier in Galor?“, zweifelte Filiana.
„Also, ich denke, fünfundvierzig sind zu entbehren, wo diese Stadt doch mehrere tausend Einwohner hat“, erwiderte Montierre.
„Aber Ihr seid euch sicher, Marquis, dass drei Schiffe ausreichen werden?“, fragte Farruk.
„Nun, die Schiffe werden nicht vor den Orks hier sein. Sie werden reichen, wenn ich die Verluste richtig kalkuliert habe.“
„Verluste?“, ächzte die Prinzessin.
„Während ich für die Rettung sorge“, sprach Lucian, „ist es Aufgabe des Rates, dafür zu sorgen, dass noch etwas da ist, das man retten kann. Haltet diese Stadt, bis ich zurück bin!“
„Wir sollten vielleicht erst über Euren Vorschlag abstimmen, bevor wir uns Gedanken darum machen, wer was verteidigt“, wandte sie ein.
„Meinen Segen habt Ihr, de Nord“, verkündete der Kalif, „Und ich hoffe, auch den aller Menschen und aller Götter.“
„Ich weiß nicht“, widersprach Filiana, „Sollen wir wirklich unsere besten Männer opfern? Können wir Galor nicht halten, die Orks zurückschlagen? Das alles erscheint mir zu wage, zu wage. Nein, ich kann dem nicht zustimmen.“
„Und Ihr, Herzog?“, wandte sich de Nord an Montierre.
„Setzt diesem Plan noch eine vierte Gruppe hinzu, die die Orks aus dem Hinterhalt sabotiert, und Ihr habt meine Stimme, Marquis.“
„Das sollte sich einrichten lassen“, bestätigte Lucian.
„Exzellent!“, klatschte Farruk, „Betrachtet Euren Plan als bewilligt!“
„Wohlan denn“, rief de Nord, „Veranlasst, dass die Anführer der acht Nationen mir ihre besten Männer zur Verfügung stellen! Wenn wir nach Vorschlag des Herzogs noch drei Saboteure hinzufügen, sind das sechs Streiter aus jeder Nation. Ich verlange, dass es sich bei einem Fünftel der gesamten Truppe um Magier handelt!“
„Ich werde dafür sorgen, Marquis“, versprach Jean Montierre.
„Und ich kümmere mich um den Tunnel. Er wird bei Eurer Abreise wieder begehbar sein. Verlasst Euch darauf“, fügte Farruk hinzu.
Darauf verbeugte sich de Nord erneut kaum merkbar und zog sich zurück.

Eine weitere Wendung der Stimmung hinter den Mauern Galors blieb jedoch aus.
Obwohl Späher vermeldeten, dass das orkische Heer einige Meilen vor Galor gestoppt hatte und nichts auf einen Angriff schließen ließ, und de Nord bereits ihre Rettung pries, wich der Totenschleier der Furcht nicht von den Gesichtern der Bürger. Es wurde wenig geredet, nicht mehr gefeiert. Oft gab man illegale Güter freiwillig zurück. Der Schwarzmarkt erlebte seine schwärzesten Stunden.
Die Messen waren gefüllt und abends hallten die Gebete der Mondkultisten lauter gen Himmel als je zuvor.
Misstrauen starrte aus jedem Augenpaar, waren die Verräter, die hinter der Zerstörung der Schiffe steckten, doch immer noch nicht gefunden worden.
Alle Hoffnung und aller Glaube konnten nicht darüber hinwegtrösten, dass achtundvierzig Bürgern Galors in den nächsten Tagen Todesbotschaften ausgestellt wurden.
Ferren, den man nach dem Aufdecken des Thanatoikerrings und seinen zahlreichen Lädierungen vorläufig beurlaubt hatte, saß auf seinem Balkon, starrte die sandsteinernen Fassaden an und trank ein Bier, während der Himmel milchig grau, verhangen von Wolken das Sommerende ankündigte. Eine angehnehme Kälte lag über der Stadt, welche die Erinnerungen an die quälende Schwüle der vergangenen Tage verblassen ließ.
Während er einen weiteren Schluck aus seinem Bierkrug nahm, ertönte ein Klopfen an der Tür seiner Behausung.
Langsam, wenn gleich auch etwas verwundert, erhob er sich, um durch die Dunkelheit des Zimmers zum Eingang zu schreiten. Dort legte er seine Rechte auf den Griff seines Kurzschwerts und öffnete  die Tür nur einen kleinen Spalt.
„Leg das Schwert weg. Ich bin’s, Raham“, schallte es durch den Spalt.
Mit einem kurzen Blick versicherte sich Ferren, dass die besagte Person tatsächlich vor der Tür stand, bevor er öffnete.
„Du wirst langsam paranoid“, entgegnete Raham, während er eintrat und sein Gastgeber sich in Richtung des Balkons zurückzog.
„Die Verräter wurden noch nicht gefasst und haben einen begründeten Hass auf mich.“
„Die Verräter zu fassen, gestaltet sich als schwierig“, merkte der Hauptmann der Wache an, „Besonders, wenn man niemandem vertrauen kann. Ich bin immer noch dabei unsere Reihen von den ehemaligen Sympathisanten Blaeks zu säubern.“
„Was suchst du dann bei mir?“
„Gar nichts…abgesehen von dir selbst natürlich.“
„So?“
„Ja“, gestand Raham, wobei er die Arme hängen ließ, „Schlechte Neuigkeiten…sofern du an deinem Leben hängst.“
„Was zum…“, keuchte Ferren, während sein Freund ihm einen Brief übergab, dessen Wachssiegel das Wappen Delions zierte.
„Von Kapitän Lagon höchst persönlich“, erklärte der Hauptmann.
„Du weißt aber, was drin steht?“
„Ein Versetzungsbefehl zu einem Spähtrupp, die Galor verlassen wird.“
„Die Rettungsmission?“
„Jeder, mit dem ich darüber sprach, nannte es Himmelfahrtskommando“, gestand Raham.
„Scheiße“, ächzte Ferren, „Und womit habe ich das verdient?“
„Mit deinen außerordentlichen Leistungen bei der Aushebung des Thanatoikerrings.“
„Man sagt also, dass niemand von dieser Mission zurückkommen wird?“, fragte der Leutnant langsam.
„Nein es…die meisten nehmen es mit Fassung.“
„Aber sie glauben nicht, dass sie überleben werden?“
„Sie glauben bestimmt daran. Es ist nur…“
„Lüg mich nicht an!“, blaffte Ferren, „Sag mir: Gibt es in dieser Stadt irgendwen, der das hier“, er wedelte mit dem Brief vor der Nase seines Kameraden herum, „nicht für ein Todesurteil hält?“
„Ja, den gibt es“, antwortete Raham betreten, „Lucian de Nord.“
„De Nord…ich, ich muss…ich muss mit…weißt du, ob Ariona noch in dem Keller wohnt?“
„Das fragst du mich? Ich dachte du wüsstest…“
„Ach, verdammt!“, blaffte Ferren, sprang auf, knallte die Tür zu und ließ den Hauptmann allein zurück.
„Er hätte mir wenigstens sagen können, wo der Schlüssel für die Tür ist“, sagte Raham, während er sich kopfschüttelnd umsah.

Ferren rannte, dass neben ihm Häuserfassenden und Zierbäume zu einer verwischten Mixtur aus Sandbraun und Laubgrün verschmolzen, rannte, dass es sich anfühlte als würden seine Schienbeine aus den Gelenken springen, dass seine Füße wie weiße Glut brannten, als er schließlich vor dem Eingang des Wohnkellers stand.
Keuchend lehnte er sich gegen die Mauer neben der Tür, während sein Herz schmerzend in seiner Brust schlug.
Eine einziges Wort formte sich auf seinen Lippen: „Warum?“
Erneut hatte er das Gefühl, von sich selbst ausgetrickst zu werden, sich seinem eigenen Willen zu widersetzen.
Seine Hand öffnete die Tür, seine schmerzenden Füße trugen ihn die Treppe hinunter.
Als er den Wohnkeller erreichte, fuhr ihm ein eisiger Wind entgegen. Die Nischen waren allesamt leer, die Kohle im Ofen verglüht, aus geöffneten Schränken und Schubladen glotze ihn die Leere an.
Nichts und niemand war mehr an diesem Ort.
Ächzend schlug Ferren mit der blanken Faust gegen die rohe Steinwand, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Als er sich umdrehte, entdeckte er jedoch den einzige Gegenstand, den man nicht aus den Nischen entfernt hatte.
Ein vereinsamter, lederner Ranzen lehnte an der kniehohen Mauer, die den Eingang flankierte. Der Leutnant beugte sich zu ihm hinunter, um mit seiner Linken über die ledernen Riemen zu streichen.
Er wollte ihn gerade öffnen, als eine Stimme von der Treppe her erschallte:
„Hallo? Ist da jemand?“
Ferren brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, wessen Stimme es war.
„Ariona?“, rief er zurück, während seine Gesichtszüge sich entspannten.
„Ferren? Bist du das?“, fragte sie, während bereits Schritte auf der steinernen Treppe ertönte. Wenig später erreichte sie das Ende und betrat den Kellerraum, wo der Leutnant noch auf sie wartete.
„Ferren, was machst du hier?“
„Ich…muss mit dir reden“, begann er, während sich Brennen aus seiner Haut ausbreitete, gegen das die Schmerzen in seinen Schienbeinen geradezu lächerlich waren. Den Brief zu zücken, kam einer unerträglichen Qual gleich.
„Weißt du, was das ist?“, fragte er langsam.
„Ich kann’s mir denken“, gab sie zurück, „Ich habe auch einen bekommen?“
„Was?“
Der Leutnant keuchte. Aus dem Feuer war eisige Kälte geworden.
Langsam fuhr Ariona fort:
„Sie sagen, es sei der Tod.“
„Wenn…wenn niemand daran glauben würde, dass wir es schaffen können, dann hätten sie uns nicht losgeschickt.“
„Nein“, lachte Ariona spöttisch, „der Rat hat nur eingewilligt, weil er hofft, dass wir ihn retten können. Glauben tun sie es nicht. Nur ein Fanatiker könnte daran glauben, dass die Rettung Galors möglich ist.“
„De Nord.“
„Ja, genau.“
„Aber du wirst einwilligen?“, wollte Ferren wissen.
„Hast du den Brief überhaupt schon gelesen? Das ist keine Frage, sondern ein Befehl. Na ja, ob ich hier sterbe oder da draußen, was macht das schon für einen Unterschied?“
„Was ist wenn wir uns weigern?“, schlug Ferren vor.
„Schlechte Idee. Das wäre Befehlsverweigerung, dafür sperrt man uns bestenfalls ein. Sollte die Verweigerung jedoch gegen de Nord gelten, werden wir wahrscheinlich auch noch hingerichtet“, zischte Ariona.
„Tot also?“, fragte der Leutnant mit einem bitteren Lächeln.
„Ja“, stimmte Ariona heftig nickend zu, „Ich glaube, ich werde zum Strand gehen. Bevor ich sterbe, will ich noch einmal feiern, noch einmal trinken, tanzen…“
„Ich fürchte, daraus wird nichts“, entgegnete Ferren leise, „Am Strand ist nichts mehr los. Wenn du Menschenmassen suchst, solltest du in die Kirchen gehen.“
„Die Kirchen…“, Ariona lachte spöttisch, bevor sie sich wieder direkt Ferren zuwandte, „Hat nicht jeder Offizier noch eine Flasche guten Weins in seinem Gemach, für schlechte Zeiten?“
„Mag sein“, lächelte Ferren.
„Wollen wir deine nicht öffnen? Eine bessere Gelegenheit wirst du nicht mehr bekommen.“
„Die Flasche, was…ja…ja, warum nicht“, stotterte der Leutnant, worauf ihn Ariona an der Hand nahm und aus dem Keller führte.

 Tage später saßen beide in ziemlicher Ernüchterung in einem Aufenthaltsraum des ehemaligen Thanatoikergebäudes, wo Ferren gerade seine neuen stählernen Armschienen festzurrte. Der Rat Galors hatte alle Streiter, die der Rettungsmission angehörten, mit der besten Ausrüstung ausstatten lassen, die sich in der Stadt hatte finden lassen. Daher besaß der Leutnant nun eine äußerst komfortable, braune Lederrüstung, die an Schlüsselstellen, wie dem Brustbereich, Schultern, Unterarmen und Oberschenkeln mit leichten Metallplatten verstärkt war.
Außerdem war es ihm nun vergönnt, ein Schwert zu führen, das seine alte, schartige Klinge in Härte, Balance und Schärfe um einen geradezu unnennbar großen Wert übertraf.
Ariona hingegen hatte man mit einer hellgrauen Robe aus Diamantfaden ausgestattet, der etwa die Härte eines stählernen Kettenhemds, jedoch das Gewicht normalen Stoffes besaß.
„Jetzt ist es also so weit“, murmelte Ferren, während ein gänzlich schwarz gekleideter Mann an der Tür vorbei schlurfte.
Es handelte sich um eine der drei Personen, die sich selbst Assassinen nannten, und den Auftrag besaßen, hinter den feindlichen Linien größtmöglichen Schaden an Soldaten und Kriegsgerät zu verursachen. Ferren hatte allerdings bisher nur zwei von ihnen gesehen, da der dritte, wie man sagte, nie seinen Tarnanzug ablegte.
Außer den Assassinen gehörten noch eine ganze Menge anderer Leute dem Stoßtrupp an. Da waren bullige Krieger aus Skatria, der hünenhafte Olaf aus Delion, einige Kampfmönche des Erlöserglaubens, ledrianische Edelmänner, nogronische Meuchelmörder, iskatische Magier, serpendrianische Ritter, weitere delionische Marinesoldaten, elipfische Wüstenkämpfer, xendorische Bogenschützten.
Ferren starrte auf die glänzende Klinge seines Schwertes und betrachtete die verzerrte Spieglung seines Gesichts, als plötzlich eine Stimme vom Eingang her erschallte. Dort war ein junger Mönch in brauner Robe erschienen, der jegliches Haar von seinem Kopf geschoren hatte.
„Entschuldigt“, sagte er, „Ich bin Bruder Janus und eigentlich nur hier, um den Segen des Erlösers über meine Gefährten zu sprechen.“
„Das ist freundlich“, gab der Leutnant zurück.
„Glaubt Ihr wirklich, dass es irgendwo, eine allmächtige Person gibt, die gerade uns retten will?“, entgegnete Ariona scharf.
„Lasst das besser nicht die Iurionisten hören“, lachte Janus freundlich, „Sonst seid Ihr schneller Euren Kopf los, als Ihr es glaubt.“
Noch während er sprach, trat ein weiterer Mann an, der jedoch um einiges älter war, als Janus, was man an seiner zerzausten, dunkelgrauen Haarmähne und dem gleichfarbigen Vollbart gut erkennen konnte.
Tiefe Furchen gruben sich durch sein Gesicht und dennoch wirkte er in seiner eisenbeschlagenen Fellrüstung weitaus rüstiger, als die meisten Kämpfer, die Ferren bisher gesehen hatte.
„Major Dragan“, grüßte der Mönch.
„De Nord will alle unten im Hauptsaal sehen. Es geht los“, knurrte der Alte, bevor er wieder davonstapfte.
„Wir sind schon unterwegs“, gab der Mönch zurück, worauf auch Ferren und Ariona sich erhoben, um den beiden Männern ins Erdgeschoss zu folgen, wo ein mächtiger Menschenstrom in den großen Saal am Ende des Flurs flutete.
Dort stand hocherhoben auf einem Stapel hölzerner Kisten, wo ihn alle sehen konnten, Marquis Lucian de Nord, der sein elegantes Samtjackett gegen eine nicht weniger gutaussehende, nachtschwarze Lederrüstung getauscht hatte, die von einem filigranen, silbernen Metallgeflecht geziert wurde. Über dieser trug er den königsblauen Wappenrock Ledrias sowie einen gleichfarbigen, bodenlagen Umhang.
Den meisten Krieger, die Lucian sahen, klappte die Kinnlade herunter und ihre Gesichter erstarrten zu ungläubigen Fratzen.
Zunächst war Ferren nicht klar, welchen Grund dies hatte, bis er selbst erkannte, dass es sich bei dem Leder, aus dem die Rüstung des Marquis gefertigt war, nicht um die Haut irgendeines Tieres sondern um die eines schwarzen Drachen handelte.
Die Drachen Kalatars waren jedoch bereits vor etlichen Generationen vertrieben oder gänzlich ausgerottet worden.
Die schiere Gier auf die Zähne, Hörner, Klauen, Herzen und Haut dieser majestätischen Geschöpfe hatte tausende Menschen dazu gebracht, den tödlichen Kampf mit ihnen aufzunehmen.
Wenige waren mit reicher Beute zurückgekehrt, aus der man anschließend eine Reihe mächtiger Artefakte gefertigt hatte, zu denen auch mehrere Drachenhautrüstungen gehörten.
Obgleich nahezu unzerstörbar, waren die meisten von ihnen mit der Zeit verloren gegangen, sodass sich nur noch wenige in den Händen hochrangiger Männer befanden, bei denen es sich meist um  Mitglieder von Herrscherfamilien handelte.
„Drachenhaut“, keuchte jemand leise.
„Ich habe in Brogalon an der Seite des Marquis gekämpft“, berichtete ein älterer Mann, „Ich sage euch, keine Klinge kann diesen Mann verletzen.“
„Wenn jeder von uns so eine Rüstung hätte, hätten wir die Orks schon an der Ostküste ins Meer zurückgetrieben“, wandte ein anderer ein, bevor Tymaleaux, der neben de Nord stand, sich mittlerweile von seinen Wunden erholt hatte und ebenfalls den ledrianischen Wappenrock sowie eine leichte, silberne Rüstung trug, das Wort ergriff.
„Ruhe, Soldaten! Der Marquis hat euch etwas zu sagen“, blaffte er, worauf die Worte und das staunende Keuchen langsam verhallten.
„Habt Dank“, gab der Marquis zurück, „Ich gestehe, überrascht zu sein. Ja, ich bin tatsächlich überrascht, dass ein jeder von euch heute hier steht. Ihr seid tatsächlich hier, obwohl man euch eure Befehle ausstellte wie Todesurteile, obwohl euch die Priester eure Sterbesakramente schon verlesen haben, obwohl man euch da draußen schon als Todgeweihte bezeichnet und letztlich obwohl ihr selbst aus tiefstem Herzen wisst, dass sie Recht haben.
Ja, es mag sein, dass eure Tage auf dieser Welt gezählt sind, dass jeder Schritt nach Osten ein Spatenstich mehr zu eurem Grab ist, und doch werdet ihr jeden dieser Schritte gehen, ohne dass auch nur ein Hauch von Zweifel in euren Gesichtern geschrieben steht, denn euch erwartet mehr, als dieses Leben je einem Menschen zu bieten vermochte.
Ich verspreche euch die Ewigkeit!
Wenn ihr einst vor dem Herrn steht, so wird er euch nicht fragen, wer ihr seid oder was ihr getan habt; er wird euch mit tosenden Posaunen empfangen, denn euer Ruhm wird euch bis ins Himmelreich vorauseilen, und noch in tausenden Jahren wird man auf Kalatar eure Namen preisen und den Kinder von den Bergen Skatrias bis zu den sonnigen Weiten Xendoras und den delionischen Inseln von euren Heldentaten erzählen!
Und ja, man wird von uns berichten, denn wir werden dafür sorgen, dass die letzten ehrenhaften Menschen Fiondrals den Orks entkommen können.
Wir mögen sterben, aber ich weiß, dass wir nicht scheitern werden!
Hebt eure Waffen, Streiter Galors! Hebt eure Waffen auf Galor, auf den Sieg, auf die Ewigkeit!“
„Auf die Ewigkeit!“, hallte es ihm aus siebenundvierzig Kehlen entgegnen, während Speere, Bögen, Schwerter, Schilde und Äxte in die Höhe stießen und plötzlich war es unbedeutend, dass keiner an ihren Erfolg geglaubte hatte, denn de Nord glaubte daran, mit einer Reinheit und Eindringlichkeit, dass in diesem Moment niemand an der Wahrheit seiner Worte zweifeln konnte.
„Truppenführer!“, rief Tymaleaux, nachdem der Jubel abgeklungen war, „Sammelt eure Verbände! Major Dragan, Ihr übernehmt die Vorhut!“
So gingen sie los, mit Leichtigkeit, mit lachenden Gesichtern, mit stolzgeschwellter Brust.
„Jetzt zeigen wir’s den Orks!“, lachte einer der Nogroner.
„Ja, denen schlagen wir ihre hohlen Fressen ein!“, stimmte ein Skatrier zu.
„Mund halten und in Formation bleiben!“, befahl ein ledrianischer Offizier, während sich die Menge in den Keller und den schmalen Tunnel schob. Dort jedoch wandelte sich die wabernde Meute zu einer militärisch organisierten Formation, denen einige Späher voran gingen.
Danach folgte ein Trupp skatrischer Nahkämpfer, dahinter de Nord mit seinen ledrianischen Landsleuten und ihnen dicht auf den Fersen der gesamte Rest. Der Tunnel schien endlos, ein schwarzer Schlund, in den sie ohne Widerwillen hinabstiegen, und doch schien es Ferren, als würde er durch Wasser waten, während die Schwärze den Keller hinter ihm verschluckte.
So traten sie die Reise an, eingezwängt zwischen rohen Felsmauern, den Ellbogen ihrer Kameraden und der allumfassenden Finsternis, gegen die ihre Pechfackeln einen aussichtslosen Kampf fochten.
Er ging mittlerweile dem hünenhaften Fährtenleser Olaf hinterher, dessen rote Haarmähne wenigsten ein bisschen Farbe in das triste Halbdunkel brachte.
Ariona befand sich währenddessen bei ihren iskatischen Landsleuten.
Der Gang wollte nicht enden, und als seine Füße schon in seinen Stiefeln brannten, funkelte ihnen immer noch kein Licht entgegen.
Langsam kam finsteres Gemurmel auf, das von den Offizieren mit zischenden Befehlen in die Stille zurückgepeitscht wurde.
Dann endlich wurde das Kommando durch die Reihen geflüstert wurde, die Fackeln zu löschen, sich ruhig zu verhalten und die Waffen zu ziehen.
Kurz darauf wurde verlautet, anzuhalten, und so verbrachten sie eine lange Zeit in der Dunkelheit.
Wasser tropfte, Schritte entfernten sich, verhallten. Stille weitete ihre Herrschaft aus, bis schließlich mit einem leisen Klicken die Schritte zurückkehrten. Irgendwo weiter vorne wurde gemurmelt, schließlich wagte man es, den Marschbefehl zu rufen, worauf sich der gesamte Zug wieder in Bewegung setzte.
Langsam ging es voran, das Glitzern am Ende des Ganges wurde zu einem Funkeln, einem kleinen Licht, schließlich zu einem grell, blendenden Strahlen, das sie zwang, ihre Augen zu schließen.
Blind stolperten sie eine unsaubere Steintreppe hinauf.

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Hörbuch

Über den Autor

Crawley
Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will?
Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.

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