Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de
„Ich“, begann Lucian mit schneidender Stimme, „nehme nicht an, dass ich dir befehlen muss, das auf der Stelle zu revidieren.“
„Das werde ich nicht“, erwiderte der Herzog.
„Narr! Ich will gar nicht wissen, was diese Hexe in deinen Schädel gepflanzt hat, aber ich weiß, dass ich diese Wendung nicht akzeptieren kann und dass dir das klar war! Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich in eine derart lächerliche Lage bringst.“
„Lächerlich?“
„Für gewöhnlich ist es lächerlich, eine derart wichtige Aussage innerhalb weniger Minuten wieder zu revidieren.“
„Ich fürchte, du hast mich nicht verstanden. Ich werde gar nichts zurücknehmen!“, fauchte der Herzog, worauf Lucian ihn am Kragen packte und gegen die Wand schmetterte.
„Oh doch, das wirst du! Denn du stehst nur hier, weil ich es so will! Solltest du etwa vergessen haben, dass ich den höheren Platz in der Hierarchie belege, Herzog Jean Montierre, dessen Besitz man nicht einmal auf der Landkarte findet?
„Ich fürchte, Ihr irrt, Marquis de Nord.“
„Willst du mich verspotten, Jean! Durch meine Adern fließt königliches Blut, ich bin der Prinz von…“
„Schön. Wenn du das bist, dann gehe da raus und sag es den Leuten. Sag ihnen, wer du bist und dass du ab heute die Geschicke der Ledrianer verwaltest! Ich halte dich nicht auf.“
„Du…“, stockte Lucian.
„Ich war lange genug deine Marionette. Aber du vergisst, dass der Puppenspieler ohne sein Instrument eine Niete ist! Du kämst nicht mal aus diesem Saal raus, würdest du aus dem Schatten träten.“
„Es ist“, begann de Nord mit einem gelassenen Lächeln, „geradezu arrogant, zu glauben, mich übertrumpfen, gar austricksen zu können. Mit deiner Entscheidung änderst du nichts, Jean, denn du vergisst, welche Soldaten deine Befehle ausführen sollen. Du vergisst, wem die Loyalität der Ledrianer gebührt. Wenn du die Besetzung des Hafens aufheben willst, nur zu. Der sehr geschätzte Major Tymaleaux hat Befehl, in diesem Fall alle Schiffe sofort verbrennen zu lassen. Du solltest einsehen, dass du nicht gewinnen kannst. Gib dich geschlagen, ich bin bereit, zu verzeihen. Revidiere, was du gesagt hast, und alles ist vergeben!“
„So weit würdest du gehen? So blind bist du geworden? Ach, ich vergaß: So blind bist du immer schon gewesen!“
„Es ist stets amüsant, wenn die Blinden die Sehenden blind schimpfen, Herzog. Ich gebe dir als Freund den Rat: Denk darüber nach, aus welchem Grund du handelst, und dann sage mir noch einmal, dass ich blind bin.“
„Mag sein, dass Gottes heiliges Prinzip nicht mehr das einzige meines Handelns ist, aber mein Herz sagt mir, dass dein Weg falsch ist, und so sehr irren kann ich mich nicht!“
„Das Herz…schwach!“, zischte Lucian, „Aber mag es sein, was es will. Du vergisst, dass du nicht triumphieren kannst, denn, was rechtschaffen ist, wird niemals fallen!“
Mit diesen Worten drehte sich der Marquis unter einem Wirbeln seines königsblauen Umhangs um und stürmte zur Tür.
„Wenn du versuchst, den Ball zu verlassen, werden die Xendor dich aufhalten!“, rief der Herzog ihm nach.
„Das ändert gar nichts. Es zögert das Unvermeidbare allerhöchstens etwas hinaus.“
„Ist dir eigentlich nicht klar, dass du, wenn du die Schiffe verbrennst auch den Wehrlosen ihre Fluchtmöglichkeit nimmst?“
„Es geht nicht darum, dass ich sie verbrennen will, sondern dass ich sie verbrennen könnte. Solange sie in meiner Hand sind, habe ich den entscheidenden Trumpf in diesem Spiel und ich werde ihn einsetzten, auf dass diese Schiffe keinen einzigen kampffähigen Feigling von diesem Kontinent schaffen, dafür aber so viele Wehrlose wie möglich. Ebenso, wie wir es geplant hatten.“
„Wenn deswegen in Galor der Bürgerkrieg ausbricht, rettest du niemanden! Und glaub mir, er wird ausbrechen, wenn du meine Lösung blockieren solltest. Lucian, wir sind Iurions Auserwählte, es ist unsere Aufgabe, diesen Konflikt zu lösen und zwar ohne dabei das Blut etlicher Unschuldiger zu vergießen.“
„Das Blut, das vergossen würde, wäre nicht das Blut Unschuldiger. Es wäre…“, begann de Nord, bevor ein ledrianischer Unteroffizier in den Gang durch die Tür platzte.
„Ich hoffe, dafür gibt es eine Erklärung“, zischte der Marquis ihn an.
„Ja, edler Herr“, gab der Unteroffizier zurück, „Ein Angriff im delionischen Viertel! Die Orks sind durch den Tunnel gekommen.“
„Die Orks?“, keuchte Lucian, „Ich werde sofort zum Hafen reiten und den Delioner mit meinen Truppen zur Hilfe kommen.“
„Sollten wir nicht…“, begann der Herzog, doch der Marquis unterbrach ihn:
„Du bleibst hier! Ich werde mich schon darum kümmern. Und sollte irgendeiner dieser erbärmlichen Xendor auch nur daran denken, mich aufzuhalten, schlage ich ihm eigenhändig den Kopf ab!“
Mit diesen Worten verließ Lucian gefolgt vom Unteroffizier den Gang und trat in den Ballsaal, wo die ausgelassene Stimmung davon kündete, dass der Angriff noch nicht öffentlich gemacht worden war.
Die Treppen zur Eingangshalle hechtete er hinunter, ließ die fragenden Gäste dort unbehelligt stehen, eilte zu den Ställen, wo sein Pferd bereits gesattelt stand. Sekunden später galoppierte er den Hügel hinab und durchquerte das Viertel der Xendor.
Im Hafen konsultierte er seinen Untergeben Tymaleaux, der sofort alle verfügbaren Truppen mobilisierte, sodass die Docks beinahe unbesetzt zurückblieben, während de Nord mit seinen Soldaten zum delionischen Viertel zog.
Am Brückenübergang erwartete ihn bereits Olaf, der eine recht lange, aber nicht tiefe Schnittwunde auf seiner rechten Wange und Blutspritzer auf seinem Wappenrock hatte, zusammen mit einer großen Gruppe Soldaten, die scheinbar aus allen Distrikten der Stadt stammten.
„Ich hörte von einem Angriff und verlange sofort einen Bericht!“, rief de Nord, der auf jeglichen Gruß verzichtete.
„Sir, der Stollen da unten, er…wurde von der anderen Seite durchbrochen und Orks, sie strömten in die Katakomben. Wir konnten sie aber aufhalten und den Tunnel sprengen. Gefahr besteht keine mehr.“
„Es besteht keine Gefahr mehr...“, murmelte der Marquis, „Handelte es sich um einen größeren Angriff?“
„Ähm, nein“, antwortete Olaf, „Es war eher ein Spähtrupp.“
„Das ergibt, bei Iurion, keinen Sinn“, zischte Lucian, „Wozu gräbt man einen Tunnel, um dann einen Spähtrupp statt eines Regiment hindurch zu schicken, das den Feind auf jeden Fall erledigt?“ er wandte sich an zwei Soldaten, die neben ihm standen, „Woher kommt ihr?“
„Wir hatten unseren Wachposten in dem kleinen Turm am Südende der Promenade, bevor wir abgezogen wurden. Aber einer hält dort noch die Stellung.“
„Ich habe beinahe alle Truppen aus dem Hafen abgezogen“, keuchte de Nord, wobei er sich zitternd an die Stirn fasste, „Wir sollten beten, dass es sich bei dem Angriff nicht um eine Ablenkung handelt! Alle Mann sofort wieder auf ihre Posten!“
Noch bevor er geendet hatte, erschallte bereits von irgendwoher der Ruf: „Feuer im Hafen!“
Im Ballsaal wurde nicht mehr getanzt, die Musik des Orchesters war verstummt und nur ein unterschwelliges, düsteres Gemurmel beherrschte die Halle. Ratlose Fragen drangen durch die Luft, die Aufregung knisterte geradezu.
„Ist de Nord dafür verantwortlich?“, blaffte Farruk, der neben dem Herzog stand.
„Ich hoffe nicht“, murmelte dieser, worauf er sich zum Balkon auf der Südseite des Palastes begab. Dort war es so voll, dass er sich nur unter Einsatz seiner Ellbogen bis zur Brüstung vorkämpfen konnten.
Im Hafen oberhalb des perlschwarzen Spiegels, den das Meer zu dieser Stunde bildete, tanzten in graziler Schönheiten drei Feuerbälle auf den Wellen. Die letzte Hoffnung Galors, ein Haufen Asche, den bald schon der unbarmherzige Ozean verschlingen würde.
Tränen prasselten auf den Stein der Brüstung, verständnislose Schreie zerrissen die Luft.
„Ich habe genug gesehen“, verkündete er, worauf er sich umdrehte und sich seinen Weg zurück zum Eingang bahnte.
Wenig später trafen er und Farruk im Hafenviertel auf de Nord, der gerade mit seinen Truppen zurückkehrte.
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Promenade erreichten, von wo aus sie gerade noch mit ansehen konnten, wie das Meer die letzten brennenden Balken verschluckte. Um selbst im Falle eines Angriffs auf den Hafen sicher zu sein, hatte Lucian die Schiffe ein Stück davor auf See ankern lassen.
„Es ist mir unbegreiflich, wie jemand die Schiffe anzünden konnte. Selbst die übrigen Wachen hätten ihn aufhalten müssen!“, keuchte er.
„Vielleicht sollten sie ja niemanden aufhalten“, stichelte Farruk, „Vielleicht seid Ihr ja dafür verantwortlich.“
„Seid versichert, wäre ich das, hätte ich es aus Stolz zuvor angekündigt!“, entgegnete der Marquis, bevor er sich an einen der ledrianischen Soldaten wandte, „Wo ist Tymaleaux? Ich will ihn sofort sprechen.“
„Ich weiß es nicht, Sire. Als ich ihn das letzte Mal sah, wollte er hier runter, zur Promenade“, antwortete der Soldat.
„Hier…hier bin ich“, ein Keuchen ertönte, und als sich alle dem Pier zuwandten, von dem es kam, war eine einzelne dunkle Gestalt zu erkennen, die sich von dem schwarzen Horizont absetzte. Tymaleaux wankte über den steinernen Pier. Zwei Pfeile steckten in seiner Schulter und Blut tränkte sein dunkelblaues Samtjackett mehr, als es die Weinflecken je getan hatten.
„Verdammt, Tymaleaux!“, keuchte de Nord, worauf er diesem entgegeneilte, um ihn zu stützten. Wie ein nasser Sack stürzte er in die Arme des Marquis, während einige Soldaten herbeieilten, um zu helfen.
„Sag mir, mein Freund, was ist geschehen?“, fragte Lucian, nachdem auch Montierre und Farruk näher herangekommen waren.
„Mehrere Männer...kamen aus dem Nichts. Schwarze Kapuzen…konnte Gesichter nicht erkennen. Haben die Wachen getötet…waren schnell. Haben mich…auch erwischt…konnte sie nicht aufhalten. Verzeiht, Eure Hoheit“, ächzte der Angeschossene.
„Alles ist vergeben, Freund. Bringt ihn sofort zu einem Heiler!“, befahl de Nord.
Während man den verwundeten Tymaleaux fortschaffte, wandte sich der Marquis den Blick zum Boden und flüsterte: „Schwärze. Ein letztes Glühen erlischt. Sie werden alle versinken. Herr, sei ihren Seelen gnädig.“
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Montierre.
„Ich muss gestehen, ich fürchte, in dieser Stadt keinen einzigen Freund mehr zu haben. Schon gar nicht jetzt. Ich werde morgen noch zur Front abreisen. Hier gibt es für mich nichts mehr zu retten“, sagte der Marquis, bevor er sich abwandte.
„Du willst nach Baskat?“, keuchte der Herzog.
„Ihr lauft vor Eurer Schuld davon!“, spottete der Kalif.
„Selbst wenn ich mir etwas hätte zuschulden kommen lassen, wäre es sinnlos davor zu fliehen, würde es mich doch spätestens mit meinem Tod einholen, und allzu lange wird wohl keiner von uns mehr leben“, sprach Lucian, bevor er sich abwandte und ging.
„Ist das sein Werk?“, fragte Farruk den Herzog.
„Das wage ich, zu bezweifeln“, entgegnete dieser, während er sich einem Unteroffizier zudrehte, „Gebt den Männern den Befehl zum Abrücken! Die Blockade des Hafens ist aufgehoben.“