Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de
49. Grünwalden. 52 n.V.
In Galor verliefen die nächsten Tage ruhig. Während das Haus mit dem halbfertigen Tunnel von einem Regiment delionischer Soldaten besetzt wurde, der Hafen weiterhin unter Kontrolle der Ledrianer blieb und de Nord als großer Held gefeiert wurde, begannen die Vorbereitungen für den Ball im Stadtpalast, der Hand in Hand mit einigen öffentlichen Festen in allen Distrikten ablaufen sollte, da ein Platz im Palast nur der gehobenen Gesellschaft vorbehalten war.
Nach dem Meister, jener ominösen Person, die die Thanatoiker Kelrayass genannt hatten, fragte niemand mehr, denn Ariona und die beiden Leutnants zogen es vor, sich in den nächsten Tagen von den zurückliegenden Strapazen zu erholen.
Während Ferren noch in einem magischen Hospital der Iskaten lag, wurde Raham zum neuen Hauptmann der Wache befördert, dessen erste Amtshandlung darin bestand, die Suche nach Ilar fortzusetzten, um die ganze Geschichte der Verschwörung endlich zu beenden.
Blaek und Ysil schlug man auf dem Platz vor der ledrianischen Botschaft feierlich die Köpfe ab.
Gleichzeitig wurden von allen Seiten und Nationen her die Rufe nach einer zentral verwalteten Armee Galors laut, da die einzelnen Nationen bislang eher autonom handelten, wenn man von ihrer Verbindung durch den Rat absah. Prinzessin Filiana stellte sich jedoch dagegen, da sie, nach eigener Aussage, befürchtete, die Vergabe der Ämter könnte den Konflikt zwischen den Oppositionsstaaten und den Alten Königreichen weiter anheizen.
So kam schließlich der Tag des Balls, ohne dass es weitere Zwischenfälle gab.
Gegen Abend fanden sich die gutbetuchten Kreise Galors im Stadtpalast ein, jenem festungsartigen, gewaltigen Gebäude aus dunkelbraunem, glänzenden Stein, welches auf dem Nordhügel über der Stadt thronte. Zwei rundliche Ausläufer, die an kleine Türme erinnerten flankierten das große Eingangstor, über dem die Banner der acht Nationen Kalatars prangerten.
Als Herzog Montierre den Nordhügel mit seiner Eskorte ledrianischer Soldaten erreichte, schloss ein Reiter zu ihnen auf, den er bald als seinen engsten Vertrauten de Nord erkannte.
„Guten Abend, Marquis“, grüßte er.
„Seid ebenfalls gegrüßt, Herzog“, gab Lucian zurück, während die Gardisten ihren Ring um Montierre etwas erweiterten, sodass der Marquis sein Pferd in gemächlichem Schritt neben ihm führen konnte.
„Man munkelt“, fuhr er leise fort, „dass heute, was die Schiffe anbelangt, eine Entscheidung verkündet wird. Ich nehme doch an, diese Entscheidung wird nur eine Bestätigung unserer Position sein?“
„Das wird sie sein“, bestätigte Jean eilig, „Im Übrigen beglückwünsche ich Euch zu Euren Heldentaten, Marquis.“
„Habt Dank, Herzog. Dennoch tat ich nichts, was von mir nicht zu erwarten gewesen wäre“, entgegnete Lucian, „Entschuldigt mich, aber ich muss noch einige Wachen für den heutigen Abend instruieren.“
„Tut das. Wir wären sonst alle sehr um unsere Sicherheit besorgt“, stimmte Montierre zu, bevor der Marquis sich wieder von der Gruppe entfernte und sein Pferd die steile Straße zum Nordhügel hinauftraben ließ.
Am Eingang des Palastes erwarteten den Herzog einige Wachen der Xendor in ihren goldverzierten Rüstungen, die ihn jedoch einließen, ohne seine Einladung sehen zu wollen. Einigen weniger bekannten Adligen aus Nogron, die kurz nach ihm eintrafen, erging es jedoch anders.
Die gewaltige, mit glasierten Ziegeln ausgelegte Eingangshalle verlief einmal komplett durch den Palast und bildete somit den Weg zu den dahinterliegenden Gärten. Eine steinerne Treppe auf der linken Seite führte in die oberen Etagen, in die sich jedoch erst wenige Leute begaben, weshalb ein Großteil der Gäste sich noch im Atrium ballte, wo einige Kellner Wein und Kaviar verteilten. Kaum hatte er die Halle betreten, löste sich ein Mann in glänzendem, azurblauem Kaftan aus der Menge und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
„Montierre, mein Freund!“, rief Farruk mit breitem Lächeln auf dem Gesicht, „Darf ich hoffen, dass in Eurem Herzen doch noch das Gute gesiegt hat?“
„Hoffen darf man immer“, gab der Herzog zurück, wobei er dem Kalifen brüderlich auf die Schulter klopfte.
Dann ließ er seinen Blick über die Menge schweifen, um jenes schlitzförmige, giftgrüne Augenpaar zu suchen. Dort stand er: Lucian de Nord, ihm abgewandt, mit einigen Serpendrianern plaudernd.
Montierre senkte seine Stimme:
„Wenn mich nichts aufhält, werdet Ihr bekommen, was Ihr wolltet.“
„Das…“, Farruk stockte mit geweiteten Augen, „ist wundervoll! Ihr hört auf die Freiheit, ein großer Geist für einen Ledrianer. Ihr saht über den Tellerrand des Iurionismus hinaus und erkanntet…“
„Gott verhüte, Farruk, dass ich aus denselben Motiven handle wie Ihr“, entgegnete der Herzog, „Ich habe keinesfalls vor, mit Euch gleichzuziehen. Ich werde hier siegen oder fallen. Mein Sinneswandel ist lediglich der Einsicht zu verdanken, dass ich damit die meisten Menschen retten kann.“
„So…“, der Kalif musterte den Herzog kurz, bevor er seine Stimme zu einem schallenden Jubel hob, „Wie dem auch sei, dies ist ein wundervoller Abend! Etul, bringt mehr Wein. Lasst uns feiern!“
„Lasst es verhalten angehen, Kalif. Einige Leute wissen noch nichts, von meiner Entscheidung“, erwiderte Jean, bevor er sich abwandte.
Wenig später ertönte der Ruf eines Herolds, der die Gäste dazu aufforderte, sich in den Ballsaal im dritten Obergeschoss zu begeben, worauf der Großteil der Anwesenden Folge leistete.
Nachdem sie einige Treppen hinter sich gelassen hatten, erreichten auch Herzog Montierre und sein Gefolge den Ballsaal. Vor ihm erstreckte sich unter der gewölbten Decke, von der kristallene Kronleuchter herabhingen, eine große Fläche voller runder Tische, an denen bereits lautstark geplaudert wurde. An der rechten Wand der Halle befand sich eine gewaltige, bogenförmige Theke aus Wurzelholz, an der die Bediensteten des Palastes große Mengen an Spirituosen ausschenkten.
Der hintere, freie Teil des Raumes bildete die Tanzfläche, in deren hinterster Ecke sich ein kleines Orchester der Xendor positioniert hatte, welches an diesem Abend für die musikalische Untermalung sorgen sollte. Auf der linken Seite dagegen erhob sich ein hölzernes Podest für Redner, über dem die Loge der Ratsmitglieder lag.
Prinzessin Filiana hielt sich bei den drei dort stehenden, goldenen Lehnsesseln auf, wo sie einige Bedienstete unterwies.
Während sich Montierre dort hinbegab, hielten sich Raham und Ferren, die man, ebenso wie Ariona, aufgrund ihrer Heldentaten in den Stadtpalast eingeladen hatte, an der Bar auf.
Wenn man von seinem rechten Arm absah, den er immer noch in einer Verbandsschlinge trug, war Ferren wieder gänzlich genesen. In weißen Seidenhemden und frischen, delionischen Wappenröcken, die das Fraktionsoberhaupt der Delioner eigens für sie herausgegeben hatte, wirkten die beiden auch wesentlich edler, als sie es noch vor ein paar Tagen getan hatten.
Während Raham von der hübschen Bedienung einen randvoll gefüllten und aufwendig gravierten Bierkrug aus Zinn entgegennahm, ließ Ferren seinen Blick über die Menge schweifen. Er entdeckte de Nord, der sich im Kreise einige Adliger bei einem der Tische aufhielt, den Herzog, der mittlerweile mit der Prinzessin sprach, ein paar bekannte Gesichter wichtiger Personen und auch Ariona, die in ihrem schlichten, mattweißen Sari besonders aus der Menge hervorstach.
Er schluckte, als er sah, wie sich mit einem athletischen Mann unterhielt, dessen lange, feuerrote Haarmähne nicht weniger auffällig war als ihr Sari. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verriet, dass sie sich durchaus amüsierte.
„Wer ist das?“, fragte Ferren und deutete auf ihren Gesprächspartner.
„Wer…ach, der“, seufzte Raham, „Das ist Olaf, einer von unseren Leuten. Man nennt ihn den Schönen.“
„Den Schönen, dass ich nicht lache“, zischte sein Gegenüber, „Du bist doch jetzt Hauptmann der Wache, oder?“
„Richtig“, bestätigte er und deutete auf das klobige, goldene Insignie, welches er an einer Kette um den Hals trug.
„Schön“, brummte Ferren, „Dann tu einem Freund einen Gefallen und schick diesen Olaf als Ablösung zur Tunnelwache.“
„Weil er mit Ariona redet?“
„Frag nicht.“
„Aber ich kann doch nicht…“
„Tu es einfach!“, blaffte Ferren.
„Also gut“, murmelte Raham, bevor er sich auf den Weg zu Olaf machte.
Er hatte jedoch kaum zwei Schritte getan, als die Stimme der Prinzessin vom Rednerpodest her erschallte, worauf das unterschwellige Gemurmel im ganzen Raum, sofort erstarb:
„Seid gegrüßt, hohe Bürger Galors! Seid herzlichst gegrüßt an diesem wundervollen Abend. Wie ich sehe, genießt ein jeder von euch bereits das reichhaltige Angebot unserer Speisen und Getränke. Ich wünsche, allerseits guten Appetit und einen Toast auf unsere Stadt, auf Galor, die letzte Festung Fiondrals.“
„Ein Hoch auf Galor!“, schallte es aus einigen Kehlen.
„Doch“, mahnte Filiana, „sind wir heute nicht nur des Genusses wegen hier. Nein, wir sind hier, weil es etwas zu verkünden gibt, etwas, das einen jeden in diesem Saal interessieren dürfte. Wie sicherlich alle vernommen haben, gibt es immer noch Streitigkeiten zwischen den acht Nationen und das, obwohl die Orks vor den Toren stehen, obwohl wir nur dann eine Chance haben, wenn wir uns gemeinsam dem Sturm stellen. Hand in Hand! Ledrianer und Delioner, Serpendrianer und Elipfer, Nogroner und Iskaten, Xendor und Skatrier.
Ich weiß, es ist viel verlangt, über die Mauern des generationenübergreifenden Hasses zu springen, aber wir müssen diesen Sprung wagen! Der Rat mag in der Vergangenheit nicht das beste Beispiel für die Zusammenarbeit der acht Nationen gewesen sein, aber auch das wird sich ändern. Und deshalb setzten wir heute Abend ein Zeichen. Ein Zeichen für Einheit, ein Zeichen für unsere Stärke“, sie legte ihr rechte Hand auf die Brust und rief laut: „Möge Galor niemals fallen!“
„Wenn sie glaubt, ich würde wegen der paar Worte gleich der Bruder eines jeden stinkenden Skatriers sein, hat sie sich geschnitten“, flüsterte man am Tisch de Nords.
„Ich bitte“, fuhr Filiana fort, „Herzog Montierre, Oberhaupt der Ledrianer und Ratsmitglied für die Alten Königreiche, nach vorne.“
Jean leistete dieser Bitte mit einer leichten Verzögerung Folge, sodass es etwas dauerte, bis er schlendernd das Podest und die Prinzessin erreicht hatte.
„Bürger Galors!“, seine Stimme klang rau und war keinesfalls überschwänglich laut, „Ich gebe hiermit bekannt, dass die Besetzung des Hafens durch ledrianische Truppen ab dem morgigen Tag beendet ist. Wir sind mit dem Kalifen Farruk übereingekommen, dass die Hälfte der Plätze auf den Schiffen den wehrlosen Kindern, Frauen und Alten Galors zur Verfügung gestellt wird. Die übrigen Plätze werden von den Anführern der acht Nationen so besetzt, wie sie es für richtig erachten.“
Auf diese Worte schallte dem Herzog gellender Jubel entgegen, den er jedoch gar nicht hörte.
Sein Blick fiel auf die Tische, an denen seine Landsmänner saßen, auf ihre vor Enttäuschung verzerrten Gesichter.
Als die Prinzessin den Ball für eröffnet erklärt hatte und die ersten Gäste auf die Tanzfläche geströmt waren, hatten einige von ihnen den Saal bereits verlassen.
De Nord jedoch nicht.
Kaum war der Beifall abgeklungen und die Menge auf den Saal verteilt, bahnte er sich seinen Weg zur Loge der Ratsmitglieder. Der Ehrenwache gebot er mit einem einfachen Handzeichen, ihn passieren zu lassen. Seine schwarzen, ledernen Soldatenstiefel schlugen schwer auf das Parkett, als er sich Montierres Sessel näherte.
„Auf zwei Worte, Herzog“, zischte er.
„Lucian, ich bitte dich…“
„Sofort!“, blaffte er zurück, wobei er mit dem ausgestreckten linken Arm auf eine Tür wies, die von der Loge zu einem Seitengang führte.
„Ihr werdet den Herzog doch heil zurück bringen?“, wandte Farruk von der Seite her ein.
„Schweig, Made!“, zischte de Nord, wobei er noch einmal auf die Tür deutete, was den Herzog dazu bewegte, sich zu erheben und hindurchzugehen. Dahinter lag ein schnörkelloser, dunkler Gang mit kalten, rohen Steinwänden.
Der Marquis schlug die Tür hinter sich zu.