Eine Mixtur aus fantastischen Elementen und einem Protagonisten, welcher im Konflikt zwischen seiner wissenschaftlichen Methodik und den Dingen steht, die weit über dies hinaus gehen. Der Leser sei gewarnt, dass er sich durch ein Werk von 143 virtuellen Seiten bahnen muss um das volle Ausmaß der Geschichte zu begreifen. Allen Ambitionierten wünsche ich viel Ausdauer! Titelbild: www.pixelio.de/©Ruth Rudolph/PIXELIO
Ich blicke in den Spiegel und erbleiche. Ich ekle mich vor mir selbst, denn was ich im Spiegel erblicke bin nicht ich. Da fragen Sie sich, was ich denn sonst erblicken soll als mich. Dazu muss ich wohl etwas weiter ausholen.
Geboren wurde ich in der Stadt A., welche weit entfernt ist von anderen. Sie bildet die Oase in einer Landschaft, welche von Feldern, Wäldern und Bergen geprägt wird. B., die nächste große Stadt liegt fast 150 km entfernt.
Dort wuchs ich auch auf, in dem für mich einzigen Flecken Erde, wo man wahre Bildung erfahren konnte, fernab von den abergläubischen Geschichten der Landbevölkerung. Alle jene düsteren Geschichten von bösen Geistern, wilden Bestien und schaurigen Ungeheuern waren für mich stets wunderbare Betthupferl. Meine Mutter wusste diese Geschichten mit einer tiefen Innbrunst zu erzählen, die mir jeden Abend wohlige Schauer über den Rücken jagten.
Mein Vater hingegen war vollkommen pragmatisch eingestellt, hatte für diesen Kram, wie er diese Geschichten zu nennen pflegte, gar keinen Sinn. Mutter hütete sich gar davor, dass mein Vater erfuhr, dass sie mir nicht die deutschen Märchen der Gebrüder Grimm vorlas, sondern die grausigen Geschichten der schlotternden, dumpfen Einheimischen erzählte.
Mein Leben widmete ich den Büchern und der Naturwissenschaft im Besonderen. Lange Jahre studierte ich an der Universität von A. Und ich erzielte schnelle Erfolge, schwang mich immer höher hinauf, überflügelte gar manche meiner Professoren, erwarb rasch meinen Doktorgrad. Immer größer wurde mein Wissensdrang, aber auch das Verlangen mich einer wahren praktischen Herausforderung zu stellen, fernab der üblichen Experimente und Praktiken meines Berufsstandes.
Und so sprang mein wissensdurstiges Herz so hoch wie noch nie, als ich erfuhr, dass man in den Wäldern unweit von A. verstörende Dinge bemerkt habe, die sich nicht erklären ließen.
In einer offenen Kutsche fuhr ich einen halben Tag um das Dorf C. zu erreichen. Gekleidet in meinen feinsten Ausgehrock, ein leichtes Cape übergeworfen, mein Kopf bedeckt von gepuderter Perücke und Zylinder, auf einem Gehstock mit Elfenbeinschnitzereien gestützt, betrat ich den staubigen Grund und Boden, welcher mir wie ein ekelhafter Teppich erschien.
Ein kompakter Mann, von kleiner Gestalt, trat auf mich zu. Dabei musterte er mich wie ein Weltwunder. Vor mir stehend zog er seinen Hut und beugte sich so tief nach vorn, dass er mit der Nase förmlich im Dreck versank.
„Welch eine verdammte Freude, dass Sie da sind, hochgelehrter Herr!“, flötete er im Bewusstsein, dass er gerade ein großartiges Kompliment geäußert hatte, mit dem er sich vor einem König hätte sehen lassen können. Mir entlockte diese drollige Selbstüberschätzung lediglich ein dünnes Lächeln.
„Danke. Sagen Sie, guter Mann, wo befindet sich das Hotel am Platz, welches mir versprochen worden ist?“
Der Blick meines Empfängers wurde glasig, für einige Sekunden befürchtete ich, dass die ungewohnte geistige Anstrengung ihn habe in einen vollkommenen Zustand der Lähmung verfallen lassen. Schließlich richtete er doch die kleinen, diebischen Augen auf mich. „Zum Gasthaus geht’s hier entlang.“
Nur wenige Meter entfernt stand ein großes Haus mit Holzfassade, massiver Steinbau hatte sich in diesem Winkel der Welt anscheinend noch nicht durchgesetzt. Windschief hing das Dach auf dem Gasthaus, der Betrachter konnte befürchten, es würde jeden Augenblick auf ihn herniederstürzen und erschlagen. Die Fenster selbst waren von einer Winzigkeit, dass man nur Fenster dazu sagte, weil der militaristische Begriff der „Schießscharte“ die einfachen Gemüter wohl nur unnötig erregt hätte.
Auch das Innere dieser Zufluchtsstätte eines jeden redlichen Trinkers, Spielers und Diebes verstärkte den weit rückständigen, äußeren Eindruck. Überall brannten Kerzen, die düstere Schatten in jede Ecke trugen, es dämmerte bereits zu dieser Zeit. An den Wänden präsentierte sich der ganze Stolz eines Jägers und Bauern. Mächtige Hirschgeweihe, Büchsen und landwirtschaftliche Geräte erzeugten ein grausiges Museum des ansässigen Lebens. Mein Unbehagen wurde auch dadurch nicht gemindert, dass man mich an einen Tisch setzte, über dem eine Sense von der Decke schwebte.
Schon bei meinem Eintritt hatten mich die Anwesenden Herren, allesamt kräftige Burschen mit sonnengegerbter Haut und entschlossenen Mienen, auf beunruhigende Weise gemustert. Ich selbst war als hochaufgeschossener, jedoch zarter Jüngling mit heller Haut ein Fremdkörper in ihrer beschränkten Welt.
„Was wünschen der Herr?“, fragte mich eine der Bedienungen mit rauer, beinahe männlicher Stimme. „Eine Suppe und einen Schoppen Wein“, antwortete ich. Mit einem Ausdruck von interessierter Bewunderung nahm die junge Frau meine Bestellung entgegen und konnte den Blick nicht von mir wenden, auch nicht, als sie bereits wieder im Begriff war zu gehen.
Während ich auf meine Mahlzeit wartete gesellten sich der Wirt und mein Empfänger zu mir.
„Gräulich, bin der Wirt hier“, sprach er mit dröhnendem Organ und umfasste meine Hand mit solcher Heftigkeit, dass ich glaubte er würde mir jeden Knochen in ihr zersprengen.
„Jean, sehr erfreut“, brachte ich zischend zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das ist der alte Niklas, haben ihn schon kennen gelernt“, stellte mir Gräulich den Mann vor, der sich, genau wie vorhin, mit einer äußerst devoten Geste bis in den Staub hinab beugte.
„Ich hoffe, dass unser Etablissement Ihren Ansprüchen genügt“, brachte der Wirt unter sichtlicher Anstrengung, ob des komplizierten Fremdwortes, hervor. „Danke, ich glaube ich werde es aushalten können“, kam es lachs von meinen Lippen, wobei ich die drohend pendelnde Sense nicht aus den Augen verlor.
„Wissen Sie schon von den schlimmen Dingen, die in letzter Zeit geschahen?“, fragte Niklas eilig, während die Bedienung, unter sorgfältiger Musterung meiner erkenntlichen Physiognomie, mein Essen auf dem Tisch platzierte. Ich nickte kurz. Â
„Das ist übrigens Sarah, meine Tochter“, sprach der Wirt mit nicht unerheblichem Stolz in der Stimme eine so hübsch gewachsene Tochter sein Eigen nenne zu können. Sarah vollführte sogleich einen artigen Knicks, wobei sie mich neckisch anlächelte. „Enchanté“, antwortete ich, wobei ich einen angedeuteten Handkuss auf die kräftige und doch schöne Hand seiner Tochter hauchte.
„Wollen Mademoiselle sich nicht auch zu uns gesellen?“, fragte ich höflich. „Leider nein, Sarah muss unsere Gäste versorgen.“ „Ach die alten Säufer haben immer noch ihre vollen Gläser vor sich, anscheinend ist unser Besucher interessanter, als der Boden ihres Bierglases“, antwortete die Tochter des Wirtes pragmatisch, woraufhin sie sich neben mir nieder ließ. Eine kleine Duftwolke von Lavendel stieg mir, zu meiner großen Ãœberraschung, in die Nase.
„Ich muss gestehen, dass ich so einige Berichte gehört habe, die mich sehr an Schauergeschichten gemahnten, als an eine reale Bedrohung.“
Meine Zuhörer schien meine Äußerung sichtlich zu erschrecken. „Man hat uns schon gesagt, dass Ihr nicht an das glaubt, was man sich erzählt“, berichtete der Wirt. „Doch hütet Euch, die Wissenschaft kann nicht alles erklären!“, stieß er mahnend hervor, so laut, dass sogar die anderen Gäste, die sich am anderen Ende des Schankraumes befanden, zustimmend brummten.
„Ich dachte genau dies sei was man verlangte“, hielt ich ihm entgegen. „Schon, trotzdem ist ein gewisses Maß an Demut nicht falsch, wenn Ihr versteht wie ich‘s meine“, ergänzte Niklas die Gedanken aller.
„Ein böser Teufel, der durch die Wälder streift und junge Frauen verschleppt, deren Leichen man einiger Zeit später wieder findet. Das klingt für mich nicht sehr sonderbar. Es wird ein Serientäter sein“, präsentierte ich meine Theorie lapidar.
„Aber, was ist mit den dämonischen Symbolen, die er seinen Opfern in den Bauch ritzte?“, fragte mich Sarah erregt. „Effekthascherei, nichts weiter. Er will damit doch gerade den Eindruck erwecken, dass er diabolischer Natur sei, weil er weiß, dass man hier noch an solchen Spuk glaubt.“
Der Wirt bekreuzigte sich mehrmals und blickte mich dann mit einem Ausdruck von Verzweiflung und Wut an.
„Ihr seid wacker, Euer Glaube an die Wissenschaft vernebelt die Sinne um das zu sehen, was wirklich ist. Wir mögen nicht so gebildet sein wie Ihr, wir mögen in der Tat nicht wissen woher gewisse Dinge kommen, die Ihr in so schönen Worten erklären mögt, aber wir sind nicht dämlich! Beten Sie Jean, beten Sie zu Gott, dass er Ihren Weg schützen solle“, kam es in tiefer Demut von seinen Lippen.
„Nun, wir werden ja sehen“, beendete ich den Affenzirkus um mich, denn ich hatte mit dem Essen geendigt. „Ich wünsche nun meine Kammer zu beziehen. Ich werde mich morgen früh mit dem Medicus des Dorfes treffen, ich nehme an er hat alle Unterlagen zu diesen Todesfällen bei sich?“
Ein Schaudern durchzog meine Gesprächspartner. „Den Doktor Schmidt wollt Ihr sprechen?“, fragte mich der alte Niklas mit bebender Stimme. „Selbstverständlich, oder gibt es noch andere zuverlässige Quellen und damit meine ich nicht mündliche Ãœberlieferungen.“ Niemand wagte einen Ton des Widerwortes zu sprechen. „Dann ist es abgemacht, ich darf mich für heute Abend verabschieden“, warf ich kurz angebunden in die Runde und stand bereits neben dem Tisch, als Gräulich Sarah anzeigte, sie sollte mich hinauf führen.
Meine Kammer war klein, ausgestattet mit einem Bett, einem kleinen Nachttischchen, einem Toilettentisch mit Spiegel, einem doch sehr gewaltigen Schrank und einem einsamen Stuhl. Das Fenster war, genau wie alle anderen, geschlossen und äußerst winzig.
„Danke, dass Sie mir meine Kammer gewiesen haben, aber nun möchte ich ein paar Stunden allein sein“, verabschiedete ich mich bereits, kurz angebunden, da ich merkte, wie meine Kräfte schwanden.
„Herr Jean?“ „Was denn noch?“ „Ich hätte da ein paar Dinge, die Sie interessieren könnten“, erklang die volltönende Stimme von Sarah hinter mir. Trotz meiner Müdigkeit verboten Galanterie und Wissensdurst, dass ich sie abwies. „Bitte, setzen Sie sich auf das Bett, ich nehme mit dem Stuhl vorlieb.“
Dankbar setzte sie sich nieder. Die Kerze auf dem Nachtschränkchen erleuchtete den kleinen Raum mit ungeahnter Helligkeit, weshalb ich mehr als einen Blick auf die Tochter meines Wirtes werfen konnte. Sie war wahrlich sehr schön gewachsen, von ebenso dunkler Haut wie die Männer im Schankraum. Das straffe, lange, schwarze Haar fiel über ihre Schultern und bot mir einen Anblick, wie ich ihn noch nie bei einem Mädchen von gleichen Jahren in der Stadt A. erblickt hatte. Die zarten Geschöpfe von A. hatten einen ebenso schönen Wuchs, jedoch war alles zerbrechlich an ihnen gewesen. Sarah hingegen war eine wilde Blume, die von exotischer und anziehender Kraft war.
„Wie meinten Sie das eben, als Sie sagten, dass wir noch an solchen Spuk glauben?“
Einem der Männer hätte ich wohl unumwunden die harte Wahrheit an den Kopf geworfen, doch dieser schönen Gestalt konnte ich doch nicht sagen, dass ich alle für abergläubische Dummköpfe hielt.
„Nun, ich weiß, dass in diesen ländlich geprägten Regionen unserer Welt der Glaube an Ãœbernatürliches noch sehr stark ist. Somit schlussfolgerte ich, dass der Täter sich dieses Wissen zu Nutze mache, indem er vortäuscht ein Dämon zu sein. Damit verhindert er, dass irgendjemand ihm nachstellt und so seine wahre Identität ermittelt. Gerade deshalb will ich alles wissen, ich brauche Informationen um ein vollständiges Bild zu erhalten. Alles um endgültig zu klären wer denn nun dieser Mörder ist und um ihm das Handwerk zu legen.“
Meine große Arzttasche stand neben dem Bett. Interessiert musterte Sarah diese. „Das, Verehrteste ist meine Tasche in welcher ich alle Dinge aufbewahre um meine Nachforschungen anzustellen.“ „Seid Ihr Mediziner, Jean?“ „Auch“, entgegnete ich, als sei dies doch trivial. „Gar ein richtiger Doktor?“, fragte sie hoffnungsvoll. Ich nickte. „Tausendfaches Geschick des Himmels!“, jubilierte sie. „Dann müssen wir nicht mehr zu diesem düsteren Gesellen, den Ihr aufsuchen wollt!“
„Was hat es denn mit Doktor Schmidt auf sich, dass alle vor ihm Angst haben?“ Sarah bekreuzigte sich hastig. „Vergib mir Gott wenn ich falsche Worte spreche, aber er ist ein höllischer Mann, im Bunde mit dem Teufel.“ „War es das?“, fragte ich abweisend. „Was soll die Frage?“ Ich seufzte. „Ich meine, habt Ihr noch brauchbare Informationen für mich, oder erfahre ich nur närrische Vorurteile aus Eurem Munde. Dann dürft Ihr Euch sogleich entfernen, denn dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.“
Erregt warf sich die Tochter des Wirts auf das Bett und drückte ihren Kopf fest gegen das Kissen. „Wie könnte Ihr nur so stur und unbelehrbar sein?!“, ertönte, von Tränen erstickt und doch sehr gut vernehmlich, ihr Bass durch den Raum. „Ich bin Wissenschaftler, solche Vermutungen, wie Ihr sie anstellt helfen mir herzlich wenig. Für mich zählt die Wahrheit hinter dem scheinbar Unerklärlichen, deshalb interessiert mich all diese unheimliche Fassade nicht einen Deut.“
Mit bebendem Busen und entschlossenem Gesichtsausdruck schnellte Sarah auf. „Dann interessiert es Euch vielleicht, dass alle diese Mädchen nach ihrem 21. Geburtstag verschwanden. Oder ist Euch das auch zu wenig Wahrheit, Herr Wissenschaftler?!“, spie sie mir entgegen. „Nein“, entgegnete ich eingeschüchtert.
Eine kurze Zeit lang herrschte eine drückende Stille im Zimmer.
„Dann solltet Ihr vielleicht noch wissen, dass ich alle Mädchen kannte, sollten Sie später noch etwas über sie wissen sollen, aber wahrscheinlich interessieren wir Sie alle keinen Deut“, kam es hart von ihren Lippen, als sie sich stolz erhob, meine Kerze entzündete, die Ihre nahm und aus dem Zimmer ging. „Gute Nacht!“, erklang es monoton, als die Tür zuschlug.
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Ich erwachte bereits sehr früh. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch dieses sogenannte Fenster. Ich fühlte mich unwohl, weil ich so unfreundlich gegen Sarah aufgetreten war, doch was hätte ich denn sagen sollen? Ich hätte doch nicht lügen können nur um eine schwierige Situation zu umgehen. Doch in jener Nacht war mir klar geworden, dass ich mich doch früher oder später mit ihr auf guten Posten stellen musste, wenn ich sie als Informationsquelle nutzen wollte.
Ich wusch mich schnell und zog mich an. Als dies zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt worden war setzte ich mich in die Gaststube. Der Wirt Gräulich kam heran gewankt. „Was kann ich tun Herr Doktor?“, fragte er mit Groll in der Stimme. Sarah hatte ihm also von unserer Unterhaltung erzählt. „Ich hätte etwas Brot, Fleisch und Wein, das wäre es schon. Und wenn Ihr zurückkommt brauche ich ein paar Auskünfte.“
Es dauerte nicht eine Minute als der Wirt mir ein großes Holzbrett auf den Tisch knallte, Messer und einen Brotlaib, sowie ein großes Stück Schinken und die obligatorische Weinkaraffe.
„Hoffe der Herr wird mein einfaches Brot zu schätzen wissen.“ „Herr Gräulich, setzten Sie sich“, begann ich und tatsächlich ließ sich der Mann schwerfällig auf dem Platz neben mir nieder. „Ihre Tochter hat mir Ihnen gesprochen?“ „Ja, haben Sie das mit ihren wissenschaftlichen Methoden herausgefunden?“, kam die patzige Frage von seinen Lippen. „Bitte, ich hatte nicht vor irgendjemanden zu beleidigen. Ich habe lediglich eine andere Vorstellung davon was da draußen ist und wie ich ihm auf die Schliche kommen kann. Und soweit ich mich erinnern kann war das von allem erwünscht.“ Gräulich starrte die Tischplatte an, als wäre sie von besonders makelloser Schönheit. „Ja, trotzdem war’s nicht nett, wie sie Sarah heute Nacht behandelt haben. Das Kind war ja ganz außer sich.“ „Es war eine unglückliche Verquickung von Müdigkeit und der gereizten Spannung brauchbare Informationen zu erhalten. Da begann Sie von Doktor Schmidt…“
Ich erstarb in meiner Rede als ich sah, wie sich auch der Wirt hastig bekreuzigte. „Er scheint ja wirklich mit dem Teufel im Bunde zu sein“, setzte ich an, doch Gräulich brachte mich mit einem Blick brutaler Wut zum Schweigen. „Ungläubiger, der du diese Wahrheit so laut aussprichst! Er ist ein Diener des Bösen!“
Es stimmte, die einfachen Leute glaubten so fest an diesen Aberglauben, dass sie eine körperliche Bedrängnis fühlten, wenn man den Namen dieses vermeintlichen Lemuren des Bösen aussprach.
„Umso wichtiger ist es, dass ich ihm mal einen Besuch abstatte. Wie kann ich ihn erreichen?“
„Es ist das letzte Haus an der Hauptstraße, besser gesagt, es ist die Villa dort. Außerdem schläft der Medicus nicht…“ „Vortrefflich, da erspart er mir das Warten, ich breche sogleich auf.“
Auch wenn der Wirt immer wieder beteuerte, dass er sich nie verzeihen könne, sollte mir in der unheimlichen Villa etwas zustoßen, ging ich meines Weges, der uneben und staubig war.
Man hätte die Villa nicht verfehlen können. Dies hatte mehrere Gründe. Das Dorf hatte keine besonders große Ausdehnung, man konnte es leicht überblicken. Weiterhin waren alle sonstigen Häuser im gleichen windschiefen und merkwürdig altertümlichen Stile des Gasthauses gehalten. Allein die Villa bestand aus massivem Stein, war weiß verputzt, mit Marmornen Säulen und hohen Fenstern ausgestattet. Sie wirkte wunderbar vertraut auf mich, genau wie der kleine Weg, der von der Hauptstraße, oder was man so bezeichnete, weil es die einzige Straße war, abzweigte. Dieser war gepflastert. Erstmalig, seitdem ich A. verlassen hatte fühlte ich massives Kopfsteinpflaster unter meinen Sohlen.
Unerschrocken betätigte ich den Türklopfer, der der Nasenring eines Stierreliefs war. Laut vernehmlich erklangen drinnen die Schläge des Klopfers.
Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Türe. Ein Mann mit dünnen, weißen Haaren öffnete mir. Auch seine Haut war von einer Helligkeit, wie selbst ich sie nicht als gesund befand. In krassem Kontrast dazu waren die Lippen blutrot, sie oszillierten regelrecht im Gegensatz zur Haut. Die Augen waren scharf zusammengekniffen und die lange Hakennase schien sich gleich in meine Augen bohren zu wollen.
„Was sollen Sie?“, fragte er krächzend. Ich lüftete meine Zylinder. „Gestatten? Dr. Jean Klinger, ich bin der Experte aus A. den man ersucht, die Mordfälle der letzten Zeit aufzuklären. Ich höre, Sie hätten ein umfangreiches Archiv zu diesen Schändlichkeiten und erbitte Ihre gnädigste Zusammenarbeit.“
Der Alte musterte mich erneut eingehend. „Ein Städter, seltenes Vergnügen, seltenes Vergnügen. Sie wollen also mein Archiv einsehen? Dazu möchte ich wissen, wer denn Ihr Doktorvater war.“ „Professor Ianone, gebürtiger Florentiner.“
Das Gesicht des Alten erhellte sich. „Tretet doch bitte ein!“, forderte er mich auf und trippelte vor mir her.
Die Villa war ein Palast. Überall hingen schwere Teppiche an den Wänden. Die Vorhänge waren bester Stoff, stilvolle Gemälde und gewaltige Kronleuchter rundeten das vollkommene Bild ab. Und überall herrschte Licht, welches durch die hohen Fenster fiel.
Doch je weiter wir in die Tiefe drangen, desto düsterer wurde alles. Immer weiter bewegten wir uns nach unten, Öllampen leuchteten auf, die Luft wurde stickiger, das Atmen fiel schwerer. Schließlich erreichten wir eine gewaltige Holztür mit schweren Eisenbeschlägen. Dr. Schmidt zog einen gewaltigen Schlüsselbund aus seiner Kitteltasche, er trug seinen Arztkittel, und öffnete die knarrende Barrikade.
Dahinter kam ein nur spärlich beleuchtetes Laboratorium zum Vorschein, welches mich an Mutters Erzählungen von der Hexenküche gemahnte, ich verwarf den Gedanken. Überall brodelte es, farbige Flüssigkeiten schnellten durch Rohrsysteme, welche weder Anfang noch Ende zu haben schienen. Es gab keine ersichtlichen Wände, nur lange Reihen von Bücherregalen und Ingredienzienschränken, gelegentlich abgelöst durch Fackelhalterungen.
Nach einer Weile bogen wir von den langen Reihen der Experimentiertische ab und begaben uns in ein kleines Nabenzimmer, in dem weitere Reihen von Regalen standen, in denen in dünnen Ordnern tausende von Blättern Papier gefangen waren. Zwei Sessel und ein Tisch standen ebenfalls dort. „Setzen Sie sich!“, krächzte Dr. Schmidt, während er zielsicher einen der Ordner aus einem Regal zog und sich schließlich damit in den anderen Sessel fallen ließ.                  Â
„Nun, Dr. Klinger, haben Sie schon den Verlust der Zivilisation verdaut?“, fragte er fröhlich, während er eine gläserne Karaffe unter dem Tisch hervorzog und mit ihrem Inhalt zwei Gläser füllte, die er ebenfalls unter Selbigem hervorgezaubert hatte.
„Sie mögen nicht gerade die hellsten Lichter am Himmel sein, doch vom Weinanbau verstehen diese Menschen etwas“, resümierte er vergnügt und verkonsumierte den Inhalt seines Glases mit einem gewaltigen Schluck, welchen man dem gerippegleichen Mann nicht zutraute.Â
„Ianone war also Ihr Doktorvater? Guter Mann, leider etwas verfahren in seiner Dogmatik, hat mich überrascht, als er begann sich mit der menschlichen Psyche auseinanderzusetzen, dachte er komme niemals über die Anatomie hinaus. Das sind übrigens die Unterlagen, die Sie sehen wollten. Bin gespannt, ob Sie da mehr herauslesen könne als ich.“
Er ließ den Ordner über die spiegelglatte Oberfläche des Tisches gleiten und schenkte sich gleich noch einmal nach.
Vorsichtig sah ich mir die Unterlagen durch. Mit besonderer Akribie hatte Dr. Schmidt die Leichen untersucht, jede Kleinigkeit am Ort der Tat registriert. Seinen Augen und seiner Feder war nichts verborgen geblieben.
Es war tatsächlich auffällig, dass alle Mädchen ein nahezu gleiches Aussehen hatten, soweit die Beschreibungen der offensichtlichen Aussehensmerkmale stimmten. Auch den Umstand, auf welchen mich Sarah bereits hingewiesen hatte, dass alle 21 Jahre zählten war vermerkt worden.
Was mich stutzen machte, war die Beschreibung der Todesursache. Einer jeden hatte man die Kehle an der Halsschlagader durchschnitten, auf eine Weise, wie man sie nicht bei einfachen Kleinkriminellen wiederfand, sondern nur bei Menschen mit einer soliden medizinischen Kenntnis. Auch waren die Symboliken jeweils auf den Bauch mit äußerster Sorgfalt und Präzision eingeritzt worden.
Trotz meiner Erfahrung mit solchen Dingen, die mich nicht aufschrecken ließen, überlief mich doch ein Schaudern, wenn ich daran dachte, welches menschliche Wesen zu solchen grausamen und doch nahezu pedantischen Taten fähig war.
„Darf ich mir die Akten leihen?“, fragte ich in der Hoffnung nach mehrmaliger Durchsicht vielleicht doch noch auf ein verborgenes Indiz zu stoßen.
„Das will ich Ihnen nicht verwehren, doch glaube ich nicht, dass Sie aus ihnen mehr Erkenntnisse gewinnen können als ich. Ja, auch ich habe mich schon lange mit diesen Phänomenen beschäftigt. Es sind jetzt bereits 5 Monate seit dem ersten Mord vergangen. Ich sah viele dieser Gutachter kommen und gehen, die nichts feststellen konnten. Auch sah ich die Medien und Herren des Ãœbersinnlichen, die nach einiger Zeit alle, ich übertreibe nicht, alle des Wahnsinns verfielen“, sprach er halb flüsternd mit einer rabenähnlichen Stimme, die Seiten meines Unterbewusstseins berührten, die dafür sorgten, dass ich Furcht empfand.
„Soll dies eine Warnung sein?“ Die dürren Finger des Medicus beschrieben wahnsinnige Formen in der Luft. „Es ist mehr ein Ratschlag. Ihr seid noch jung, noch unbefangen, doch Ihr habt noch nicht erblickt, was ich gesehen, Ihr besitzt die Härte des Alters nicht. So kann Euch dieser Wahnsinn noch schneller ergreifen als diejenigen, die beim allmächtigen Herrgott schwören schon alles gesehen zu haben, was wir Herren der Wissenschaft niemals sahen. Habt Ihr Familie, Dr. Klinger? Wartet ein hübsches Fräulein sehnsüchtig, dass Ihr wiederkehrt?“
Er wollte mich einschüchtern, ängstlich machen, mich von meinem eisernen Vorhaben dieses Mysterium zu lösen, unsterblichen Ruhm zu erringen abbringen. Er nutzte psychologische Tricks, welche andere Gemüter erschüttert hätten, nicht aber mich.
„Nur Mutter und Vater. Das holde Fräulein, welches meiner wartet ist seit Jahr und Tag die Wissenschaft. Und ich glaube nicht, dass sie wollen würde, dass ich bereits resigniere, bevor ich auch nur einen Schritt in Richtung der Lösung dieses Falles getan habe“, entgegnete ich im ernsten Tonfall.
Das Gesicht des Medicus verzog sich, es wurde einem starrenden Totenschädel gleich. „Mein junger Freund. Vielleicht war ich nicht präzise genug. Wartet einen Augenblick.“
Mit diesen Worten erhob er sich aus seinem Sessel und begab sich aus dem Raum. Wenige Momente später erschien er wieder, ein schweres, schwarzes Buch transportierend. Er ließ es knallend auf den Tisch fallen, der nicht barst, zu meiner Verwunderung.
„Öffnen Sie das Buch, nehmen sie es mit sich, lesen Sie, forschen Sie. Der Geist strebt immer nach Höherem, so strebte der Meine nach Dingen außerhalb des menschlich fassbaren. Doch nicht Gott und die Religion waren mein Ziel, bewahre! All diese sinnlose Metaphysik und das dumme Geschwafel des religiösen Packs! Nein, mein junger Freund. Für Männer der Wissenschaft gibt es ein sehr viel ergiebigeres Feld, welches wir nutzbar machen können, wenn dieses kleine Wortspiel gestattet sei.“
Mit einem Blick, der tiefste Überzeugung und Leidenschaft zeigte, beugte er sich über das große Buch mit dem goldenen Pentagramm auf dem Einband. Die dürren Finger wanderten über das Buch, als wäre es ein entblößter Frauenkörper, den es zu erforschen galt und ein düsterer Schatten umspielte das Gesicht des Medicus. Dr. Schmidt verwandelte sich vor meinen Augen zu einem wahnsinnig grinsenden Schattenwesen, anders kann ich all diese Sinnestäuschungen nicht zusammenfassen.
„Schwarze Magie ist wahre Macht, die Person, die sich ihrer bedient kann weitaus mächtiger werden als alle Fürsten, Könige, Kaiser jener Welt. Er kann mehr erblicken als die religiösen Spinner, welche Angst vor einem Gott haben, den sie niemals sahen und niemals sehen, denn ich bezweifle, dass er existiert. Ich bin der festen Ãœberzeugung, dass der Mörder ein Kenner dieser Künste ich, mehr noch als ich es bin. An diesem Punkte hielt ich auf weiter nach dem Ursprung all dieser Greul zu forschen. Es gibt Dinge, die sollten lieber in ewiger Dunkelheit verbleiben, denn wenn man sie ans Licht zieht wird man selbst verbrennen. Versteht Ihr nun, warum ich Euch rate die Finger davon zu lassen?“
Ich nickte, natürlich erklang eine Stimme in mir, die ebendies forderte, die mir von weiteren Schritten abriet, doch meine Entschlossenheit war zu groß, ich würde nicht aufgeben! Jedoch musste ich feststellen, dass Sarah und die anderen Dorfbewohner nicht zu Unrecht eine panische Angst vor Dr. Schmidt hatten, der wie ein wahnsinniger Hexenmeister wirkte.
„Wenn Sie mir sonst nichts zu sagen haben, würde ich mich jetzt gerne entfernen und die Unterlagen und das Buch mit mir nehmen“, schloss ich schnell, bis die Furcht vielleicht doch noch Ãœberhand in mir gewann.
„So sei es denn, Dr. Jean Klinger. Ich werde Euch bis zur Tür geleiten. Sollte ich noch behilflich sein können, Ihr wisst wo ich zu finden bin.“
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Mit äußerster Vorsicht war ich in meine Kammer gestiegen. Glücklicherweise war das Gasthaus noch nicht gefüllt mit Gästen. So konnte ich, nur neugierig beobachtet von meinem Gastgeber, das große Buch und die Akten transportieren. Ich wollte mir einfach nicht ausmalen was geschehen würde, wenn man erführe, was ich da bei mir trug.
Ich schob alles sorgfältig unter das Bett, so weit, dass niemand, der nicht wusste, dass diese Dinge dort versteckt waren, sie hätte zufällig finden können. Ich musste jede Szene fürs Erste vermeiden.             Â
Es war erst Mittag, weshalb ich mir ein paar Karten der nahen Wälder geben ließ, welche ich nun ausgiebig studierte. Ich suchte den Wohnort eines jeden Opfers und die Stelle, wo man den Leichnam wiederfand, zeichnete alles in die Karten ein.
Diese Arbeit erzeugte eine bunte Karte mit unterschiedlich farbigen Strichen, trotzdem war es mehr eine gewisse Fingerübung, wie das Übertragen von Zahlen auf ein Blatt Papier. Es brachte mir keine Erkenntnis, es gab kein Muster nach dem der Täter vorging. Manchmal fand man die Leichen irgendwo weit entfernt, manchmal nahe der Stelle, wo die Wege in den Wald führten. Es ergab sich keine Regelmäßigkeit beim Vergleich dessen, wann man sie weit und wann nah fand, die Namen der Opfer in chronologischer Mordreihenfolge ergab ebenfalls kein Muster. Es gab lediglich das, was es auch schon Stunden zuvor gegeben hatte, nichts weiter als die Erkenntnis, dass alle Mädchen 21 Jahre als waren, jedoch auch hier bereits unterschiedlich lange. Selbst hier ergab sich kein Muster, manche waren gerade erst 21 geworden als sie starben, andere, wie das zweite Opfer, waren schon fast 22 gewesen.
Ach ja und alle sahen sich ähnlich, zumindest wurden sie gleich beschrieben.
So hatte ich nun ganze 3 Stunden mit der Auswertung von Akten verbracht ohne klüger geworden zu sein. Langsam begann ich zu verstehen, warum alle Gutachter nach kurzer Zeit wieder unverrichteter Dinge heimkehrten.
Da es keinen Sinn mehr machte sich in der Theorie mit allem zu beschäftigen wollte ich nun praktische Beobachtungen anstellen.
Der alte Niklas saß in der Gaststube. Welch eine glückliche Fügung! Schnell gesellte ich mich zu ihm und erklärte, ich müsse mal zu ein paar Orten in der Nähe, ob er mich nicht könne fahren.
„Weiß nich‘, welche Orte sind’s denn?“ Ich zeigte ihm zwei Orte am Waldesrand und einen in den Wäldern. „Verdammich! Da bringen mich doch keine 10 Pferde hin!“ Ich seufzte. „Warum, habt Ihr Angst vor dem Ungeheuer?“ Er nickte. „Wenn ich dir 10 Taler geben würde, wärest du dann unter Umständen bereit mich zu fahren?“
Es ist korrekt, dass der Mensch ein gewisses Maß an Würde hat. Es gibt einfach Punkte, die kann man nicht überschreiten, egal, wie sehr man sich anstrengte. Doch der alte Niklas ließ sich aufgrund dieses versprochenen Vermögens gerne auch mal auf ein Abenteuer ein.
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Wenige Minuten waren nur vergangen, als wir uns inmitten eines dichten Gewirres aus Bäumen befanden, die nur wenig Platz für Trampelpfade ließen. Das Licht fiel durch die dichten Baumkronen nur in dünnen Fäden. Obwohl die Sonne außerhalb des Waldes noch eine große Kraft hatte entfalten können war diese hier fast vollständig gebrochen. Ich zog mein Cape fester um die Schulter, ich fror.
Im Zwielicht tappte ich ungelenk hinter Niklas her. Ich wich den nach allem greifenden Wurzeln und Pflanzen aus, immer mit größter Vorsicht nicht plötzlich zu fallen. Plötzlich blieb Niklas stehen. „Hier ist es! Ich wäre froh, wir würden nicht lange hier bleiben.“ Er hatte ein Gewehr bei sich, welches er nun unsicher mal in diese, mal in jene Richtung hielt, den Finger zitternd am Hahn.
Ich stocherte mit meinem Stock im Erdreich, erfolglos. Auch besah ich mir die Bäume näher. Als ich schon glaubte, auch dies sei vollkommen sinnlos, erblickte ich, dass man an die Rinde eines nahen Baumes etwas eingeritzt hatte.
„Niklas, kommen Sie her!“ „Was gibt es denn?!“, fragte er, zu mir hinstürzend, wobei er weiterhin wie ein Wahnsinniger mit der Waffe herumfuchtelte. „Haben Sie das schon einmal gesehen?“ „Das ist eine 3 und da steht noch einen Tropfen Blut saufen. Was heißt das?“
Ich notierte mir Zahl und Worte. „Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass es vom Täter stammt. Wer war zuerst am Ort des Geschehens?“
Niklas starrte in die Luft. „Ich meinte, wer hat die Leiche hier gefunden?“ „Ach, das war eine schlimme Sache! Johannes Träger, der Vater der Toten, oh war das eine schlimme Sache!“
„Niklas, wir fahren sofort zu den anderen beiden Orten am Waldesrand und dann verlange ich, dass du mich zu Herrn Träger fährst!“ „Nein! Zu den anderen Orten, das lässt sich machen, aber nicht zu dem armen Mann! Der hat genug schlimme Sachen erlebt. Sie wollen ihn doch nicht wieder daran erinnern, wo er doch gerade erst vergessen hat?“
Dieser einfache Mensch sprach da ein in der Tat ungeheuerliches Faktum an. Da war der Vater, dessen Leben eine so grausame Wendung genommen hatte. Und nun wollte ich, dass er sie wieder hervorkramte, jene schreckliche Erinnerung? War es mir das wert? Konnte ich von diesem Manne eine Antwort erwarten, die mir auch nur entfernt einen weiteren Hinweis lieferte?Â
Ich entschied, dass es nichts half zwischen diesen dichten Bäumen darüber nachzusinnen, also ließ ich mich zu den anderen Mordorten fahren.
Auch hier entdeckten wir Zahlen und Worte:
5 - Er will den Lebenssaft zu fassen kriegen Â
1 - Aus dem Schlund der Hölle
Es dämmerte als wir von diesem letzten Ort der Gewalt wieder ins Gasthaus zurückkehrten. Ich entschied mich dazu den unglücklichen Vater nicht mehr aufzusuchen, eben so wenig, wie die anderen beiden Finder der Mädchenleichen.
Für 2 weitere Taler gab mir der alte Niklas das heilige Versprechen nichts davon zu erzählen, was er mit mir sah, oder was er vielleicht später noch von mir zu erfahren bekam. Dafür sollte er mir jederzeit zur Verfügung stehen, für jeden Tag ein weiteren halben Taler.
So legte ich mich schlafen, mit dem gemeinen Gefühl noch recht viel Geld einzubüßen zu müssen, jedoch mit der Freude darüber, dass ich neue Beweise gesichtet hatte, jedenfalls musste ich sie dafür halten. Unruhig hatte ich die Unterlagen Dr. Schmidts durchgesehen und festgestellt, dass diese Zahlen und Worte nirgendwo verzeichnet waren.
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Das Folgende hielt ich damals für eine unglaubliche Ausgeburt meiner Imagination, doch heute ist mir die Bedeutung bekannt. Für den Leser dieses Berichtes, will ich dieses und weitere Ereignisse ihrer Art, möglichst vollkommen schildern.
Ich war mir schon damals sicher, dass ich eingeschlafen war. Dieser Tatsache zum Trotz befand ich mich in einem Raum, der weder Anfang noch Ende hatte. Alles war weiß, nichts Anderes war da.
„Wo bin ich?“, fragte ich verwirrt um mich blickend. „Dieser Ort hat keinen Namen“, erklang es wie fein klingende Glöckchen in meinen Ohren. „Wie spät ist es?“ „Hier gibt es keine Zeit die vergeht“, antwortete erneut die wohlklingende Stimme. „Wer bist du?“ „Ich bin Gräfin Isabella Maria von Aragon.“
Ich sah nach rechts und wurde der Gestalt neben mir gewahr. Erschrocken senkte ich meinen Blick. „Verzeiht, Gräfin“, stammelte ich unterwürfig. Da erschall neben mir ein Lachen von solcher Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit, wie ich es nie zuvor gehört hatte.
„Bitte, nicht so förmlich. Ich bin Gräfin Isabella und es wäre mir sehr recht, wenn Ihr Euren Kopf heben würdet, damit ich Euer Gesicht sehen kann.“
Feine, aristokratische Finger umspielten mein Kinn. Mit zarter Gewalt hob sie meinen Kopf an, bis ihre mandelbraunen Augen in die Meinen sehen konnten. Alles an diesem Wesen war aristokratisch. Das Haar von einem blau schimmernden Schwarz, welches sie lang fallen ließ. Die Augen mandelbraun und mit einem liebenden Ausdruck und umgeben von geheimnisvollem Schatten, der sie für den Betrachter noch anziehender machte. Ihre Haut hatte nicht die raue Bräunung, welche die Bauern hatten, sondern die Natürliche der Südländer, welche jedoch nicht durch weitere äußere Beeinflussung verstärkt worden war.
Auch ihr Mund war von einer feurigen Versuchung, dass ich zitterte vor Erregung. Sie trug ein schwarzes Kleid, welches den Körper in sanfter Enge umspannte.
„Ihr Deutschen“, seufzte sie herrlich verträumt, „welch eine Wirkung diese Gesichter eurer Nation doch auf mich haben.“ „Sag‘ mir schöner Traum, warum suchst du mich heim?“
Die Gräfin lächelte herzerweichend freundlich. „Ich will dich nicht heimsuchen, nein, Jean, ich will dir helfen.“ Ich wich erschrocken von ihr. „Woher kennst du meinen Namen?!“ Verzweifelt nach mir greifend kniete sich Isabella neben mich. „Ich will dir doch nicht schaden und wieso sollte ich deinen großen Namen nicht kennen, den Namen eines jungen Mannes, der doch schon manches mehr geleistet hat als die weisen Herren?“
Sie schmeichelte mir, ein Schwachpunkt des eitlen Narziss ward getroffen, ich empfand keine Furcht mehr vor der Verführerin.
„Ich will dir helfen, ich will dich dieser Wirtstochter wieder genehm machen.“ „Oh, Sarah, ja. Ich habe sie nicht gerade nett behandelt.“ Mütterlich legte mir die junge Gräfin ihren seidenen Arm um die Schultern. „Die Launen der Weiber sind so wendig wie das Wetter. Habe nur Mut, bleibe immer festen Vorsatzes und du wirst sie wiedergewinnen als eine Helferin.“ „Aber kann sie mir denn Informationen liefern, welche ich benötige?“
Die Gräfin, die nicht anderes sein konnte als ein Trugbild meiner ureigenen Imagination, zuckte die Schultern und lachte wieder dieses glockenhelle Lachen, welches wie Musik klang. „Ich weiß was du weißt. Und wollen wir ehrlich sein, es ist bisher nicht viel. Aber eine Ortsansässige, die alle Mädchen kennt kann noch von großem Nutzen sein.“
Die Schlussfolgerung erschien mir logisch. „Gut ich werde deinen Rat beherzigen“, erwiderte ich scherzhaft im festen Wissen, dass ich es doch selbst war, der mir Ratschläge gab. „Wie soll ich sie denn wiedergewinnen?“
Zu meinem großen Erstaunen verfügte ich über Wissen, dem ich mir nicht bewusst gewesen war, denn die Gräfin riet mir mit einem Strauß frischer Sommerblumen bei ihr zu erscheinen.
„Ich werde dich jetzt verlassen, doch im Herzen bin ich nur einen Katzensprung von dir entfernt, Jean, schließe die Augen und du wirst mich erblicken“, flötete Gräfin Isabella zum Abschied. Alles verschwamm vor meinem inneren Auge, eine weiße Wand bildete sich…
Ich erwachte in der Düsternis meines Gästezimmers. Meine Taschenuhr zeigte 4 Uhr.
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Die Sonne war bereits hoch aufgestiegen, als ich mich aus meinem Bett erhob. Meinen Traum verdrängte ich bis auf weiteres. Was ich in meinem Zimmer erblickte waren Wände, tapeziert von Karten, auf denen wirre Gebilde aufgezeichnet waren, die mich schwindlig machten.
Schnell brachte ich meine Morgentoilette hinter mich, betrachtete mich eingehend im Spiegel und begab mich anschließend wieder in den Schankraum. Der alte Niklas leerte bereits einen großen Humpen, unruhig wippten seine Füße, er schien besorgt.
„Einen schönen Guten Morgen, Niklas!“, tirilierte ich frohgemutes. „Was sollte denn schön sein?“, fragte er verdrießlich in sein Bier.
„Wir haben wichtige Geschäfte vor uns. Wir müssen uns noch stärken und dann geht es los!“ „Danke, habe mich bereits gestärkt“, meinte er abweisend und hob den Humpen demonstrativ an. „Dies alles gestern, ich habe bei der ganzen Sache, trotz des Geldes, kein gutes Gefühl.“ „Wie meint Ihr das?“, fragte ich verwundert, während der Wirt, dank eines Fingerzeigs meinerseits, bereits dabei war mein übliches Frühstück zu besorgen.
„Ich meine, wir machen hier Dinge, die sind einfach nicht gut. Sie sind unheimlich, gefährlich. Verstehen Sie, wie ich’s mein?“ Natürlich verstand ich, es war wieder die kleinkarierte Angst dieser einfachen Leute vor Dingen, die sie sich nur durch Spuk konnten erklären und mehr war es auch nicht, doch für diesen Menschenschlag war dies schon zu viel.
„Heute sind es nur 2 Orte“, versuchte ich ihn zu besänftigen. „Trotzdem, die Dorfbewohner werden misstrauisch.“ Nun beugte ich mich vollständig zu Niklas hinüber. Die verquollenen Augen des Alten spiegelten Furcht, entsetzliche Furcht wieder. „Ihr habt doch hoffentlich niemandem von unseren Unternehmungen erzählt?“, kam es drohend von meinen, vor Erregung dünn gewordenen, Lippen. „Nein, nein, aber man sieht es doch, dass wir ständig zu diesen verfluchten Plätzen machen, das macht allen Angst, bitte, ich habe nichts erzählt, ich schwöre es bei meinem Leben!“, flehte der Alte weinend.
Gerade noch rechtzeitig konnte er sein Klagen einstellen, doch trotz dieses günstigen Zeitverlaufes, musste der Wirt mehr mitbekommen haben, als er hätte sollen. Dies verriet zumindest sein düsterer Blick, als er mein Frühstück auf den Tisch stellte.
„Was ist eigentlich mit den anderen Findern dieser jungen Damen?“, fragte ich beiläufig, auch um den armen Niklas davon abzuhalten, noch mehr Alkohol seine Kehle hinunterfließen zu lassen. Einen unfähigen Begleiter konnte ich nicht gebrauchen.
„Wie meint Ihr?“ „Ich meine, von dem dritten Mädchen sagtest du, haben es die Eltern selbst gefunden. Aber bei den anderen beiden nicht, oder?“ „Nein, das waren andere Leute, warum fragt ihr?“ „Weil ich heute auch zu ihnen fahren will. Ich brauche mehr Informationen.“
Der Alte nahm einen so tiefen Zug, dass ihm fast das Bier am Munde vorbeigeflossen wäre und sein Hemd besudelt hätte. „Nein, nicht das! Ihr könnt doch nicht einfach diese armen Menschen foltern, indem ihr sie nochmal damit quält, was wollt Ihr überhaupt von denen wissen?! Immer diese Informationen! Glaubt Ihr etwa, diese armen Menschen würden nicht schon ohne Euch genug leiden?!“, schrie mich der Alte mit leidenschaftlicher Verzweiflung an.
„Niklas, ich bezahle Euch, Ihr steht mir bei, aber das berechtigt Euch nicht, mir moralische Fesseln anzulegen! Wir werden heute die anderen Tatorte aufsuchen und wir werden auch die beiden Finder besuchen, haben wir uns da verstanden?!“
Erneut nahm Niklas einen tiefen Zug, brummelte etwas Unverständliches und antwortete schließlich kleinelaut: „Ja“.
Auch an den letzten beiden Orten des Verbrechens fanden wir schnell Zahlen und weitere Worte.
2 - dringt ein wildes Rufen
4 - will der Fürst der Hölle
Anschließend fuhren wir zu den Findern von Johanna Frohgemut, dem ersten Opfer.
Die Pilzsammlerhütte am Rande des Dorfes war klein, dunkel und ungemütlich. Ein alter Mann saß mir gegenüber, Niklas wollte nicht drinnen bleiben.
Rhythmisch strich sich der Alte durch seinen langen, grauen Bart, welcher bis zu seinem Bauchnabel reichte.
„Ihr habt Fräulein Frohgemut seinerzeit gefunden?“ „Ja!“, antwortete er mit einer Stimme, die mehr an ein Todesstöhnen erinnerte, als an normale menschliche Laute. „Warum waren Sie zu dieser Zeit im Wald?“ „Pilze sammeln!“, stöhnte er laut auf. „Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie an dem Ort waren, an dem die Leiche lag?“
Der Alte blickte nach oben, bohrte sich ausgiebig in der Nase und antwortete dann: „Totes Mädchen, das war komisch, dort liegen normalerweise keine toten Mädchen.“
Ich glaubte in eine Straße mit schnellem Ende eingebogen zu sein. „Ja, ich meine, gab es sonst noch irgendetwas Seltsames, irgendjemand anderen?“ „Mich, das tote Mädchen und einen weißen Mann, der schon weit weg war.“
Ich stutzte. „Ein weißer Mann?“ „Ja, weißer Mann, ganz weiß war der.“ „Wie sah er denn noch aus?“ „Weiß!“, würgte der Alte hervor.
Ich entschloss mich hier abzubrechen, denn nützliche Informationen waren diesem Herren nicht zu entlocken.
Der unglückliche Finder von Clara Schmitz, Nummer 5, war ein junger Bursche, vom gleichen kräftigen Schlage wie alle anderen auch. Mit einem Ausdruck von Bewunderung und gleichzeitiger ängstlicher Ablehnung sah er mich an.
„Warum waren Sie im Wald, als sie das Opfer fanden?“ „Ich habe meinem Vater Essen gebracht, ich wollte zu den Feldern. Da es ziemlich heiß war bin ich am Waldesrand entlang gegangen. Macht mich das gleich verdächtig?“, fragte er provozierend. Wenn er gekonnt hätte, wie er wöllte, dann hätte er seine großen Fäuste vor meiner Nase geschwungen.
„Haben Sie am Tatort etwas Merkwürdiges bemerkt?“ Er schüttelte seine kräftigen Haare durch die Luft. „Gut, da wir hier nicht weiter kommen, ich Ihnen allerdings deutlich mehr Verstand zutraue als dem Herren, den ich eben aufsuchte, möchte ich noch ein paar persönliche Fragen an Sie richten.“ Der Kerl hielt sich mit seinen mächtigen Händen den Kopf, als drohe er ihm gleich abzufallen. „Mein Gott! Ihr studierten Kerle versteht es aber lange Sätze zu bilden! Da weiß man doch am Ende gar nicht mehr was am Anfang war!“ Offensichtlich verhöhnte er mich, doch wer wäre ich, wenn mich dies auch nur im Geringsten tangieren würde?
„In welcher Beziehung standen Sie und das Opfer?“, fragte ich kühl. Da begann es sich in meinem Gegenüber zu regen. Er ballte die Fäuste, trommelte auf die dicke Tischplatte, und gebärdete sich auch sonst wie ein Wahnsinniger. „Das Opfer, der Herr steh‘ mir bei! Sie hieß Clara und war das schönste und wundervollste Weibsbild auf dieser Erde! Der Herr soll mich strafen und doch war es so, mit ihr hatte ich das Paradies bereits auf Erden. Doch was habt Ihr? Einen Stein als Herzen? Seid Ihr so einer, der alles nur kühl von außen betrachtet, für den alles nur ein verfluchtes Spiel ist?!“, schrie er übermütig durch den Raum, in den Tiefen seiner Augen brannte der Vorsatz sich auf den Verhassten, also mich, zu stürzen. So griff ich zu meiner einzigen Waffe, dem Geiste, dass er mich nicht im Stiche ließ.Â
„Bitte, beruhigt Euch. Natürlich habe auch ich kein Herz aus Stein, doch wie soll ich Fräulein Clara anders betrachten als ein bloßes Opfer, wenn doch niemand mehr von ihr zu berichten weiß. Erzählen Sie, sagen Sie doch bei den Göttern alles, was sie wissen“, beschwor ich den Wütenden mit beschwichtigenden Worten.
Ich sah seinen inneren Kampf, die Augen sind ein Spiegel in unsere tiefsten Untiefen der Seele, welche wir selbst manches Mal selbst nicht genau erforschen können. So erblickte ich in ihnen den Kampf zwischen meiner Vernichtung und der Bereitschaft zur Kooperation. Bange erwartete ich das Ergebnis dieses Kampfes. Vorsichtig, als würde man ihn sanft führen, bewegte sich mein Gesprächspartner wieder auf seinen Stuhl zurück, verblieb dort einige Sekunden stumm, mich musternd.
„Gut, ich werde alles erzählen. Aber ich schwöre, wenn Ihr wieder mit diesem überheblichen Tonfall beginnt, dann garantiere ich hier für nichts mehr.“ Ich nickte erleichtert ob der Tatsache immer noch lebendig zu sein.
„Kannten Sie auch die anderen Opf…ich meine bedauernswerten Mädchen?“ Mein Gegenüber massierte sich ausnehmend ruhig seine Handgelenke, vorbereitet, bei einer falschen Formulierung wieder zum Schlage anzusetzen, der mich ins Reich der Geister hinübertragen würde. „Schon, aber lange nicht so gut wie Clara.“ „Dann erzählen Sie mir wie sich diese ganzen unheimlichen Ereignisse abgespielt haben.“
Bevor er seinen Vortrag begann, nahm sich der Bursche einen Humpen voll mit Wein, stellte ihn auf den Tisch und begann seine Erzählung.
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Die folgenden Zeilen sind transponiert in meiner Sicht des Erzählens. Ich möchte dem geneigten Leser nicht eine solche grobschlächtige Sprache zumuten. Auch bleibt hier ausgespart, dass der arme Bursche sich nicht nur immerfort mit Wein betäubte, was gerade das Ende der Erzählung mir schwer machte zu verstehen. Auch brach er immer wieder in heftigste Gefühlsausbrüche aus.
Johanna Frohgemut musste ihrem Namen auf vortrefflichste Art alle Ehre gemacht haben. Sie war wahrlich eine Frohnatur. Immer zu Spaß und Schabernack aufgeregt und zwar in allen Dingen des Lebens. Selbst in der Liebe trieb sie ihre Spielchen, doch sie konnte es sich erlauben, gesegnet mit einer schon bald nicht mehr göttlichen, beinahe schon satanischen Schönheit und Verführungsgabe. Die Eltern waren besorgt, als sie wieder einmal des Nachts nicht nach Hause kam, doch dieses unstete Ding verbrachte die Nacht gerne in anderen Betten. Doch das Entsetzen der Eltern war bald überall zu spüren, als Johanna auch in den folgenden 2 Tagen nicht erschien. Da kam plötzlich der Pilzsammler an und vermeldete, er habe das Kind im Wald gefunden, ein weißer Mann habe es ermordet.
Die Eltern wehklagten schrecklich und nur dem Eingreifen eines Beamten aus der Stadt A war es zu verdanken, dass die Dorfbewohner den wirren Kerl nicht eigenhändig aufknüpften.
Genauso schnell, wie man den Pilzsammler bereits wollte den Tanz mit dem Hanfstrick vollführen lassen wollte, ebenso schnell hatte man davon abgelassen. Die satanischen Symbole auf dem Körper der Toten sprachen eine zu deutliche Sprache, hier musste der Fürst der Hölle seine Hände selbst im Spiel haben. Doch damals glaubte man alleinmit frommen Worten und noch tieferer Gläubigkeit alle dunklen Schatten von dem Dorfe abzuwenden. Doch das Gegenteil war der Fall. Es verschwand schließlich Dorothea Köhler, ein nicht minder hübsches aber doch äußerst frommes Mädchen, gerade, als sie eines Morgens, in aller Frühe, ungesehen von allen anderen Dorfbewohnern, sich zur Kapelle aufmachte. Satan hatte seine Krallen wieder ausgestreckt, diesmal nach einer frommen Dienerin des Herrn, er schien keine Schranken des Glaubens nicht überspringen zu wagen. Man kann den ungläubigen Schmerz dieser einfachen Leute verstehen, wenn man bedenkt, dass jene für sie hilfreichste Instanz sie nun selbst verlassen hatte.
Immer argwöhnischer wurde man mit der Außenwelt, jeder Fremde konnte der Teufel selbst sein, der nach dem nächsten Opfer griff. Trotz hoher Wachsamkeit beging man das große Sommerfest, ausgelassen feierte man und ließ alle Vorsicht fahren. Und genau da, als alle glaubten, es sei nichts gewesen, da bemerkte man, dass Maria Träger verschwunden war. Sie hatte, wie all die schönen jungen Weiber, mit allen Burschen ausgelassen getanzt. Doch jeder schwor mit ihr nirgendwohin gegangen zu sein. An einen seltsamen Menschen habe man sich erinnert. Er war ebenfalls festlich gekleidet, doch die Kleider waren abgenutzt und alt. Trotzdem konnte sich niemand mehr genau an ihn erinnern, jedoch musste er der Teufel gewesen sein, der die arme Maria in ihr Verderben gelockt hatte.
Zu jener Zeit erschienen immer häufiger gelehrte Gutachter, die dem Spuk ein Ende machen wollten, doch keiner fand etwas Merkwürdiges, geschweige denn konnte auch nur zu einem Ergebnis kommen als dem, dass es sich wohl um einen Serientäter handle, der mitnichten übernatürlicher Natur sei. Â
Doch dann war es einer der Gutachter, welcher den Verstand verlor. Er sprach von einem Zauberwesen, welches durch die Wand getreten sei, gekleidet in die Gewänder eines zerlumpten Taugenichts, welcher die arme Gertrude, Opfer Nummer 4, mit sich nahm, als seien die festen Wände aus Wasser. Geschockt von jenem Anblick hätte er nichts unternehmen können. Als schließlich die von ihm gerufenen Eltern und bald das ganze Dorf nach der Verschleppten suchten wurden sie erst am kommenden Morgen, als die Bluttat bereits vollbracht worden war, gefunden. Der Gutachter wurde in die Hände von Dr. Schmidt gegeben, welcher es dahin brachte, dass der arme Mensch bald bar jeder Gefühlsregung geworden war, ohne Regung sprach und somit zu einem freud- und leidlosen Geschöpf wurde, für welches der Tod die größte Gnade war. Heimlich hatten die Eltern der Toten allen Dorfbewohnern von dem Bericht des Verwirrten erzählt, denn der mächtige Doktor verbat es allen auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Schließlich ging man dazu über ein jedes Haus zu bewachen, strengst Kontrollen herrschten überall. Die ständige Angst ergriff nun jeden, keiner konnte sich mehr seines Lebens sicher sein. Da geschah es in einer Nacht, dass man plötzlich das Bett von Clara Schmitz leer fand. Der arme Bursche, deren größter Schatz sie war, hatte sie noch kurz zuvor bewacht und war nur kurz herausgegangen, damit der Nächste über den Schlaf seiner Geliebten wachen konnte. Auch hier konnten die sofort eingeleitete Suche das arme Mädchen nicht mehr retten.
Mehr ist nicht zu berichten, denn der arme Unglückliche war nun schlussendlich dem Weingeiste in so starker Weise verfallen, dass er nur noch unverständliche Worte brabbelte und schließlich gänzlich einschlief. Doch ich hatte alles manierlich notiert, selbst den weißen Mann des alten Pilzsammlers, den auch die Ansässigen für die Illusion eines, schon lange Zeit vollkommen verwirrten Geistes halten.
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Es war bereits Abend geworden, während mir der Bursche all dies lallend erzählt hatte. Und nicht jede Information hatte er sich so bereitwillig herauslocken lassen, wie es dem Leser durch meine Transponierung erscheinen mag.
So ging ich noch spazieren, es war ein besonders milder Abend. Langsam musste der Sommer dem Herbst weichen und doch blühten noch die letzten Sommerblumen mit letzter Kraft der Verzweiflung gegen ihr unausweichliches Schicksal an. Da wurden mir wieder die Worte meiner Traumfigur gewahr, das ich für Sarah einen Strauß solle pflücken. Und ich tat dies mit größter Sorgfalt. Während ich mich so beschäftigte vergaß ich glatt alle dunklen Dinge, welche ich gehört hatte und die sich wie ein düsteres Puzzle vor mir erstreckten.
Beseelt vom Gedanken Sarah wieder für meine Zwecke zu gewinnen bat ich ihren Vater darum sie persönlich und allein sprechen zu dürfen. Gräulich zierte sich lange, er war nicht erpicht darauf seine Tochter erneut in einem ähnlich zerstörten Zustand wiederzufinden, wie nach unserem letzten Gespräch. Doch auch hier waren es schmeichelnde Worte, die mir schließlich die Möglichkeit eröffneten, dass sie in meine Kammer durfte.
Als Sarah in meine Kammer trat wurde ich erneut ihrer groben und doch herrlichen Schönheit gewahr. Tiefste Sehnsucht ergriff mich, doch was wäre ich für ein Mensch gewesen, wäre ich vor sie niedergefallen und hätte heiße Tränen uns Schwüre ausgestoßen? Ich bat sie sich zu setzen und überreichte ihr den Strauß, welchen sie freudig und doch zögernd entgegen nahm. „Herr Klinger, was soll das bedeuten?“ „Es ist eine geringe Entschuldigung dafür, dass ich dir so wehtat, als du mir helfen wolltest. Und ich glaube du nanntest mich bereits Jean.“ Sarah nickte und musste dann selbst über ihre übertriebene Förmlichkeit lachen. Es war ein herzliches, beseeltes Lachen aus tiefster Brust intoniert, voller Ehrlichkeit, dass ich liebte. In der Stadt lachen die Menschen immer so gekünstelt und falsch, was einem schlagartig klar wird, wenn man einem so wunderbar reinen Wesen begegnet.
„Die Blumen sind wunderschön, danke, Jean“, sprach sie und mein herz schien mir in diesem Moment überzugehen. So hatte ich noch nie gefühlt und doch wusste ich es zu verbergen. „Man hört, dass du bei einigen Dorfbewohnern warst, man ist misstrauisch dir gegenüber.“ Ich nickte. „Leider glaubt mir keiner so recht, dass ich helfen will, aber ich erfuhr heute einige Dinge, die mir verständlich machen, wieso das so ist.“ Sarah beugte sich interessiert zu mir herüber. „Was für Dinge, von wem?“ „Der Freund von Fräulein Clara hat es mir erzählt.“ „Klaas, ja, der Ärmste. Der Tod von Clara hat ihn schwergetroffen. Er trinkt jetzt häufig und viel, sie war sein ein und alles.“ Ja, das hatte ich auch schon bemerkt, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Jetzt weiß ich was geschehen ist, aber ich muss wissen was noch geschehen wird, damit man diesem Kerl das Handwerk legen kann, also brauche ich jemanden, der mir helfen kann. Sarah, würdest du mir helfen wollen?“ Ich sah, dass sie sich zutiefst geschmeichelt fühlte und doch ein wenig Angst davor hatte, ausgerechnet mir helfen zu wollen. „Aber was soll ich denn schon tun können?“ „Der Täter mordet junge Frauen, welche ein bestimmtes Alter haben und ein bestimmtes Aussehen. Du kennst doch alle im Dorf, ich muss wissen, wer noch getötet werden könnte.“
Sarah nickte und verstand meine Not. Dafür hätte ich sie innig küssen können, denn sie war die einzige Person im Dorf, welche mir wahrlich helfen konnte und wollte. „Ich würde dir ja gerne seine Frage beantworten, doch ich glaube kaum, dass ich das heute noch fertig bringe. Ich muss meinem Vater gleich wieder helfen und mein Kopf ist gerade leer. Komm bitte morgen wieder, dann kann ich dir Namen nennen.“
Ich war erschlagen. Erst Dankbarkeit und die Aussicht auf Hilfe, welche plötzlich in wenigen Sekunden wie ein Betrunkener Zecher gegen eine Wand knallt. Nochmals versuchte ich sie zu bestürmen, doch es brachte nichts, ihr holdes Gesicht blickte mich freundlich an, doch war ich mir sicher, dass sie noch nicht bereit war mir zu helfen.
So blieb ich unverrichteter Dinge allein in meinem Zimmer zurück, eine mächtige Müdigkeit überkam mich, welcher ich mich schließlich gänzlich ergab.
„Jean, bitte setz dich neben mich!“, forderte mich Gräfin Isabella auf. Erneut befand ich mich an diesem konturenlosen Ort, der nur eine Erhebung kannte, welche man als Sitzgelegenheit für zwei nutzte. „Oh Gräfin, ich bin zutiefst erschüttert. Folglichst befolgte ich Euren Rat, doch Sarah verweigert mir weiterhin ihre Mitarbeit, sie ist mir jetzt aber milde gestimmt. Doch was soll dies alles nutzen, frage ich Euch? Was soll ihre Liebenswürdigkeit mir gegenüber, wenn sie keine Früchte tragen kann, die ich doch aber so dringend benötige? Verkennt sie die Situation, die Ernsthaftigkeit, was…?!“
Die Gräfin zog mich mit sanfter Gewalt zu sich heran. „Ruhig, ruhig, mein Lieber“, säuselte sie mir, mir ihrer glockenhellen Stimme ins Ohr. „Frauen etwas zu entlocken bedarf größerer List als nur ein Strauß der schönsten Blumen. Sie will dich doch morgen wieder sprechen?“ Ich nickte nur und ergab mich in die herrliche Behaglichkeit süßer Düfte, die mich umgaben. „Schenke ihr etwas. Zeige ihr, wie wichtig sie für dich ist. Sie muss spüren, dass sie eine wichtige Informantin ist, dann wird sie dir bereitwillig helfen.“ „Aber wie kann ich sichergehen, dass sie ihre Position nicht ausnutzt?“, fragte ich unruhig. Vorsichtig strich mir die Gräfin über meinen Kopf, als wäre er eine seltene Reliquie. „Sie will dich doch sprechen, sie wagt es nicht dir etwas abzuschlagen. Mit der Zuwendung bestärkst du sie darin bloß und du wirst noch mehr erfahren als du wissen wolltest. Glaube mir, es wird so kommen.“
Zweifelnd erhob ich mich von ihrer sanften Schulter. „Und wenn nicht?“ Das Gesicht der Gräfin zeigte plötzlich ernsteste und leidenschaftlichste Entschlossenheit. „Dann werde ich dafür sorgen, dass sie dir alles preisgibt, mir kannst du vertrauen, Jean“, entfuhr es ihr so liebevoll gegen mich und gleichzeitig so hart gegen Sarah, dass ich mein Herz sich verkrampfen fühlte. „Nein, bitte, entsetzte dich nicht vor mir, Jean! Das mag ich nicht sehen!“, rief mir meine Imagination entgegen und schlang ihre langen Arme um mich. „Vergiss nicht, dass ich immer bei dir bin“, erklang es flehend aus ihrem feuerroten Munde.
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Des Morgens arbeitete ich an meinen Notizen uns versuchte mir ein Bild von der Situation zu machen. Zwar war alles jetzt deutlicher vor mir, doch konnte ich immer noch nichts dazu sagen, wer denn nun der Täter war, es blieben vage Vermutungen ohne Gehalt.
Da ich auf logischem Wege nicht mehr voran kam zog ich das schwere, schwarze Buch von Dr. Schmidt unter meinem Bette hervor. Zuvor vergewisserte ich mich, dass meine Kammer abgeschlossen war. Es sollte niemand einfach eindringen und mich mit diesem Buche sehen. Die Folgen dieses Anblickes wollte ich mir gar nicht ausmalen. Vielleicht würde ich zum ersten Gutachter werden, welcher von den Dorfbewohnern durch Lynchjustiz zu Tode kommen würde.
So blätterte ich durch das gewaltige Werk. Die Schrift war in schwarz und rot gehalten. Obskure Symboliken und Illustrationen von schauerlicher Realität sprangen mir entgegen. Mehrmals durchfuhr mich ein eisiger Schauer beim Betrachten der Seiten.
Und dann fand ich plötzlich, was ich gesucht hatte. Mehrere Seiten, angefüllt mit den Symbolen, welche in die Körper der toten Mädchen geritzt worden waren. Sie lachten mir höhnisch entgegen. Fiebrig griff ich nach meinen Notizen, verglich sie mit dem Geschriebenen.
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Aus dem Schlund der Hölle,
dringt ein wildes Rufen,
noch einen Tropfen Blut saufen,
will der Fürst der Hölle.
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Er will den Lebenssaft zu fassen kriegen,
zur Erweckung seiner Diener,
lasst ihn sprudeln wie der Schlachtensieger,
damit auch wir auf Erden regieren!
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Natürlich, es fiel mir wie Schuppen von den Augen! Eine jede dieser schrecklichen Zeilen fand sich beim Symbol der armen Toten. Und der Täter hatte sich sogar Mühe gegeben alles zu nummerieren, zur Erleichterung der Ermittlung.
Wie besessen kopierte ich jene Seiten. Mit jedem Worte schien es mir kam ich einen Schritt weiter. Doch dann stoppte bei der letzten Verszeile. Kein Symbol befand sich daneben, sondern die Darstellung einer Person in der Haltung eines ungeborenen Kindes. Die Figur umklammerte ihre Beine, welche sie ganz nah an den Rumpf gezogen hatte und den Rücken in Richtung der Beine gebogen hatte als versuche sie die beste Haltung für eine Rolle vorwärts zu finden. Verzweifelt und verwirrt blätterte ich durch das Buch, jedoch fand ich keine weiteren Anhaltspunkte. Doch war mir jetzt klar, dass der Mörder nach einem bestimmten Muster vorging, er also diese okkulten Schriften kennen musste. Und auch etwas Anderes wurde mir schlagartig klar: Es würde noch drei weitere Opfer geben, bis der unheilige Effekt eintrat. Was jener sein sollte erschloss sich mir jedoch nicht. Die weiteren Sätze auf jenen Seiten waren in einer mir unbekannten Schrift verfasst, lediglich die satanischen Verse waren lesbar gewesen.  Â
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Nachmittags ging ich mit meinen Aufzeichnungen, welche ich in einer Mappe notdürftig zusammengerafft hatte, hin zu Sarah. Bei mir trug ich überdies noch eine Kette, welche mir Mutter einst geschenkt hatte, sie sollte mich vor bösen Wesen beschützen. Wie ich damals hatte lachen können, als sie sie mir schenkte. Eine Kette gegen ihre wilden Bestien, von denen sie mir jeden Abend erzählte, wie andere Menschen von nahen Verwandten. Ich hatte diesen kleinen Schatz immer getreulich unserer Abmachung vor Vater versteckt und doch immer bei mir getragen.
Heute erschien mir dieser Schutz plötzlich wichtig, weshalb ich Mutter aus tiefstem Herzen dankte.
Ich muss nicht erwähnen, welch eine Freude ich Sarah mit jener Kette machte. Sie herzte und umarmte mich so stürmisch, dass ich fast zu Boden gefallen wäre. Doch da sie es war, die jenes Manöver ausführte machte es mir gar nichts, im Gegenteil. Erneut fühlte ich jene verborgenen Gefühle in mir aufkeimen, welche ich niemals zuvor in Gegenwart eines Frauenzimmers empfunden hatte. Selbst die eingebildeten Gefühle gegenüber meiner nächtlichen Imagination waren glimmende Glut im Vergleich zu den hohen Flammen, welche diese Wirtstochter in mir schürte.
„Was für eine wunderschöne Kette, kannst du sie mir anlegen?“, fragte sie mich und entblößte dabei bereits ihren Nacken, damit ich ihr den Schmuckgegenstand leicht anlegen konnte. Bei der Ausführung dieser Tätigkeit stieg mir der Geruch eines warmen Sommertages in die Nase. Meine Hände zitterten, als ich,Â