Treppenhausblues
Hier sitze ich nun. Früh am Morgen um sieben Uhr. Ich kann es selber kaum fassen, dass es so weit gekommen ist. Wäre ich doch bloß nicht aufgestanden, hätte ich doch bloß nicht die Katze ... Hätte bloß nicht das Telefon geklingelt, gerade in diesem Moment! So früh am Morgen! Ich kann es nicht fassen! Hätte ich nur nicht den Hörer abgenommen, dann wäre das alles nicht passiert! Hätte der Gärtner doch bloß nicht angerufen! Wegen so einer Kleinigkeit ... Für mich ist es jedenfalls eine Kleinigkeit. Es gibt so viel größere Probleme auf der Welt, aber der Gärtner beharrte auf seinem Standpunkt. Schließlich gab ich wohl oder übel nach und damit begann die ganze Misere.
Es ist kalt und dunkel. Nur die Straßenlaterne vor dem Haus spendet ein wenig Licht. Nasse Blätter liegen auf der Straße – es riecht nach Herbst. Irgendwo bellt ein Hund. Hoffentlich ist er angeleint ... Meine Katze kann Hunde nicht ausstehen. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass ich im Moment gar keine Armbanduhr um habe. Wie auch ... es ging alles so furchtbar schnell – ich lief los und dann der Knall ... Die Sekunde, die alles verändert hat. „Das Leben ist so ungerecht!“, denke ich verzweifelt und heule schon wieder los. „Ich hasse den Gärtner!“, rufe ich aus, das Echo meiner Worte hallt laut im Treppenhaus wider. Es hört sich unheimlich an. Niemand antwortet. Ich sehe alles durch einen Schleier voller Tränen, meine Augen brennen. Hätte ich bloß Hausschuhe an ... Dann beiße ich die Zähne zusammen und denke: „ Es ist jetzt so, wie es ist. Ich muss mich einfach damit abfinden und aufhören zu jammern ...“ Eine Welle von Selbstmitleid überfällt mich trotzdem und ich schluchze laut auf, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Mein Bademantel sieht schäbig aus und wirkt abstoßend. Wie viel Jahre habe ich das olle Ding eigentlich? Ich denke darüber nach, wann ich das letzte Mal Sachen in den Altkleidercontainer geschmissen habe .... Das muss schon ewig her sein! Ich fühle mich wie eine Obdachlose. In diesem Aufzug kann ich dem Gärtner jedenfalls unter gar keinen Umständen vor die Augen treten! Doch was soll ich tun? Die Zeit arbeitet gegen mich. Meine Katze kommt von ihrem morgendlichen Streifzug zurück und sieht mich fragend an. Gerade will ich sie aufklären, da kommen Saskia und Benedikt die Treppe hinuntergepoltert. Sie sind Schulkinder, gehen in die dritte oder vierte Klasse. Mit aufgerissenen Augen starren sie mich an – jetzt fühle ich mich endgültig wie ein Alien. „Halt, wartet!“, rufe ich verzweifelt. „Habt ihr zufällig ein Handy dabei?“ Doch die Kinder antworten nicht. Dann rennen sie davon, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sehe ich wirklich so abstoßend aus? Ich will mir unwillkürlich durchs Haar fahren und berühre etwas Hartes. Lockenwickler! Auch das noch! Vielleicht ist es das, was die Kinder so erschreckt hat ...? Saskia stolpert und fällt fast die letzten Stufen herunter. Zum Glück kann sie sich noch abstützen. Meine Wut auf den Gärtner nimmt Auswüchse an. Verzweifelt kauere ich auf der Treppe wie ein Häufchen Elend. Was wird passieren, wenn ich nicht handle? Aber wie soll ich denn barfuß und bei dieser Kälte überhaupt etwas unternehmen? Wieso sind die anderen Nachbarn nicht da? Sind sie schon zur Arbeit gefahren? Schlafen sie noch? Ich traue mich nicht, bei irgendwem zu klingeln. Schließlich wohne ich erst drei Wochen hier und habe mich noch nicht einmal überall vorgestellt. Ich grübele und grübele. Kann ich das Unglück noch verhindern?
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich wieder wach werde, ist es bereits hell. Ich verspüre Hunger, einen Wahnsinnshunger. Plötzlich kommt ein Pizzalieferant im Treppenhaus hochgelaufen und sieht mir direkt in die Augen. „Haben Sie das bestellt?“, fragt er mich unvermittelt. Wenn ich Geld dabei gehabt hätte, hätte ich sofort „ja“ gesagt, doch leider muss ich nur mit dem Kopf schütteln. Der Pizzamann sieht mich mitleidig an und sein Blick scheint zu fragen: „Wieso laufen Sie um diese Zeit noch im Bademantel herum?“ „Der Gärtner war`s!“, rufe ich ihm hinterher und stürze hinaus. Ich weiß, dass es bereits zu spät ist.
Dann sehe ich gerade noch die Rücklichter des Abschleppwagens und wie der Gärtner seinen baufälligen Truck auf meinen alten Parkplatz stellt.