Die Wahrheit und die Reue
Ich war derweil 18 und war mit meinem damaligen Freund zuhause. Das Telefon klingelte und ich ging ran. Da ich nie meinem Namen sage, sondern nur „Ja bitte?“ erkannte mich der an der anderen Leitung nicht. Er sagte seinen Namen, und ob Frau M. zuhause wäre. Ich erkannte natürlich wer das war, mein Vater.
Ich sagte aber nur stotternd das meine Mutter nicht zu hause wäre, worauf hin auch mein Vater das Stottern anfing, weil er nun erkannte wer ich war. Wir legten auf und ich freute mich plötzlich so sehr, dass ich mich setzen musste. Ich hatte meinen Vater gehört, meinen Vater, den Kindermörder. Das klang so falsch in meinen Ohren. Er hatte eine sanfte Stimme, tief und ruhig. So klingt kein Mörder dachte ich mir und beschloss etwas. Ich wollte meinen Vater kennenlernen.
Ich erzählte meiner Mutter davon, die wenig begeistert war von der Idee, aber ich war zum Glück 18 und so hatte sie keinen Grund mir das zu verbieten. Sie warnte mich allerdings eindringlich vor ihm. Bis der Besuch dann stattfand war ich schon 19, und so lernte ich endlich meinen Vater kennen. Ich fuhr mit der Schwester meines damaligen Freundes und dem Freund mit. Die Schwester fuhr weiter nach Dänemark und ich stand mit dem Freund auf dem Hof des Hauses meines Vaters. Er stand oben auf einem Balkon, rief meinen Namen und kam kurz darauf aus dem Haus geeilt. Ich sagte nur „Papa“ und wir umarmten uns und weinten beide.
Wenig später saßen wir bei Tee in der Küche und ich musste es einfach wissen. Ich erzählte ihm von dem Wenigen was ich von meiner Mutter wusste. Er war erstaunt und betroffen über das, was er hörte. Und dann erzählte er mir die ganze Geschichte.
Er war damals, ich muss so sechs Jahre alt gewesen sein, Krankenpfleger in meiner Geburtsstadt, also in dem Krankenhaus in dem auch ich geboren bin. Auf einer Station die er und seine Kollegen betreuten lag ein Kind, das da von Geburt an lag, es war derweil 8 Jahre alt. Dieses Kind war an Maschinen angeschlossen die alles für das Kind regelten. Das einzige, was das Kind konnte, war atmen und selbst da musste manchmal eine Maschine nachhelfen. Das Kind konnte nichts sehen, nicht sprechen, anscheinend auch nicht hören. Es war komplett gelähmt, kommunizierte in keiner erkennbaren Weise mit seinem Umfeld. Das Kind hatte eine Mutter, die war drogenabhängig. Sie kam oft in das Krankenhaus um das Kind von der Station zu holen. Sie versuchte sich dann mit dem Kind zusammen umzubringen, auf verschiedene Art. Das ist ihr nie gelungen. Das Kind kam wieder auf die Station und fristete weiter sein unbestimmbares Dasein. So vergingen die Jahre und die Lage spitzte sich immer mehr zu. Es entwickelte sich eine Dramatik die auf der Station kaum noch auszuhalten war.
Eines Tages beschlossen die Pfleger und mein Vater gemeinsam, die Beatmungsmaschine auszuschalten. Und als das Kind beim nächsten mal Beatmung nötig gehabt hätte, ist es gestorben.
Meiner Meinung nach ist es die richtige Entscheidung gewesen. Aber jeder mag das selbst bewerten wollen, wenn ich auch mir und allen anderen eine Meinung darüber verbieten würde, da keiner beurteilen kann wie es ist, dies über Jahre zu erleben.
Ich wunderte mich sehr darüber warum meine Mutter, die auch im medizinischen Bereich arbeitet, derart krass reagiert hatte.
Als ich wieder zu Hause war, erzählte ich ihr die Geschichte. Sie war erschüttert, weinte sich aus und bereute, das sie damals nie hinterfragte was genau passiert war. Ihre Version war von der Polizei überliefert, die von ihr eine Zeugenaussage wollten und ihr knapp berichteten was passiert war. Meine Mutter eine gelehrte Frau, hat damals gleich geschaltet und sich gesagt: „Charakter vererbt sich zu 50%, ich muss aufpassen, dass aus meinem Kind kein Mörder wird“
Und das beichtete sie mir dann auch. Und entschuldigte sich damit für die jahrelange sehr harte Erziehung.