Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de
Während die drei sich von Martin bewirten ließen, saß Herzog Jean Montierre an einem kleinen, runden Steintisch auf dem recht großen Balkon der xendorischen Botschaft, genoss die angenehm kühle Nachtluft und wartete auf Prinzessin Filiana.Diese erschien wenig später in einem langen, silbrigen Kleid aus feinster Seide.
„Verzeiht, Herzog, dass ich Euch warten ließ. Ich hatte Eure Ankunft erst am morgigen Tage erwartet“, sagte sie.
„Oh, ich habe gerne gewartet, Eure Hoheit“, gab Montierre zurück, wobei er aufstand und sich verbeugte, „Falls dieser Zeitpunkt Euch ungelegen sein sollte, kann ich gerne morgen zurückkehren.“
„Nein, bleibt nur, Herzog. Je eher desto besser“, sie nahm Platz, worauf auch er sich wieder setzte, „Kann ich Euch etwas anbieten? Wein, Tabak?“
„Oh, ich bin zu Dank verpflichtet, Eure Hoheit. Doch nichts der Gleichen.“
„Ihr seid ein bescheidener Mann, Jean Montierre. Ganz im Gegensatz zu Eurem Vertrauten de Nord, wie mir scheint.“
„Der Charakter des Marquis mag den einen oder anderen Makel aufweisen, jedoch verhält er sich ebenso, wie man es von einem ledrianischen Adligen erwartet. Und wenn er zu seinem Wort auch nur aus Hochmut steht, er steht dazu, und das ist in Galor schon mal etwas Gutes.“
„Und doch schien mir in all seinen Gebärden mehr zu liegen als die Arroganz eines einfachen Adligen, viel mehr die Würde eines Königs.“
„Ein König ist er wahrlich nicht. Ich muss gestehen, bevor ich ihn kannte, hatte ich noch nie von der Familie de Nord gehört“, berichtete der Herzog, „Aber das mag nichts heißen. Ich belege daheim keine besonders wichtige Position am Königshof. In den fünfundsiebzig Jahren meines Lebens war ich kaum zehn Mal in Velorien.“
Das Alter des Herzogs war in Bezug auf sein durchaus jung wirkendes Äußeres nicht sonderlich erstaunlich, da Menschen der Gebrochenen Welt durchschnittlich zweihundert Jahre alt wurden, obwohl ein Jahr der gebrochenen Welt 408 Tage besaß, und sich das Alter auf das Äußere eines jeden Kalatariers anders auswirkte. So veränderten sich manche vom dreißigsten bis zum hundertfünfzigsten Lebensjahr absolut nicht, während andere schon mit dem fünfzigsten starke Alterserscheinungen zeigten.
Jedoch wurde auch von Menschen berichtet, die über dreihundert Jahre im Diesseits verweilt hatten.
„Allerdings“, fuhr Montierre fort, „hoffe ich, dass de Nord nicht der Grund Eurer Einladung war.“
„Nein, das war er in der Tat nicht“, gab die Prinzessin mit einem verlegenen Lächeln zurück, „Allerdings tat auch er etwas zu diesem Treffen dazu, denn es sind seine Worte, die ich gerne aus Eurem Mund hören würde. Ich weigere mich nämlich, zu glauben, dass sie den Euren entsprechen, Herzog.“
„Ich hatte bereits befürchtete, dass Euch unsere Ziele nicht gefallen würden, Eure Hoheit.“
„Nicht gefallen?“, keuchte Filiana, „Montierre, Ihr und der Marquis setzt euch über alles hinweg, was in Galor einmal Bedeutung hatte! Sollte nun selbst die Stimme des Rates, meine Stimme, nicht mehr von Belang sein?“
„Nein, natürlich…Eure Hoheit, Eure Stimme ist stets von Belang“, versicherte der Herzog.
„Dann hört auch auf sie!“, rief Filiana, „Herzog, wie könnt Ihr, wie könnt Ihr für die Hoffnung auf einen Lohn im Jenseits jede Moral im Diesseits brechen?“
„Ich maße mich ungern an, Eure Worte in Frage zu stellen, Eure Hoheit, doch unser Handeln ist keinesfalls unmoralisch. Es ist eigentlich genau das, was der Iurionismus in diesem Fall vorsieht.“
„Ledrianer, Serpendrianer…ihr und euer Iurionismus, der alles so schön rechtfertigt: Arroganz, Rassismus, Morde“, seufzte Filiana.
„Aber, Eure Hoheit, der Iurionismus rechtfertigt unter keinen Umständen…“, erwiderte der Herzog rasch, „Gut, er, er mag drakonisch erscheinen mit all seinen Blutsurteilen…und ich teile auch nicht all seine Ansichten, ganz sicher nicht…aber sein Kern, einen jeden Menschen nur nach seinen moralischen Werten zu richten und die Ideale über alles andere zu stellen, den halte ich für wahrer, als es Erlöserglauben oder Mondkult je sein könnten.“
„Ich…ich hatte Euch immer für einen vernünftigen, für einen guten Mann gehalten, Jean. Nicht so wie de Nord, aber…aber augenscheinlich seid Ihr genauso ein Fanatiker wie er“, schluchzte die Prinzessin, während vereinzelte Tränen über ihre Wangen rannen. Der Herzog betrachtete sie kurz mit geweiteten Augen, bevor er mit schwacher, melancholischer Stimme fortfuhr:
„Ihr haltet mich für…? Aber wie könnte ich denn…?“, er hielt erneut inne, schniefte, blickte mit glasigen Augen zum Himmel, bis er sie schließlich wieder auf Filiana senkte, „Ich bitte, offen zu Euch sprechen zu dürfen, Eure Hoheit.“
„Das ist nichts, um das Ihr bitten müsst. Eigentlich hatte ich das von einer ehrenhaften Person wie Euch erwartet.“
„Nun, es ist…ich weiß nicht, wo ich beginnen soll“, stammelte Jean, „Ich stecke, in einer Sackgasse, Eure Hoheit. Ich stehe auf einem Platz, auf dem ich nicht verweilen kann. Etliche Wege führen von ihm weg, doch jeder von ihnen ist der falsche. Jeder von ihnen wird wieder nur auf einen anderen Platz führen, der dem ersten um nichts nachsteht. Und wen auch immer ich nach dem Weg frage, der gibt mir einen Rat, aber ich weiß, dass er falsch ist, dass in jedem Rat doch nur der Eigennutz steckt. Entweder wollen sie einen guten Platz im Jenseits oder einen Platz auf den Schiffen…sie sind alle gleich. Ich weiß nicht weiter; nicht, auf wen ich noch hören soll…“
„Hört auf Euer Herz, Herzog!“, sagte Filiana unter kurzem Augenaufschlag.
Doch Montierre lachte nur spöttisch:
„Wisst Ihr, was der Iurionismus über das Herz sagt, Eure Hoheit? Er sagt, es sei der kreatürliche Teil des Menschen, die triebhafte Schwäche. Wahrer Mensch ist nur der, der auf seinen Willen hört und auf Gottes heiliges Prinzip.“
„Aber wie kann jemand einen Willen haben, ohne ein Herz zu besitzen? Wonach wollt Ihr streben, wenn nicht nach dem, was Euer Herz sagt? Wäret Ihr nicht ohne Euer Herz ein Schiff auf dem weiten Ozean, ohne Karte, ohne Kompass?“
„Ich…weiß es nicht“, gestand Montierre, „Ich fürchte, ich brauche Zeit, darüber nachzudenken.“
„Aber wir haben keine Zeit!“, drängte Filiana, „Farruk kocht vor Wut und ich fürchte, dass auch de Nords Hass mitnichten kleiner wird.“
„Wahrlich nicht“, seufzte der Herzog, „Wie ich bereits sagte: Jeder Ausweg ist falsch.“
„Dann müssen wir vielleicht einen falschen Weg gehen, zumindest einen, der weniger falsch ist, als die anderen.“
„Das mag sein, doch Eure Hoheit, ich brauche Zeit!“
„Dann geben wir ihnen wenigstens etwas, Herzog. Lasst uns ihnen zumindest etwas in Aussicht stellen. Ein Ball am Ende dieser Woche, was sagt Ihr? Wir werden dann bekannt geben, wie wir uns entschieden haben.“
„Ein Ball trotz der Nahrungsmittelrationierung? Nun ja, das würde sicherlich nicht nur Farruk gefallen…meinetwegen, sofern Ihr nicht von mir verlangt, mich auch noch darum zu kümmern.“
„Nein Herzog, seid unbesorgt, das werde freilich ich übernehmen. Versucht Ihr nur, eine Entscheidung zu treffen, eine gute Entscheidung.“
„Seid versichert, Eure Hoheit, ich werde mein Bestes geben“, versicherte er, erhob sich, küsste ihre Hand und wandte sich anschließend zum Gehen.
Merkwürdigerweise schien es niemanden zu interessieren, dass zehn vollgerüstete, ledrianische Soldaten gemeinsam mit dem Marquis, der hoch zu Ross saß, von Ferren quer durch das delionische Viertel geführt wurden, sodass sie recht schnell in die Nähe des Hauses gelangten, in dem die Todesanbeter mit ihrem Tunnelbau begonnen hatten. Dort wagten es dann doch drei delionische Wachsoldaten, sich der Gruppe in den Weg zustellen.
„Halt!“, brüllte ihr Feldwebel, bevor er auf Ferren deutete, „Das ist ein gesuchter Verbrecher.“
„Er steht“, begann Lucian, „unter dem Schutz des Marquis de Nord, dessen Urteilskraft ihr natürlich gerne anzweifeln dürft. In Anbetracht meiner bewaffneten und äußerst elitären Garde würde ich euch davon allerdings abraten.“
„Ähm ja, dann…“, stotterte sein Gegenüber, „sagt uns wenigstens, was Euch dazu bringt, mit Euren Truppen in diesem Viertel herumzustreifen.“
„Ich bin dabei, ein Nest von Nekromanten und Verschwörern auszuheben und ihr solltet mir dabei besser nicht Weg stehen, Pöbel!“, blaffte der Marquis.
„Ihr wisst es?“, das Gesicht des Feldwebels wurde plötzlich fahl, dann wandte er sich an seine Kameraden, „Wir halten sie auf! Peterson lauf! Erstatte auf der Wache Bericht über einen ledrianischen Angriff!“
Auf diesen Befehl hin stürmte einer der Delioner los, während die anderen beiden ihre Speere gegen die Ledrianer richteten.
„Also das ist“, lachte Lucian, „wirklich erbärmlich.“
Mit diesen Worten zog er eine Pistolenarmbrust, die an seinem Gürtel befestigt war und erschoss einen der Verteidiger.
Während seine Soldaten den zweiten niederrangen, gab er seinem Pferd die Sporen, holte den Flüchtenden ein und trat ihn zu Boden.
„Eine Beleidigung“, spottete er, nachdem er nachgeladen hatte, und jagte dem letzten Feind einen Bolzen ins Genick. Ferren sah ihn unhörbare Worte murmeln, während die Soldaten die Leichen der Delioner zum Straßenrand schafften.
Anschließend zogen sie weiter und schafften es tatsächlich, das gesuchte Haus ohne weitere Unterbrechungen zu erreichen. Davor wies de Nord vier seiner Soldaten an, wachezuhalten, wohingegen er selbst mit dem Rest seiner Truppen und Ferren das Gebäude betrat.
Der Flur sah noch genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, als der delionische Leutnant von dort geflohen war. Lediglich das Blut, welches die Leichen des xendorischen Soldaten und des Thanatoikers umringte, war mittlerweile geronnen.
„Halt, wer ist da?“, rief plötzlich jemand, worauf ein einfach gekleideter Mann aus der Küche stürmte, dem der Marquis jedoch sofort einen Bolzen in die Kehle feuerte, worauf er mit einem ekelhaften Gurgeln zu Boden ging und diesen erneut mit Blut tränkte.
„Sichert das Gebäude!“, befahl er wobei er sein silberglänzendes Langschwert zog, dessen schmale Klinge im fahlen Licht glänzte. Auch die Smaragde, die Griff und Parierstange zierten, funkelten aus ihren grünen Tiefen. Mit einem Stich ins Genick erlöste er den Wächter von seinem Leid, während die Soldaten an ihm vorbei in die anderen Räume des Hauses stürmten.
Er und Ferren verweilten im Flur, bis einer der Ledrianer zurückkehrte und berichtete, dass man sonst niemandem im Gebäude gefunden hatte.
Darauf ließ sich der Marquis vom delionischen Leutnant in den Tunnel führen, wo er einen flüchtigen Blick auf die Zombies warf.
„Ich habe genug gesehen“, zischte er, „Eure Geschichte, Leutnant Ferren, scheint also wahr zu sein. Man mag Euch keinen Glauben schenken, doch kann ich Euch versichern, dass man auf meine Worte hören wird. Ich werde also noch vor Sonnenaufgang den stellvertretenden Anführer Eurer Nation und den Hohen Rat Galors über diese Entdeckung in Kenntnis setzten“, de Nord wandte sich an einen seiner Soldaten, „Fünf von Euch bleiben hier und bewachen das Haus! Die Zombies werden nicht angerührt! Der Rest eskortiert Leutnant Ferren zurück ins Hafenviertel“, er senkte seine Stimme, um wieder zu ihm zu sprechen, „Ruht Euch ein wenig aus. Ich denke, Ihr, Leutnant Raham und diese Novizin werdet unseren Triumph morgen ungern durch den Schleier der Müdigkeit betrachten wollen. Weggetreten!“
Der nächste Morgen kam so früh, dass Ferren glaubte, gerade erst eingeschlafen zu sein, als ihn ein ledrianischer Soldat aus seinen Träumen riss.
„Auf den Flur und da auf den Leutnant warten!“, blaffte dieser, bevor er das Zimmer wieder verließ.
Ferren blieb allein zurück, warf einen Blick auf die bröckligen Wände, erhob sich dann aus seinem Bett, kleidete sich in Windeseile an und taumelte noch schlaftrunken aus dem Raum heraus.
„Verdammte Delioner“, hörte er zwei Wachsoldaten tuscheln, „war doch klar, dass die mit den Thanatoikern zusammenarbeiten.“
„Ja, ehrlose allesamt. Diese Oppositionsstaaten. Iurion wird sie zerschlagen!“
„Das wird wohl nie aufhören“, seufzte eine wohl bekannte Stimme.
Der Leutnant wandte sich sofort von den beiden Ledrianern ab, drehte sich um und erblickte Ariona, die aus einem der anliegenden Zimmer gekommen war.
„Ah, guten Morgen Ariona“, grüßte er.
„Morgen“, gab sie zurück, während ihm auffiel, dass all ihre Wunden und Blessuren verschwunden waren, sodass ihr Gesicht wieder vollkommen makellos wirkte, als wäre nie etwas gewesen, als hätte der gestrige Tag nie stattgefunden.
„Du…du bist…was ist mit deinen Wunden passiert?“, stotterte er.
„Ach das…“, sie lächelte, „Ich habe sie mit Magie geheilt. Hab die ganze Nacht dran gesessen. Und wie erging es dir mit dem Marquis? Sag schon!“, ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten.
„Er hat ein paar Verräter eliminiert, das Haus durchsucht und versprochen, den Rat und den delionischen Anführer zu konsultieren“, berichtete er.
„Hm, von ihm hätte ich eher erwartet, dass er das ganze Viertel überrennt und dann erst nach den Verdächtigen sucht“, spottete sie.
„Nein, er erschien mir ruhig. Ich verstehe immer noch nicht, warum er uns geholfen hat. Ganz offensichtlich hasst er die Delioner.“
„Er ist Iurionist. Er muss Gerechtigkeit schaffen, sonst darf er sich nicht mehr zu der höheren Menschenrasse zählen. Glaubt mir, unser Wohlergehen interessiert ihn kein bisschen.“
„Du bist schonungslos“, lachte Ferren.
„Mag sein“, sie zuckte die Achseln, „Wo ist eigentlich dein Freund Raham?“
„Der ist unten in der Küche und genießt Martins ausgiebiges Frühstück“, erschallte Vigards Stimme hinter ihnen. Als sie sich umdrehten, stand dieser in voller Rüstung vor ihnen.
„Ich fürchte“, fuhr er fort, „euch wird diese Ehre nicht zuteil. Der Marquis erwartet uns umgehend in der ledrianischen Botschaft.“
„Dann mal los!“ rief Ferren, „Ich kann es kaum erwarten, Blaeks Gesichtsausdruck zu sehen. Dieses Verräterschwein.“
Nachdem sie Raham in der Küche endlich von seinem Omelett getrennt hatten, machten sie sich eskortiert von einigen ledrianischen Soldaten unter dem Befehl Vigards auf den Weg ins ledrianische Viertel. Dort waren im Gegensatz zu den meisten anderen Distrikten beinahe alle Gebäude aus weißem Stein gebaut, den etliche Lilienbanner zierten. Auch gab es hier nur wenige verwinkelte Gassen, dafür große Alleen, die von Zypressen flankiert wurden.
In Anbetracht ihrer Wappenröcke straften die Bewohner des Viertels, ausschließlich Ledrianer und Serpendrianer, Ferren und Raham mit finsteren Blicken.
Das gewaltige Gebäude der ledrianischen Botschaft erhob sich genau in Mitten des Viertels auf einem weiten, gepflasterten Platz, auf den die zentrale Allee führte. Hinter prächtigen Blumenbeeten und flankiert von gewaltigen Statuen Iurions, die einen gesichtslosen Engel mit ausgebreiteten Flügeln, Vollrüstung und Richtschwert zeigten, befand sich der Eingang der Botschaft.
Als sie die Eingangshalle betraten, schlug ihnen eine Sturmflut von Jubelrufen entgegen, die jedoch nicht ihnen galten, sondern Marquis de Nord, der in bester Pfauenmanier quer durch die Halle stolzierte und sich dabei von seinen ledrianischen Mitbürgen auf dem Balkongang der zweiten Etage feiern ließ, während Lilienblüten auf ihn herabrieselten.
„Habt Dank, meine Brüder!“, rief der Marquis, wobei er sich zu allen Seiten hin verbeugte, „Ein Hoch auf Iurion! Ein Hoch auf Ledria!“
„Ein Hoch auf Ledria!“, schallte es von den Rängen zurück.
„Der Mann der Stunde“, spottete Ariona unhörbar, während sie die Halle durchschritten.
„Vigard, Vigard“, grüßte Lucian, „und unsere drei Gäste. Ich nehme an, ihr wollt die Gefangenen sehen, die uns der großzügige, delionische Kapitän überließ?“
„Natürlich“, gab Ariona zurück.
„Es wäre uns eine Ehre“, fügte Raham schnell hinzu.
„Wohlan denn, folgt mir!“, drängte Lucian, worauf er sich zu einer Tür begab, hinter der eine Treppe in den geräumigen Keller der Botschaft führte. Dort standen sowohl Hauptmann Blaek als auch der muskulöse Okkultist Ysil, der in das von Ledrianern besetzte Haus zurückgekehrt und ebenfalls gefangengenommen worden war, in einer Zelle am Pranger.
„Verdammte Hure!“, blaffte Blaek, als er Ariona erblickte, „Ich hätte dich umbringen sollen, als ich es konnte.“
„Ihr scheint Eure Manieren zu vergessen, Hauptmann“, spottete de Nord, „Sofern Ihr je welche hattet, was ich zu bezweifeln wage.“
„Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht!“, entgegnete der gefangene Hauptmann.
„Tja, ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass Ihr es nicht sein werdet“, lachte Lucian, „Es sein denn, es gelänge Euch, Euer Lächeln auf Eurer Fratze zu verewigen in dem Moment, da man Euch enthauptet.“
„Pah, ich bin Delioner. Ihr könnt mir gar nichts!“
„Das mögt Ihr sein“, erwiderte der Marquis, „allerdings befindet Ihr Euch hier auf ledrianischem Boden und ich kann Euch versichern, dass man Euch nach ledrianischem Recht bestrafen wird. Seht es ein, Blaek“, Lucian klopfte ihm beinahe brüderlich auf die Schulter, „Ihr tragt Euren Kopf alsbald nicht mehr auf den Schultern.“
„Wir sind hier in Galor!“, keuchte Ariona, „In Galor werden Menschen immer noch eingesperrt und nicht exekutiert.“
„Das ist wahr“, bestätigte de Nord freundlich, „gegenüber Menschen lassen wir Gnade walten“, plötzlich klang seine Stimme scharf wie ein Rasiermesser, „aber Insekten werden zerquetscht!“
Darauf herrschte Totenstille, bis sich der Marquis an Ysil wandte:
„Ihr sagt gar nichts? Nun, es würde mich nicht wundern, wenn Ihr gar zu dumm wärt, Euch zu artikulieren. Doch wartet nur, des Henkers Axt wird Euch schon einen Laut entlocken.“
„Der Meister wird Euch zerfetzten!“, blaffte Ysil.
„Auf diesen Versuch warte ich sehnlichst“, lachte de Nord, bevor er sich abwandte, „Lasst unseren Gästen ein paar Minuten mit den Gefangenen, Vigard. Danach geleitet sie in ihr Viertel zurück. Ich habe den Rat geben, die Audienz mit ihnen um ihrer Ruhe wegen auf morgen zu verschieben. Was auch immer ihr mit diesen beiden Hunden anstellt, beachtet, dass in Ledria Folter ein noch höheres Verbrechen als Landverrat ist. Ich empfehle mich.“
Auf diese Worte verließen sowohl der Marquis als auch Vigard sowie die restlichen Wachen die Zelle, sodass Ariona, Ferren und Raham allein mit den Gefangenen zurückblieben.
Sekunden später stürzte Ariona Ysil entgegen.
„Was hast du mit Pegry gemacht, du Schwein?“
„Pegry? Wer war das nochmal?“, murmelte Ysil, worauf Ariona ihm eine schallende Ohrfeige verpasste.
„Glaub mir, kleines Mädchen, das tut mir nicht weh. Pass lieber auf, dass deine Ledrianerfreunde das nicht mitbekommen“, lachte er, „Aber da ich sowieso sterbe, kann ich es dir ja verraten. Vielleicht freut es dich. Ich habe diesen Idioten zu einem stinkenden Fleischklumpen zusammengeprügelt und ihn anschließend verbrannt.“
„Das ist“, keuchte Ariona, „der erste Tag, an dem ich hoffe, dass es Iurions Inferno im Jenseits wirklich gibt! Ich hoffe, du verbrennst darin! Für immer!“
Sie wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um, spuckte dem Gefangenen ins Gesicht und stolzierte zur Tür hinüber.
Währenddessen trat Raham zu seinem ehemaligen Vorgesetzten Blaek hinüber:
„Tja, Sir…ähm, ich frage mich, warum. Ihr wart immer prinzipientreu, anständig, wie mir schien. Was wolltet Ihr damit erreichen?“
„Galor ist dem Untergang geweiht!“, rief der Hauptmann, „Ihr alle und die ganze Welt! Ich hätte überlebt, wenn unser glorreicher Plan aufgegangen wäre. Aber seht euch vor, mein Tod ändert nichts. Ihr ändert nichts!“
„Jämmerlicher Feigling!“, spottete Ariona, „Was sagst du dazu, Ferren?“
Als sie jedoch Ferren ansah, bemerkte sie, dass er wie erstarrt wirkte. Seine Augen waren glasig, sein Gesicht ermattet.
„Ferren?“, fragte sie, „Ist alles in Ordnung?“
„Hm?“, murmelte er, bevor er nach kurzer Pause fortfuhr, „Ja, doch es geht mir gut. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, was der Marquis über Menschen und Insekten gesagt hat.“
„Iurionistengeschwafel“, spottete Ariona, bevor sie sich wieder Ysil zuwandte.
Ferren hingegen schenkte ihren Worten keine Beachtung und versank wieder in Gedanken.
Er war etliche Jahre jünger, ein stinkender, ungepflegter Laufbursche, der im eisigen Nordreich Skatria weit weg von seiner Heimat für die Ledrianer arbeitete. Die ganze Geschichte lag so weit zurück, dass Skatria noch nicht einmal ein eigener Staat war, sondern unter ledrianischer Besatzung stand, dass noch kein Frieden unter den acht Nationen herrschte und ihr großer Friedenspakt, die sogenannte Vereinigung, mit der eine neue Zeitrechnung beginnen sollte, noch in ferner Zukunft zu liegen schien.
Langsam trottete er über eine unbefestigte Straße in einem Dorf, dessen Namen er wieder vergessen sollte.
Obwohl der Frühling bereits begonnen hatte, schnitt die bittere Kälte bis in Mark und ein eisiger, milchig weißer Nebel lag wie ein Totenschleier über dem ganzen Land, sodass man kaum die einfachen Stroh- und Holzhütten erkennen konnte, die in einigem Abstand den Wegesrand säumten. Etliche Meter über ihm und eine ganze Strecke weiter nördliche stießen die Zacken der Gebirgsketten wie Speerspitzen aus der klammen Umarmung des Nebels.
Mit jedem Schritt näherte er sich dem Dorfplatz, der noch hinter den weißen Schwaden verborgen lag, wohingegen die Rufe, Schreie, das unterschwellige Wimmern immer lauter wurden.
Die schneidende Stimme eines Herolds zerriss wie jeden Morgen die Luft:
„Eure Triebe sind Schwäche! Legt sie ab! Die Schwachen erwartet das Inferno! Legt sie ab, oder fallt in die Schwärze!“
Der Nebel lichtete sich und aus der versammelten Masse des Dorfes erhob sich in Mitten des Dorfplatzes ein gewaltiges Schafott, von welchem der Herold auf die Menge hinabblickten, während vollgerüstete ledrianische Soldaten die ersten Verurteilten hinaufführten. Es war jeden Morgen die gleiche Prozedur, seit Prinz Lemorgant, der ledrianische Staathalter Skatrias, damit begonnen hatte, den, wie er es nannte, wahren Iurionismus zu verbreiten.
Der Ruf des Herolds ertönte:
„Garrep Hedul, wegen Gewalt gegen Wehrlose zum Tode durch den Strick verurteilt. Milan Ortov, wegen Anwendung von Schwarzmagie zum Tode durch Enthauptung verurteilt, Lenique Brura, wegen Diebstahls heiliger Objekte und Entweihung religiöser Orte zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Ivan Zarevski, wegen Entwürdigung einer Person zum Tode durch den Strick verurteilt. Vollstreckt den Willen des Herrn!“
Dieser Ruf kam für die vier in schwarze Kutten gehüllten Gestalten dem Befehl gleich, ihrer Arbeit nachzugehen. Während zwei von ihnen den betreffenden Personen Stricke um den Hals legten, führten die anderen beiden die zur Enthauptung bestimmten Gefangenen zu den Guillotinen.
Ferren wandte sich ab, obwohl er diese Prozedur schon derart oft gesehen hatte, dass er nicht einmal mehr Ekel empfand. Er ging weiter, ohne hinter sich hysterische Schreie zu hören. Selbst als das dumpfe Aufschlagen eines abgetrennten Schädels auf Stein ertönte, blieb die Menge ruhig.
Nur das unterschwellige Wimmern verblieb.
Die ledrianischen Besatzer waren kurz vor der Vereinigung und der skatrischen Staatsgründung in einer Volksrevolution zurückgeschlagen worden. Prinz Lemorgant, so hieß es, hatte man auf seiner Flucht einen Pfeil direkt in die Brust geschossen.
Da die skatrischen Revolutionäre jedoch nie seine Leiche gefunden hatten, rankten sich seit jeher Gerüchte um den gefallenen Prinzen von Skatria. Manche behaupteten, er habe kein Herz und sei deshalb nicht durch den Pfeil gestorben, andere meinten, der Getroffene sei nur ein Doppelgänger gewesen. Die wenigsten gingen davon aus, dass Prinz Lemorgant wirklich gestorben war.