Fantasy & Horror
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 4; Teil 1/2) - Der Fall Fiondrals

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"Die Gebrochene Welt I (Kapitel 4; Teil 1/2) - Der Fall Fiondrals"
Veröffentlicht am 09. August 2012, 32 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 4; Teil 1/2) - Der Fall Fiondrals

Die Gebrochene Welt I (Kapitel 4; Teil 1/2) - Der Fall Fiondrals

Beschreibung

Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de

Kapitel 4: Der Richter (Teil I)

44. Grünwalden. 52 n.V.
Lucian de Nord saß auf der begrünten Terrasse einer Villa am Hafenviertel, welche direkt an das Meer grenzte, und blickte über die Brüstung hinweg auf die glänzend schwarze See. Nachdem er sein Weinglas auf dem marmornen Tisch abgestellt hatte, hob er den Blick auf die drei Schiffe, die ruhig im Wasser des Hafens trieben.
Verächtlich lächelte er, während er noch einmal rekapitulierte, was in den letzten zwei Stunden geschehen war.
Als er das tat, fiel ihm auf, dass es gar nicht viel war, zumindest nicht im Verhältnis zu den möglichen Auswirkungen. Vor eben jenen zwei Stunden hatte ein Bote der Prinzessin Filiana dem Herzog eine persönliche Einladung überbracht, was dazu geführt hatte, dass dieser sich innerhalb der nächsten halben Stunde aus der ledrianischen Botschaft gestohlen hatte. Lucian war darauf sofort in sein Palais am Hafen geritten, wo er nun schon seit einiger Zeit saß und gemächlich seinen Wein trank.
„Schwach“, kommentierte er in Gedanken, die Taten des Herzogs, „Und kindisch zugleich. Dieser Narr wird sich auch noch von ihr umgarnen lassen, bis er so eingesponnen ist, dass er die Wahrheit nicht mehr sehen kann. Wird er nachgeben?“, der Marquis lachte spöttisch, „Oh ja, das wird er! Aber nein, dieses Spiel spielt sie nicht mit mir. Diese Rechnung geht nicht auf, denn niemand setzt sich über mich hinweg! Über Montierre vielleicht, aber nicht über mich! Ich verliere nie!“, dann hob er die Stimme und begann zu schreien, „Unteroffizier! Schafft mir sofort Tymaleaux hierher!“
„Natürlich, Eure Hoheit“, gab ein gerüsteter Soldat zurück, der bislang am Rande der Terrasse Wache gehalten hatte, worauf er sich entfernte.
Wenig später kehrte er in Begleitung eines recht massigen Mannes zurück, dessen dunkelblaues Samtjackett einige Weinflecken aufwies.
„Tymaleaux, Tymaleaux“, lachte Lucian freundlich, während sein Gegenüber langsam über die Terrasse zu ihm hin wankte, „Was sollen die Leute bloß von meinem Heerführer halten?“
„T‘schuldigt, Eure Hoheit. Ich komme gerade aus dem…“, begann Tymaleaux, wobei er sich seine verfilzten, goldblonden Haare aus der pockennarbigen Stirn wischte.
„Danke, aber so genau will ich das gar nicht wissen“, gab der Marquis zurück.
„Natürlich nicht. Verzeiht“, sein Gegenüber verbeugte sich, „Wie kann ich dienlich sein?“
„Wenn ich dir nun den Befehl geben würde, die Schiffe zu verbrennen, wie lange würde das dauern?“, fragte de Nord.
„Meint Ihr, bis sie brennen oder bis sie verbrannt sind?“
„Sagen wir, es reicht, wenn sie brennen.“
„Wir haben letzte Nacht schon alles vorbereitet. Wenn nicht wieder einer dieser Idioten auf seinem Posten einschläft, dann steht alles in weniger als einer Minute in Flammen…wenn Ihr es wünscht.“
„Exzellent“, lobte der Marquis, „Nun hör zu: Sollte der Herzog den Befehl geben, die Truppen aus dem Hafen abzuziehen, wirst du dafür sorgen, dass von den Schiffen nicht mehr als ein Haufen auf dem Meer treibender Asche zurückbleibt.“
„Es wird mir ein Vergnügen sein“, bestätigte Tymaleaux, während seine voluminösen Wangen sich langsam rot färbten, „Aber sagt, Eure Hoheit, wäre das nicht Hochverrat?“
„Nicht, wenn ich es dir vorher befehle“, zischte Lucian.
„Ihr setzt Euch also über den Herzog hinweg?“
„Ich tue das nicht gerne, aber es muss sein“, erklärte der Marquis, „Nun geh und sorge dafür, dass alles reibungslos abläuft.“
„Natürlich“, gab Tymaleaux zurück, bevor er sich verbeugte und zurückzog.
De Nord verweilte an seinem Tisch und genoss den trockenen, roten Wein.

Leutnant Raham marschierte gefolgt von einem Speerträger der delionischen Wache durch das nächtliche, iskatische Viertel, wo er in regelmäßigen Abständen Steckbriefe, die das Gesicht Ferrens zeigten, an Häuserwände schlug. Die Anklage lautete auf Mord, Insubordination, Behinderung der Ermittlungen, Angriff auf die Stadtwache und zu guter Letzt auf Hochverrat. Das Kopfgeld war so lächerlich hoch, dass es den Leutnant zu der Überlegung verleitete, ob in seiner Dienstzeit überhaupt schon einmal eine derart große Summe ausgestellt worden war.
„Wo sollen wir noch einen anbringen?“, fragte der den Speerträger, nachdem er einen Steckbrief an einen Baum genagelt hatte, der in der Mitte eines kleinen Platzes emporwuchs.
„Moment“, gab der Soldat zurück, worauf er eine Liste aus seiner Tasche kramte, „Zwei Gassen weiter ist ein Brunnen.“
„Sehr schön“, stöhnte Raham, wobei er den Hammer zurück in eine Lasche an seinem Gürtel steckte und weiter ging.
Während er durch die dunklen Gassen zog, fragte er sich, was Ferren wohl dazu verleitet hatte, doch bevor er eine Antwort fand, wurde er von der schieren Surrealität der Situation überwältigt.
„Ferren bringt keine Leute um. Gut er mag etwas hitzköpfig gewesen sein, aber er ist doch kein Todesanbeter. Er hat die Kerle immer verachtet, hat immer das getan, was er sollte, und er ist vor allen Dingen kein Mörder!“, dachte er, „Und dann ist da Blaek, der auf einmal Gefangene fast zu Tode prügelt. Irgendwie passt hier gar nichts mehr.“
Schließlich war der Brunnen erreicht, der sich in Mitten eines kleinen Rondells befand.
„Wie viele noch?“, fragte Raham, während er sich daran machte, einen Nagel in den Fugen des oberen Brunnenteils zu versenken.
„Noch sechs“, antwortete der Soldat. Dann ertönte ein recht dumpfes Schlagen von Holz auf Metall, das den Leutnant dazu verleitete, sich umzudrehen.
Was er sah, führte dazu, dass er die Augen weit aufriss.
Etwa zwei Meter vor ihm lag der Speerträger der Länge nach auf dem Boden, während s ein kleines Rinnsal roten Bluts durch die Fugen zwischen den Pflastersteinen sickerte. Hinter dem ohnmächtigen Wachmann erhob sich, einen hölzernen Schlagstock in der Hand haltend, Ferren.
Raham ließ reglos seinen Blick auf ihn sinken. Blutdurchdrungene Bandagen verunzierten Schulter sowie Unterarm und die Art, wie er sich gegen die Hauswand neben ihm stützte, verriet, dass seine Kräfte sich dem Ende entgegenneigten. Eine Zeit lang standen sie sich beide gegenüber, der eine mit der Hand auf dem Schwert griff, der andere mit gehobenem Schlagstock.
Schließlich war es Raham, der seine Hand locker zum Gruß hob, worauf auch Ferren seine Waffe senkte.
„Dachte doch, dass du vernünftig bist“, lachte der angeschlagene Leutnant.
„Vernünftig?“, spottete Raham, „Wenn ich wollte, könnte ich dich festnehmen, in deinem Zustand.“
„Aber du tust es nicht“, entgegnete Ferren, „Das nenne ich vernünftig.“
„Ja. Denn ich glaube wirklich nicht, dass du getan hast, wofür Blaek dich anklagt.“
„Nun, da muss ich dich enttäuschen. Die meisten Sachen davon habe ich wirklich getan.“
„Was?“, keuchte Raham, worauf seine Hand sofort wieder zum Schwertgriff schnellte.
„Keine Sorge“, beschwichtigte Ferren, „Ich hatte einen guten Grund.“
Damit begann er zu berichten, was geschehen war, nachdem er Raham verlassen hatte. Er erzählte von dem Versteck der Todesanbeter, von den Untoten, vom Tunnel, von den Kämpfen, von Blaeks Verrat und seiner Flucht, während Raham zugleich ihn darüber informierte, was sich auf der Wache ereignet hatte.
„Er hat sie gefoltert?“, schrie Ferren, nachdem er von Arionas Schicksal erfahren hatte.
„Ja…das hatte er“, bestätigte Raham matt.
„Wir müssen etwas unternehmen!“
„Das steht außer Frage. Ich habe nur keine Ahnung, wie wir gegen Blaek ankommen sollen. Du bist ein gesuchter Verbrecher, in einem, sagen wir, unguten körperlichen Zustand, und ich nur ein einfacher Leutnant. Blaek ist der Hauptmann der Wache. Gut, er hat sich in letzter Zeit einiges geleistet, aber seine Befehle werden immer noch befolgt.“
„Wir müssen Ariona erst mal aus dieser Todesfalle befreien. Dann sehen wir weiter.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„Ich?“, lachte Ferren, „Wie sollte ich denn in die Wache kommen? Du musst das machen.“
„Warum war das klar…“, seufzte Raham, „Ich sehe ja ein, dass du sie nicht in Blaeks Nähe haben willst, aber ich kann sie ja schlecht aus den Kerkern rausholen, die von zwei Dutzend delionischen Soldaten bewacht werden.“
„Die dir nichts tun werden“, erwiderte sein Gegenüber, „Wenn Blaek seine Schicht beendet, wirst du den Kerker betreten und Ariona einfach hinausführen. Den Wachen sagst du, dass sie in ein Magiergefängnis der Iskaten verlegt wird, weil wir nicht genügend Zauberer haben, um sie im Zaum zu halten.“
„Das klingt zu einfach, als dass es wirklich funktionieren könnte. Wahrscheinlich hat Blaek einen Verräter als Wache vor ihrer Zelle abgestellt.“
„Wir müssen es versuchen! Eine andere Chance haben wir nicht!“
„Also gut. Mal angenommen, ich schaffe es, Ariona da raus zu bringen, wie soll es dann weitergehen?“
„Du schaffst sie erst mal zur Taverne Blut und Bier, ich werde dort auf euch warten.“
„Blaek wird die Wachen verzehnfachen, wenn er davon Wind bekommt.“
„Bis dahin müssen wir aus der Südstadt raus“, erklärte Ferren.
„Die finden dich auch in den anderen drei Bezirken“, dementierte Raham.
„Nicht im Hafen.“
„Der Hafen? Gute Idee, wenn da nicht noch die ledrianischen Soldaten wären, die den Befehl haben, jeden zu töten, der den Hafen betreten will.“
„Die Ledrianer erwarten, dass sie von eine größeren militärischen Einheit angegriffen werden. Sie versuchen nicht, den Hafen gegen Einzelpersonen abzuriegeln.“
„Wie du meinst“, murmelte Raham, während er langsam hin und her wanderte, „Aber das ist deine Sache. Ich muss Ariona ja nur aus den Kerkern holen und sie zum Blut und Bier schaffen.“
„Korrekt“, bestätigte Ferren, „Wenn alles glatt läuft, bekommst du dabei nicht einmal Schwierigkeiten.“
Sein Gegenüber zischte: „Schön wär’s.“
Ein bitteres Lächeln und einen kurzen Händeschlag später hatten sich die beiden schon wieder getrennt.
Während Ferren durch die Gassen zum Blut und Bier schlich, waren seine Gedanken leer; alle Sinne, alle Reserven darauf konzentriert, nicht aufzufallen und den Kontakt mit Wachen zu vermeiden. Er schlich um eine Ecke, hastete über die nächste Kreuzung, ein banger Blick über die Schulter, ein weiterer Schritt in Richtung der Kneipe, das alles wiederholte sich etliche Male und doch glaubte er, als er den Platz vor dem Blut und Bier endlich erreicht hatte, gerade erst losgegangen zu sein.
Seine brennenden Lungen sprachen gegen diese Theorie und verlangten eindringlich nach ein wenig Erholung.
Er ließ sich auf eine der steinernen Bänke sinken und plötzlich brach die Erschöpfung wie eine Sturmflut über ihn hinein. Ein jeder Muskel zerrte, bettelte um Entspannung, die Augen brannten, sehnten sich nach Dunkelheit, der Geist suchte Erlösung von den fieberhaften Träumen der letzten Stunden.
Als der Gebetsruf eines Mondkultisten von einem der anliegenden Dächer erschallte, wurde Ferren wieder aus seiner Trance gerissen.
„Ist das wirklich einen Tag her? Habe ich wirklich gestern noch auf meinem Balkon gesessen, ein Bier getrunken und einen Brief geschrieben? Wo bin ich eigentlich? Was mache ich hier? Ich kann doch kein gesuchter Verbrecher sein, das alles kann doch gar nicht passiert sein. Nicht an einem Tag“, seine Gedanken rasten, „Doch, du Narr! Das ist passiert. Und du steckst mitten drin. Ich…stecke mitten drin. Ich und Raham und Ariona. Ariona…“
Für einen Moment lang schienen seine Gedanken zu schweigen, sodass es still war in seinem Kopf.
Während Vögel zwitscherten und Grillen zirpten, wurde ihm klar, dass dies nicht mehr dieselbe Stadt war, in die er vor Monaten geflohen war, dass das Pflaster nicht mehr dasselbe war, über das er gestern noch spaziert war, und er war nicht mehr derselbe Mensch, seit er in ihre bernsteinfarbenen Augen geblickt hatte.
„Verdammt, Raham! Wo steckst du?“
Er erhob sich, um sich umzusehen.
„Nein, das geht furchtbar schief! Sie haben ihn aufgehalten. Blaek wird dafür gesorgt haben, dass sie niemand raus holen kann. Und ich schicke Raham auch noch da rein. Höhle des Löwen, verdammt. Das funktioniert nicht, kann nicht funktionieren.“
Die Zeit verging wie Teer. Die Grillen zirpten weiter, während die Gebete der Mondkultisten verhallten und die Vögel weiter zogen. Obgleich die Muskeln des Leutnants gerade noch nach Ruhe geschrien hatten, waren sie nun zum Zerreißen gespannt, dass sie ihn zwangen, umherzuwandern wie ein kopfloses Huhn. Ruhelos irrte er über das Pflaster, wobei er seine Blicke stets zum Rand des Platzes warf, um dort die Kegel der Öllampen nach Bewegungen abzusuchen.
Obwohl die Sonne schon seit mehr als einer Stunde untergegangen war, herrschte doch eine unerträgliche Schwüle und der gnadenlose Wind erbarmte sich keiner Böe 
Dann jedoch entdeckten Ferrens Augen zwei Gestalten, die langsam zwischen den Lichtkegel hindurchschlichen.
Sein Herz pochte durch seinen Brustkorb, als sie sich der Bank näherten, vor der er stand.
Schließlich waren sie ihm so nah, dass er sie erkennen konnte, und ein einziger Blick brachte die Erlösung, nach der sich Körper und Geist so gesehnt hatten. Vor ihm standen Raham und Ariona, die beide ziemlich mitgenommen aussahen. Arionas Blessuren stammten noch von der Folter, der Blaek sie unterzogen hatte, während Raham sich seine Wunden, wie Ferren in dem darauffolgenden Gespräch erfuhr, in einem Kampf mit dem Novizen zugezogen hatte, der darauf bestanden hatte, ihn und Ariona zu begleiten.
„Dieser Hundesohn wird dafür bezahlen, dass er dir das angetan hat“, zischte Ferren, nachdem er voller Entsetzten  Arionas geschwollenes und mit Blutergüssen übersätes Gesicht erblickt hatte.
„Ich…gestern saß ich noch am Strand und habe…gefeiert. Jetzt bin ich…hier, auf der Flucht“, stotterte sie.
„Wir kommen da raus“, versprach Ferren, „Sobald wir im Hafen sind, ist das alles vorbei.“
„Ich zerstöre eure Illusionen ja nur ungern“, wandte Raham ein, „Aber eure Flucht ist nicht alles. Wenn die Todesanbeter wirklich einen Tunnel aus Galor heraus graben wollen, dann müssen wir sie aufhalten! Im Übrigen kann ich gleich mitkommen. Sobald der Novize wieder zu sich kommt und die rauskriegen, was ich gemacht habe, bin ich genauso ein Verbrecher wie ihr.“
„Wir könnten zu den Ledrianern gehen“, schlug Ariona vor, „Sie hassen die Todesanbeter.“
„Ja, leider hassen sie aber auch die Delioner“, merkte Raham an, „Die helfen uns ganz sicher nicht.“
„Wenn wir es bis ins Nordviertel schaffen, können wir es dem Rat melden. Der unternimmt bestimmt etwas“, erwiderte Ferren, „Aber erst mal müssen wir in den Hafen, bevor Blaeks Bluthunde uns finden.“
Darauf gab es allgemeine, wenn auch recht verhaltene Zustimmung.
Die drei debattierten noch einige Zeit darüber, wie genau sie es anstellen sollten, ins Hafenviertel zu gelangen, wobei sich schließlich die ursprünglich von Raham stammende Idee durchsetzte, zwischen den Brücken durch den Baskat zu schwimmen und auf der anderen Seite die Befestigungen zu erklimmen, ohne dass die Ledrianer davon Wind bekamen.
Dies gestaltete sich zunächst als durchaus einfach, was hauptsächlich der schlechten Wasserversorgung im Südviertel zu verdanken war. Dieses besaß nämlich im Gegensatz zum nördlichen und mittleren Bezirk keine Kanalisation oder Wasserleitungen, weshalb man in die steinerne Befestigung des Baskatstroms kleine Becken eingelassen hatte, in denen die Bürger des Südviertels sich oder ihre Kleider waschen konnten. So war es relativ leicht, den Fluss zu erreichen.
Als Ferren jedoch aus dem Becken hinausschwamm, musste er feststellen, dass der Strom wesentlich heftiger an ihm riss als erwartet. Zudem gab es an der gegenüberliegenden Befestigung keinen Ansatzpunkt, an dem ein Hinaufklettern möglich gewesen wäre.
„Verdammt!“, brüllte Ferren, während er ausgiebig rudernd versuchte, gegen die Strömung anzukämpfen.
„Ich fürchte, Ariona wird das in ihrem Zustand nicht schaffen“, wandte Raham ein.
„Was ich schaffe und was nicht, bestimme immer noch ich selbst“, brummte sie.
„Selbst wenn“, keuchte Ferren, „Wir kommen nie wieder aus diesem verdammten Fluss raus.“
„Falls ich es rüber schaffe, kann ich uns mit Magie die Brüstung hoch bringen“, schlug die Novizin vor.
„Dann hilf ihr rüber, Raham.“
„Schon klar“, seufzte dieser, worauf er Seite an Seite mit ihr ebenfalls in den Fluss sprang. Tatsächlich musste er einiges an Kraft aufwenden, um Ariona, deren körperlicher Zustand ziemlich schlecht war, über Wasser zu halten.
Auf halber Strecke kam ihnen Ferren entgegen, mit dessen Hilfe sie es dennoch auf die andere Seite schafften.
„Haltet euch an mir fest“, wies Ariona die beiden Soldaten an, worauf diese gleichsam ihre Taille umschlangen.
Anschließend warf sie ein magisches Seil aus bläulichem Licht an den oberen Rand der Befestigung, das sie langsam verkürzte, um sich und die beiden anderen nach oben zu ziehen. Zwar war es für Ferren und Raham mehr als schwierig, sich an Arionas zierlicher Statur festzuhalten, jedoch gelang es ihnen tatsächlich, die Brüstung zu überwinden.
Oben angekommen stürzten sie allesamt keuchend und nass auf das Pflaster.
Dann geschah alles rasend schnell.
Raham sah nur noch, wie eine dunkle Gestalt über ihn hinwegsegelt, auf Ariona landete und diese zu Boden drückte. Von irgendwoher tauchte ein vollgerüsteter, ledrianischer Soldat auf, der einen Tritt gegen Ferrens Kinnlade schmetterte, was diesen sofort außer Gefecht setzte.
„Hey, ich ergebe mich!“, rief er, während immer mehr Ledrianer in ihren silberglänzenden Rüstungen auftauchten.
„Ist auch besser so, delionischer Saboteur!“, entgegnete ein grobschlächtiger Mann, den Raham aufgrund des dunkelblauen Federbuschs auf seinem schweren Helm für einen Offizier hielt. Einen Augenblick später wurde er von zwei Soldaten gepackt, ein Lederriemen band seine Hände zusammen, so fest, dass er ins Fleisch schnitt.
„Schafft sie weg!“, befahl der Offizier, worauf die übrigen Soldaten Ariona, Ferren und Raham durch einige der angrenzenden Gassen schleiften, bis sie ein größeres Haus erreichten, dessen Fassade zwei ledrianische Banner zierten.
Grob stieß man ihn durch die Eingangshalle.
„In den Keller!“
Ein Soldat öffnete eine Tür, man schubste ihn hindurch, schleuderte Ariona und Ferren hinterher. Er stürzte eine hölzerne Treppe hinab, in einen dunklen, feuchten Gang mit rohen Steinwänden, an den hinter rostigen Gittern einige Lagerzellen grenzten. Die Soldaten kamen sofort hinterher, öffneten eine Zelle, drängten ihn hinein, schleiften auch Ariona und Ferren durch die Tür.
Dann öffnete man ihm die Fesseln, allerdings nur, um sie anschließend durch einen eisernen Ring in der Wand zu ziehen und sie wieder festzubinden. Ferren und Ariona wurden ebenfalls angebunden, sodass sie wie nasse Säcke an der Wand hingen.
„Zwei Mann bleiben hier! Ich werde bald mit dem Marquis zurück sein“, rief der Offizier, worauf alle außer zwei Speerträger den Keller wieder verließen.
„Das lief ja gut“, schnaubte Raham, dem jedoch niemand Gehör schenkte, da Ariona und Ferren immer noch ohnmächtig waren, während die Wachen ihn absolut nicht beachteten.
In den nächsten Minuten zermarterte sich der junge Leutnant den Kopf über seine Aussichten.
„Bestenfalls sperrt man uns nur ein“, hoffte er, „In Ledria und Serpendria wird dummerweise fast jedes Vergehen mit dem Tode bestraft.“
Schließlich ertönten wieder Schritte auf der hölzernen Treppe und wenig später tauchten zwei weitere Personen auf dem Hauptgang vor der Zelle auf. Dabei handelte es sich um den hünenhaften Offizier, der bei ihrer Gefangennahme das Kommando geführt hatte, sowie Lucian de Nord, der einen langen, ledernen Mantel über dem ledrianischen Wappenrock trug.
„Das“, begann der Marquis, nachdem er die drei Gefangenen kurz taxiert hatte, mit ruhiger, aber dennoch stechender Stimmlage „sollen also die Saboteure sein, deren Gefangennahme Euch dazu veranlasst hat, von einem delionischen Angriff auf den Hafen auszugehen, Vigard?“
„Nun ja, sie haben versucht, sich in den Hafen zu schleichen, edler Herr“, gab Leutnant Vigard zurück.
„Bei Gott, ein verwundeter Offizier, eine zusammengeschlagene Novizin und dieser Hänfling stellen doch keine Gefahr für uns dar.“
„Natürlich nicht. Ich hatte nur befürchtet, es könne sich um eine Art Vorhut handeln oder ein Ablenkungsmanöver. Daher rief ich Euch, edler Herr.“
„Scheinbar hatte ich Euch aufgetragen, mir jede Unregelmäßigkeit zu melden?“, fragte de Nord, während er sich eine Zigarette ansteckte.
„Das hattet Ihr“, bestätigte Vigard.
„Gut. Schafft sie nach oben! Ich gedenke, mich ein wenig mit ihnen zu unterhalten“, sagte Lucian, bevor er sich umdrehte und den Keller verließ.
„Natürlich“, gab der Unteroffizier zurück, worauf er den beiden Speerträgern ein Handzeichen gab. Diese begannen darauf, die Gefangenen einzeln nach oben zu führen beziehungsweise zu schleifen, wobei sie sich zuletzt um Raham kümmerten. Man führte ihn in einen verrauchten Speisesaal, in dessen Mitte sich eine lange Tafel aus dunklem Holz erstreckte. Der Raum wurde scheinbar von den ledrianischen Wachen als Kantine genutzt, weshalb eine ganze Menge von ihnen anwesend war.
Ferren und Ariona hatte man auf zwei der hölzernen Lehnstühle gesetzt, wo sie von den Soldaten wie Marionetten aufrecht gehalten wurden. Auch Raham presste man geradezu in einen der Stuhl, wo er jedoch ohne weitere Fixierung verbleiben durfte.
Als der Marquis eintrat, wurde es plötzlich totenstill, ein jeder Soldat nahm Haltung an. Der Koch, welcher ebenfalls den ledrianischen Wappenrock trug, eilte sofort herbei, um dem Marquis Wein anzubieten, den dieser jedoch mit einem einfachen Handwink ablehnte. Stattdessen wandte er sich an Vigard:
„Gebt ihnen den Azurgeist.“
„Edler Herr, meint Ihr nicht, wir sollten vorsichtig sein, was die Novizin angeht…“
„Habt Ihr etwa Angst, Vigard?“, lachte de Nord, „Ich glaube, es wäre vermessen, diese Novizin zu fürchten. Den Azurgeist, na los!“
„Natürlich, edler Herr“, sagte der Unteroffizier devot, worauf er die Wachen Ferrens und Arionas damit instruierte, diesen den Mund zu öffnen. Anschließend ließ er sich vom Koch eine halbleere Phiole überreichen, deren Inhalt in einem tiefen Azurblau strahlte.
Bei der Azurgeist genannten Flüssigkeit handelte es sich um ein alchemistisches Elixier, welches die Macht besaß, körperliche und geistige Kräfte in enormer Geschwindigkeit zu regenerieren. Dies zeigte sich, als Ferren sofort die Augen aufschlug, nachdem Vigard ihm nur einen einzigen Tropfen in den Rachen gegossen hatte. Ariona widerfuhr dasselbe Schicksal.
„Wo…wo bin ich?“, keuchte Ferren, während sie sich nur mit funkelnden Augen umsah.
„Dort, wo Ihr hinwolltet, wie ich schätze. Im Hafenviertel Galors“, antwortete Lucian, „Ich bin…“
„Marquis de Nord“, vollendete Ferren.
„Ganz recht“, lachte dieser, „Ich habe das Gefühl, Euch schon einmal begegnet zu sein. Allerdings erachtete ich Euch augenscheinlich als nicht wichtig genug, mir Euren Namen zu merken.“
„Leutnant Ferren.“
„So? Nun, ich muss gestehen, es interessiert mich reichlich wenig, wer ihr seid. Für mich ist lediglich von Bedeutung, was ihr in meinem Viertel zu suchen habt.“
„Eurem Viertel?“, ächzte Ariona, „Galor gehört…“
„Maul halten!“, blaffte einer der Soldaten.
„Vielleicht nicht die beste Ausdrucksweise, aber im Kern doch sehr passend“, kommentierte Lucian, „Was führte euch also her, in diesen Teil Galors, in dem ihr doch augenscheinlich nicht willkommen seid? Zumal in diesem Zustand.“
„Wir wurden Opfer einer Intrige“, begann Ferren.
„Intrige?“, lachte de Nord, „Nun, das wundert mich nicht. Immerhin weiß jeder Mensch der Alten Königreiche, dass den Angehörigen der Oppositionsstaaten die Ehre fremd ist.“
„Ihr glaubt uns also?“, wollte Raham wissen.
„Nein, aber eure Geschichte ist sicherlich amüsant. Fahrt also fort!“
Damit begannen Ferren und Ariona, dem Marquis all das zu erzählen, was sich an diesem einen Tag ereignet hatte, angefangen bei der Entlarvung des Okkultisten Ysil bis hin zur Flucht aus dem Südviertel. De Nord folgte geradezu gebannt ihren Worten, ließ sich trockenen Wein bringen, als Ariona von ihrer Folter berichtete, und lachte lauthals bei der Beschreibung des Kampfes, den Ferren gegen Blaek ausgetragen hat.
„Amüsant, wie ich bereits vermutet hatte“, sagte er schließlich, wobei er die Hände faltete.
„Es ist die Wahrheit!“, zischte Ariona.
„Nun, es mag euch vielleicht überraschen, aber ich glaube euch in der Tat. Obgleich es sehr verwunderlich scheint, dass ein Delioner derartige Heldentaten vollbracht haben soll. Ihr sagtet, das Haus mit dem Tunnel befinde sich im delionischen Viertel?“
„Ja…das ist wahr“, stammelte Ferren.
„Es könnte möglicherweise zu Komplikationen kommen, aber das werde ich wohl in Kauf nehmen müssen“, sagte der Marquis mehr zu sich selbst, bevor er sich an den Unteroffizier wandte, „Vigard, stellt mir eine Truppe der zehn besten Männer zusammen, die in diesem Viertel stationiert sind, und lasst mein Ross satteln!“, er drehte sich wieder zu Ferren, „Ihr werdet uns zu diesem Haus führen, auf dass wir die Pläne unseres Feindes durchkreuzen können. Seid allerdings gewarnt. Ich glaube euch zwar, sollte sich aber herausstellen, dass ihr mich belügt, müsste ich auf den Artikel der Ehrennotwehr zurückgreifen. Ich nehme an, ihr seid fähig, euch auszumalen, wie das für euch ausgehen würde.“
„Natürlich“, schluckte er.
„Schön. Ich denke, ihr solltet euch ein wenig ausruhen. Martin hier“, Lucian deutete auf den Koch, „wird Euch als Gäste bewirten, wie es in unserer Heimat üblich ist. Die Truppen sollten wohl in einer halben Stunde einsatzbereit sein. Ich empfehle mich bis dahin.“
Mit diesen Worten verließ der Marquis zusammen mit Vigard und einigen anderen Soldaten die Kantine, sodass letztlich nur noch die drei Gefangenen, der Koch Martin sowie drei Wachen zurückblieben.
„Wohlan. Ihr seht hungrig aus“, rief Martin, „Ich nehme an, hier hat niemand etwas gegen Fasan einzuwenden?“
„Fasan?“, keuchte Ariona, „Die Ledrianer versorgen ihre Soldaten mit Fasan? Habt Ihr im Entferntesten eine Ahnung, wovon ich mich in den letzten Monaten…“, an dieser Stelle war Raham so geistesgegenwärtig, sie zu unterbrechen:
„Kommt der Fasan aus Ledria oder Serpendria?“
„Serpendria“, gab Martin zurück, „Unsere Waffenbrüder waren so freundlich, uns während der Besetzung mit Essen und Getränken zu versorgen. Apropos Getränke…ich habe hier noch einen äußerst guten Chateau Travelle…"

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