Eiszeit
Meine rauen Hände bohrten sich zum wiederholten Mal in die Eisschicht. Die Kälte hatte sich schon in meinem ganzen Körper ausgebreitet, meine Fingerspitzen fühlten sich taub und klamm an. Um mich herum: Wasser , Pfützen, Schneeschmelze. Irgendwie kam mir die Schnulze von Peter Maffay in den Sinn „Eiszeit ....“. Immer und immer wieder ging mir die Melodie im Kopf herum, wie in einem Karussell. Es war entsetzlich. Schon vor einiger Zeit war mir bewusst geworden, dass ich vollkommen die falschen Klamotten anhatte. Aber jetzt war es zu spät. Ich durchdachte eine Sache eben nie so genau, und jetzt musste ich bitter dafür büßen. Es war kalt. Unendlich kalt. Und das mitten im August! Reinhold Messner waren auf einer Expedition einmal Zehen abgefroren – hoffentlich würde es mir nicht genauso gehen. Wie lange dauerte es wohl, bis Finger abfroren? Das wäre entsetzlich, denn ich spiele doch so gerne Klavier ... früher zumindest einmal. Die Minuten wurden zu Stunden, das Gefühl für Zeit hatte ich schon lange verloren. Kälte hatte ich noch nie gemocht. Ich war ein Sommertyp. Liebte die lauen Nächte und die Hitze am Strand. Den heißen Asphalt unter meinen Füßen ... Doch das hier war ganz und gar nicht das, was ich liebte. Im Gegenteil: Ich hasste Eis und Schnee. Ein Skiurlaub wäre wirklich das aller letzte, wozu ich Lust hätte. Doch manchmal spielt das Schicksal einem einen Streich. Ich wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Ich schwitzte und fror zugleich – was für ein eigenartiges Gefühl.
Mit ganzer Kraft zog ich an dem Brocken aus Eis. Er bewegte sich nicht. Ich biss die Zähne zusammen: Noch einmal, noch einmal, ich musste es schaffen. Jetzt oder nie! Gleichzeitig stieg Wut in mir auf. Warum immer ich? Gedankenfetzen jagten durch meinen Kopf und reihten sich aneinander wie Sequenzen aus einem Actionthriller. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen und mich zu beruhigen. Dabei immer wieder Gedanken an Hans-Jürgen. Im Grunde hatte er mir die ganze Misere eingebrockt. Dieser Vollidiot. Wahrscheinlich lag er jetzt faul auf dem Sofa und guckte Olympia. Wie ich das hasste!
Plötzlich sprang der Eisklotz ab und stürzte in die Tiefe. Endlich. Ein Gefühl der Erleichterung. Doch endlose Eisberge lagen noch vor mir. Die Kristalle leuchteten in ganzer Pracht – ein einzigartiges Schauspiel der Natur – wie verzaubert betrachtete ich die Eiswüste, die sich vor meinen Augen auftat. Auf allem lag eine Schicht von Pulverschnee. Die Eskimos hatten 100 Wörter für Schnee, das hatte ich einmal irgendwo gelesen. Faszinierend. Eine Schicht nach der anderen tat sich vor meinen Augen auf.
Ich dachte an das Buch, das mir meine Schwester zum letzten Geburtstag geschenkt hatte: „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ . Sollte ich es vielleicht doch einmal lesen? Der Film sollte ja auch so gut sein ...
Wieder krallten sich meine Hände ins Eis. Meine Hose – völlig durchweicht – meine Knie: Wund und nass. So hatte ich mir meinen ersten Urlaubstag nicht vorgestellt. Der Eisbrocken bewegte sich kaum. Meine roten Hände zogen und zerrten. Schmerzen. Schmerzen und Wut. Schließlich hatte ich die Nase voll. Ich bäumte mich auf und schrie mit letzter Kraft: „Hans-Jürgen, das nächste Mal taust du den Kühlschrank ab!“