Ein Geburtstagswunsch
Höher und höher schwang sie sich in die Lüfte. Den Wind in den Haaren und die Freiheit in der Nase jauchzte Lynette vor Freude auf. Sie flog einige Runden um das Schloss und atmete die kühle Nachtluft ein. Einige Elfen unten am See betrachteten sie skeptisch. Was machte die Prinzessin schon wieder für einen Unsinn? Wieso war sie nicht wie ihre Schwestern und spielte etwas Violinet in ihrem Zimmer? Wieso flog sie wie ein kleines Kind umher und zog dichte Kreise um das Schloss herum?
Lynette lachte. Ihr waren diese Wichtigtuer egal. Sie freute sich. Zum ersten Mal seit Wochen durfte sie fliegen.
Normalerweise hassten ihre Eltern es, wenn sie flog. In ihrem Folk hatten nur Kinder Flügel. Normalerweise verlor man sie im Alter von 8 Jahren. Doch schon als Kind waren Lynettes Flügel immer nur in der Dämmerung erschienen. Sobald die Sonne untergegangen war, tauchten ihre Flügel wie aus dem nichts aus.
Ihre Eltern hatten zunächst versucht, diesen Geburtsfehler zu vertuschen. Doch das hatte natürlich nicht funktioniert. Und als Lynette zum ersten Mal nachts verschwunden war und ihre Bahnen über Mittelland zog, hielten sie die meisten Elfen und Feen für komplett verrückt. Lynette wurde über Jahre eingesperrt. Doch heute war ihr vierzehnter Geburtstag. Und das Einzige, was sich Lynette gewünscht hatte, war eine Runde zu fliegen. Inzwischen war mindestens eine Stunde vergangen und wenn Lynette zurück kehren würde, würde sie riesigen Ärger bekommen.
Lynette schloss die Augen. Sie ließ sich einfach gleiten. „Ich wünsche mir , es könnte immer so sein. Ich wünsche mir, ich könnte immer frei sein.“,flüsterte sie leise vor sich hin. Plötzlich veränderte sich Lynettes Umgebung. Sie öffnete ihre Augen und bemerkte, dass sie stürzte. Schreiend tastete sie ihren Rücken ab, doch ihre geliebten Flügel waren verschwunden. Lynette kam dem Boden immer näher. Sie hörte einen Dumpfen Aufprall in ihren Ohren. Und dann verschwamm alles.
„Geht es dir gut?“ Eine raue Stimme klang an Lynettes Ohr, doch sie fühlte sich unfähig zu antworten oder gar ihre Augen zu öffnen. „Hey! Kommt mal her! Hier ist ein Mädchen!“
Lynette hörte Schritte und ein komisches Rauschen. Sie versuchte mit aller Kraft ihre Augen zu öffnen. Doch sie schaffte es nicht.
„Kennt ihr sie?“,fragte eine Frauenstimme.
„Nicht das ich wüsste. Scheint nicht aus unsrer Gegend zu sein.“,antwortete die raue Stimme.
„Schaut mal. Es sieht aus, als wäre sie vom Himmel gefallen!“,meinte eine dritte Stimme.
Vom Himmel gefallen? Lynette versuchte erneut, ihre Augen zu öffnen und dieses Mal gelang es ihr. Sie schaute in drei Gesichter, die sich über sie beugten. Eine Frau und zwei Männer. Doch sie sahen so komisch aus. „Gott sei Dank, dir geht es gut!“,sagte die Frau und winkte mit ihrer Hand vor Lynettes Nase.
Sie blinzelte. „Wo bin ich?“
Der erste Mann lachte. „Du bist hier an der Nordsee, mein Kind. Die Frage ist, wie du hier her gelangt bist. Kannst du uns das vielleicht verraten?“
Lynette richtete sich auf. Ihr Kopf brummte. Was hatte der Mann gesagt? Nordsee?
„Ich habe keine Ahnung, wie ich hier hin gekommen bin.“ Lynette versuchte auszustehen, doch ihre Knie zitterten zu stark.
„Bleib liegen! Der Krankenwagen kommt gleich!“,sagte die Frau behutsam und drückte Lynette zurück auf den Boden.
„Der was?“ Lynette richtete sich erneut auf und starrte den drei abwechselnd ins Gesicht. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sie der Kategorie „Menschen“ zuordnen. Aber was hatten Menschen im Mittelland zu suchen? Und wieso wussten sie nicht, wer Lynette war?
„Die scheint sich schwer gestoßen zu haben“,murmelte der Mann, der bisher noch nichts gesagt hatte. Er stand auf und ging.
„Ich gehe nach dem Krankenwagen Ausschau halten.“,rief er und verschwand aus Lynettes Blickfeld.
Sie schloss die Augen und erneut wurde alles schwarz.
Als Lynette das nächste Mal aufwachte, befand sie sich in einem weißen Raum. Lynette sah nur verschwommen. Was war passiert? War sie in dem Haus des Mediziners, weil sie abgestürzt war? Und war die Gestalt, die da auf sie zukam, ihr wütender Vater?
„Wie schön, wir sind wach!“ Eine Fremde Stimme. Lynette kniff die Augen zusammen um klarer sehen zu können. Ein Mensch. Sie zuckte zusammen. Sie erinnerte sich. Lynette hatte eben schon welche von ihnen gesehen. Was wollten die ganzen Menschen hier?
„Möchtest du mir vielleicht deinen Namen verraten?“,fragte der Mensch. Es war ein Mann mit einem großen Schnurrbart. Er war sehr klein und trug ein weißes... Kleid?
„Ich heiße Lynette.“ Sie entschloss sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
„Und weiter?“ Der Mann hatte ein Brett herausgeholt und schien mit einem kleinen Stock darauf zu schreiben.
„Wie weiter?“ Lynette verstand nicht.
„Na dein Nachname.“ Der Mann schaute ihr direkt in die Augen. Hatte Lynettes Schwester Slyné nicht mal erzählt, wenn einem ein Mensch in die Augen sah, starb man? Lynette hatte doch gesagt, dass sie gelogen hatte. Aber was meinte er mit Nachname?
„Ich habe keinen.“, antwortete Lynette schlicht. So etwas wie einen Nachnamen gab es in Mittelland nicht. Alle hatten nur einen Namen.
Der Mann seufzte. „Na gut, und wie alt bist du?“
„14“
„Wo kommst du her?“
„Mittelland.“
Der Mann nickte. „Wir haben dich untersucht, mein Kind. Du leidest an einer leichten Gehirnerschütterung und dein Bein ist verstaucht. Aber von Gedächtnisverlust haben wir nichts festgestellt. Also müsstest du dich an alles erinnern können.“ Er rieb sich das Kinn.
Was redete er da? Lynette verstand nur Bahnhof. „Ich würde gerne wissen, wo ich bin.“,sagte sie.
„Du bist auf Sylt.“
„Was ist ein Sylt?“
„Eine Insel.“ Ungeduldig durchsuchte der Mann seinen Notizblock. Er konnte sich Lynettes Verhalten wohl nicht erklären.
„Und die liegt wo? Ich dachte eigentlich, dass ich die gesamte Landkarte in meinem Umfeld kenne.“,erklärte Lynette.
„Schleswig Holstein, ein Teil von Deutschland. Und ehe du noch weiter fragst, das liegt in Europa. Europa liegt auf der Erde. Die Erde ist ein Planet.“ Der Mann drehte sich um und ging zu einer Frau, die eine Art Schlafanzug trug.
„Erde?“,murmelte Lynette vor sich hin. Sie stieg aus dem Bett und ging zu einem naheliegenden Fenster. Und der Blick, der sich ihr draußen bot, gefiel Lynette ganz und gar nicht.