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Es musste gegen Mittag gewesen sein als sie die Augen wieder öffnete. Sie holte das Kuvert aus ihrer Tasche, holte langsam die beschriebenen Blätter aus dem Umschlag. Als wären es heilige Reliquien, faltete sie die Blätter vorsichtig auseinander und fing an, den Brief, der an die Menschen gerichtet war, die sie zu dem gemacht hatten was sie jetzt war, noch ein letztes Mal zu lesen.
An Wen auch immer?!
Dies sind nun die letzten Zeilen meines Lebens. Ich werde die Erde verlassen ohne Wehmut, ohne eine Träne zu vergießen. Denn davon habe ich schon zu viele verloren. Ich möchte mich bei denen bedanken, die mir den Weg hierher gezeigt haben. Die, die mir immer das Gefühl gegeben haben, dass ich nichts wert bin, dass ich nichts kann und dass aus mir nie etwas wird.
Danke!
Ich möchte mich bei denen bedanken, die mich nicht nur körperlich sondern auch seelisch verletzt und geschändet haben, die mir jegliches Selbstwertgefühl genommen und statt dessen tiefe Wunden und Narben hinterlassen haben.
Danke!
Ich möchte meinen Dank auch an diejenigen richten, die mir nie die Fähigkeit zu lieben und zu fühlen beigebracht haben, die Emotionen und Gefühle als nebensächlich betrachtet haben. Danke!
Nun stehe ich hier. Allein, einsam und verlassen. Niemand wird in diesem Moment an mich denken, niemand wird durch Intuition ahnen, was ich vorhabe und das nur, weil ihr mir nie gezeigt habt, wie man Freundschaften schließt. Niemanden konnte ich von meinen Gedanken berichten und mich ausweinen, weil ihr mir das Wort „Vertrauen“ nicht erklärt habt. Ihr habt mir nie das Gefühl gegeben, ein geliebter Mensch zu sein. Ihr habt mir gezeigt, was ich für ein Nichtsnutz bin. Ihr habt mir gezeigt, dass ein kindlicher Körper sehr viele Strapazen aushalten kann, dass man ihn herumreichen kann, nur so zum Vergnügen. Hattet ihr Spaß dabei? Ich nicht! Tiefe seelische Narben haben diese Erfahrungen hinterlassen. Und ihr fragt, warum ich so seltsam bin? Warum ich mir weh tue? Warum ich mich verstümmele? Weil ihr mir das so gezeigt habt!
Ich will nicht mehr zurück denken an die Zeit in meiner Kindheit, die ihr mir so unerträglich gemacht habt. Ich möchte nicht von meiner grausamen Jugend träumen, die so schmerzhaft war, in körperlicher wie psychischer Hinsicht. Ich möchte nicht in eine aussichtslose Zukunft blicken, die ihr mir verbaut habt. Ich möchte einfach nur meine Ruhe. Um diese Ruhe zu finden, gibt es nur eine Lösung. Einen Schlussstrich ziehen und dem Alptraum ein Ende setzten. Es ist schon lange überfällig, zu lange habt ihr mich gequält. Ich bin kurz davor, den Verstand zu verlieren und muss das beenden bevor es zu spät ist und ich in irgendeiner Zelle vor mich hin vegetiere, in der es keinen Notausgang gibt.
Ich will keine Angst mehr haben! Ich will in dieser perversen Welt nicht mehr leben. Zu lange habt ihr mein Leben bestimmt. Ihr habt mich in einen grausamen Käfig gesperrt, habt mir zu viel abverlangt. Ich will endlich aus diesem Alptraum erwachen, doch das kann ich nur, wenn ich mich schlafen lege.
Gute Nacht!
...
Fortsetzung folgt!!!