Tagebuch einer Lehreranwärterin
Dies ist ein Auszug aus dem "Tagebuch einer Lehreranwärterin", das ich vor einigen Jahren schrieben und gezeichnet habe. Ich haffe, ihr habt Spaß daran.
Der erste Elternabend
oder: Mein Orkan – dein Orkan
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Nervös betrat ich den Klassenraum. Heute war mein erster Elternabend, nachdem ich die Klasse 5c bereits zwei Monate in Englisch unterrichtet hatte. Würden alle Eltern da sein? Würden sie mich viel fragen?
 Da saßen sie auch schon alle. Mit verschränkten Armen und erwartungsvollen Gesichtern sahen sie mich an, vermutlich mit den Gedanken: „Ah, das ist sie also, die Referendarin, von der unsere Kinder so lustige Geschichten erzählen ...“
Nachdem ich alle begrüßt hatte, fing ich an, die Inhalte des Englischunterrichts darzulegen, genauso, wie es mir meine Mentorin am Tag vorher erklärt hatte. Es war ein komisches Gefühl, vor ruhigem Publikum zu sprechen, ohne jemanden ermahnen zu müssen. Waren das wirklich die Eltern meiner Kinder? Komische Gedanken schossen mir durch den Kopf. Der Vater in der ersten Reihe schrieb sich eifrig die Differenzierungsmöglichkeiten mit und fragte nach der Gewichtung mündlich/ schriftlich. Bereits nach fünfzehn Minuten war ich mit meinem rasend schnellen Vortrag am Ende und bemerkte mit Schreck, dass ich noch die Hälfte der Zweit über hatte. „Hat noch jemand eine Frage?“ Es war eigentlich klar, dass sich niemand melden würde. Doch hinten in der Ecke hob eine Mutter zaghaft ihren Finger. „Bekommen Sie eine Stelle, wenn Sie Ihr Referendariat beendet haben?“ Ich war wirklich gerührt. „Nein, die Chancen sehen im Moment nicht so gut aus, ich muss erst mal abwarten ...!“ Ein leises Murmeln war zu hören und viele Eltern sahen mich mitleidig an, bevor sie mir die Hand schüttelten und den Raum verließen. „Puh, geschafft!“, dachte ich erleichtert und packte meine Sachen ein.
Da stand plötzlich eine kleine Gestalt im Türrahmen. „Ich sein Orkan Vater! Ich hier richtig? Wie Orkan in Schule?“ Orkans Vater war gekommen! Zwar eine halbe Stunde zu spät, aber er war gekommen. Das war ja eine kleine Sensation! Orkan war mein Hauptstörer im Englischunterricht und jetzt war die Gelegenheit zum Elterngespräch zum Greifen nah. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fing schließlich an: „Ja, der Orkan ist ein sehr guter Schüler, einer der besten sogar. Aber sein Verhalten ist meistens sehr schlecht. Er ruft in die Klasse, kann sich nicht konzentrieren und lenkt seine Mitschüler ab. Es wäre gut, wenn Sie einmal ein ernstes Wort mit ihm reden, denn wenn er so weiter macht, wird das böse enden ...“ „Ich mit ihm reden und bestrafen! Frecher Junge! Ich machen das klar! Gleich heute Abend! Orkan wird besser, ich verspreche!!“ , antwortete Orkans Vater und wir verabschiedeten uns.
Vielleicht würde in Zukunft alles besser werden. Vielleicht war heute Abend die entscheidende Wende eingeleitet worden und der Englischunterricht würde weniger durch Orkans Zwischenrufe gestört werden ...
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Zufrieden radelte ich durch die kalte Nachtluft nach Hause.
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Am nächsten Morgen traf ich bereits vor der ersten Stunde auf Frau Breitbach, Orkans Klassenlehrerin.
„Orkans Vater war da!“, berichtete ich aufgeregt. „Dem habe ich erst mal erklärt, dass Orkan sein Verhalten ändern muss!“ Frau Breitbach sah mich stirnrunzelnd an. „Das ist seltsam!“, sagte sie. „Bei mir war der Vater nicht!“
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In der ersten großen Pause kam sie auf mich zu. „Orkans Vater war gar nicht da! Der ist im Urlaub, das hat mir der Junge eben selber erzählt!“ Ich dachte, mich trifft der Schlag. War gar nicht da? Welcher Orkan Vater war dann bei mir gewesen? Frau Henze hatte unser Gespräch mitbekommen. „In meiner Klasse ist auch ein Orkan. Der war bei mir und wollte anschließend zu der Englischlehrerin! Da wird er sich wohl in der Tür geirrt haben ...“
„..und ich habe ihm gesagt, dass sein Sohn sein Verhalten ändern soll ...!“, brachte ich verzweifelt hervor. „Das macht nichts!“, lachte Frau Henze. „Mein Orkan muss sein Verhalten auch ändern!“ Die Umstehenden fingen an zu lachen.
Ich machte mich auf den Weg zu meiner Englischklasse und dachte an den armen Orkan Nummer zwei, der wegen mir wahrscheinlich gestern Abend aus dem Schlaf gerissen wurde ...Â
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