8. Kapitel
 „Verdammt!“, fluchte ich.
„Seropin!“, Mary warf mir einen bösen Blick zu. Sie hasste es, wenn jemand
fluchte. „Bist du immer noch dabei einen Fehler zu suchen?“ „Irgendwo muss
einer sein!“ Mary lachte. „Gib auf, Seropin. Du suchst jetzt schon eine Woche!“
Aber ich begann von neuem die Dokumente durchzulesen.
„Er ist unglaublich, oder?“ ich sah
überrascht auf. „Wer?“ „Na, der junge Herr.“ Ich runzelte die Stirn. „Wie
meinst du das?“ Mary lachte. „Na ich meine, bis vor zwei Jahren war er auf
einer staatlichen Schule. Und dann wurde er plötzlich so mir nichts dir nichts
in das Amt des Familienoberhauptes erhoben, musste auf eine private Schule
gehen, von deren Fächern er die Hälfte noch nie gehabt hatte. Dazu kommt noch
die Trauer über den frühen Tod seiner älteren Geschwister und seines Vaters. Er
ist unglaublich tapfer, findest du nicht?“ Ich zuckte nur mit den Schultern.
Aus dieser Perspektive hatte ich es noch nie gesehen.
„Weißt du, ich bin stolz auf ihn. Egal,
was du von ihm denkst. Ich vertraue ihm und werde ihn unterstützen, wo ich nur
kann.“ Damit stand sie auf. „Ach und Seropin, ich habe zwar keine Ahnung von
diesen Dingen, aber hör auf einen Fehler
in den Texten da zu suchen. Du wirst keinen finden.“ Damit verließ sie die
Küche und überließ mich meinen Zweifeln. War es wirklich so, wie sie gesagt
hatte? War ich vielleicht zu streng mit ihm gewesen?
Ich massierte mir die schmerzenden
Schläfen. Kurzentschlossen stand ich auf, um Lucia zu besuchen. Die Sonne
schien mir ins Gesicht. Ich schloss die Augen für einen Augenblick und genoss
die Wärme. Â
„Hier bin ich wieder Alawis.“ Ich stockte
und versteckte mich hinter einem Busch. Philipp hockte vor Lucias Grab. Irrte
ich mich, oder weinte er wirklich?
„Weißt du Alawis, alles was ich wollte
war in deine Fußstapfen zu treten, um dich stolz zu machen, aber wie soll ich
das schaffen wenn Seropin mich hasst? Ich weiß nicht, was für eine Beziehung
ihr hattet. Ich weiß nur, dass er dich sehr gern gehabt haben muss und dich
bewundert hat. Weißt du, er vergleicht mich immer mit dir, glaube ich. Er sieht
mich immer so missbilligend an und egal wie sehr ich mich auch anstrenge, er
ist nie zufrieden.“ Er schluchzte. „Ach, Alawis, warum bin ich nicht tot und du
hier an meiner Stelle? Ich will nicht mehr in Seropins enttäuschtes Gesicht
sehen.“
Ich hörte Lucias Stimme in meinen
Gedanken. Gibst du ihm die Schuld an meinen Tod, Seropin? Ich wusste es nicht,
tat ich es?
Philipp strich mit den Fingern wieder und
wieder über die Schrift auf Lucias Grabstein und murmelte leise irgendwas, das
ich nicht verstehen konnte.
Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen und
hätte ihn getröstet, wie Lucia damals, als Alawis starb. Warum tust du es
nicht? Fragte Lucia in meinen Gedanken. Weil er nicht Lucia ist. Weil er lebt
und Lucia tot ist. Ich hörte Lucias verächtliches Lachen. Es hallte schmerzend
in meinem Schädel.
Ich presste meine Hände auf meine Ohren,
aber das brachte natürlich nichts. Wurde ich langsam verrückt? Oder war ich es
vielleicht schon längst? Ich presste die Hände noch stärker auf die Ohren und
spürte meinen pochenden Puls.
„Wie geht es ihm, Doktor?“ „Ihm fehlt
weiter nichts. Er hat nur ein bisschen Fieber und ist überarbeitet. Er braucht
drei bis vier Tage Bettruhe.“ „Danke, Doktor.“ Schritte entfernten sich. Ich
blinzelte. „Ah, Seropin, Ihr seid wach!“ Philipp stand vor meinem Bett. „Wie
spät ist es, junger Herr?“ „Es ist kurz nach Mittag.“ „Aber junger Herr, dann
habt Ihr gleich ein Treffen mit dem Grafen von Greensleeves.“ Philipp drückte
mich lachend wieder ins Kissen, als ich mich aufsetzen wollte. „Habt Ihr denn
den Arzt nicht gehört? Ihr sollt im Bett liegen bleiben.“ Widerwillig ließ ich
mich in das Kissen fallen. „Das Treffen mit dem Grafen war übrigens vorgestern.
Ihr habt zwei Tage geschlafen.“ „Zwei ganze Tage?“ „Ja, heute ist Donnerstag.“
„Aber ich habe noch so viel zu erledigen, junger Herr.“ Philipp grinste. Lucias
Grinsen…
„Das habe ich schon erledigt, also
befolgt gefälligst die Anordnungen des Arztes, wenn Ihr mir schon nicht
gehorchen wollt.“ Seufzend fügte ich mich meinem Schicksal. Als Philipp sah,
dass ich keinen Widerstand mehr leistete, stand er auf. „Schlaft jetzt ein
bisschen.“
„Junger Herr.“ Philipp drehte sich
überrascht um. „Danke.“ Philipps Augen weiteten sich vor Ãœberraschung, dann
lächelte er. Schon wieder Lucias Lächeln…
Und verließ mein Zimmer.
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Mary kam viermal täglich, um mir Essen zu
bringen und um nach mir zu sehen. Manchmal war auch Soraya da, wenn ich
aufwachte.
Aber nach zwei Tagen Bettruhe fühlte ich
mich wieder so fit, dass ich trotz Marys Gezeter meine Pflichten als
Haushofmeister wieder selbst erledigte. Philipp verdrehte nur die Augen.
„Immerhin ignoriert Ihr nicht nur meine Befehle.“
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Die Buchstaben vor meinen Augen
verschwammen. Mein Kopf brummte und war kaum noch zu etwas zu gebrauchen.
„Jetzt leg dich schon hin, du sturer Bock!“, schimpfte Lucias Stimme. „Nein,
ich muss diese Verträge noch durchsehen, bevor Philipp sie kriegt.“ „Er schläft
sowieso schon und ist doch sowieso mit dem Lernen für die Prüfungen
beschäftigt. Also leg dich jetzt hin, ruh dich aus und lies sie dir morgen
durch!“ „Du hast auch immer bis spät in die Nacht gearbeitet!“, schrie ich.
„Aber ich war nicht krank, überarbeitet und ein psychisches Wrack.“, beruhigte
Lucias Stimme mich. Ich spürte ihre Hand aufÂ
meiner Schulter. „Ich bin also ein psychisches Wrack?“ Ich legte meine
Hand auf ihre. „Und wie du das bist.“ Ich seufzte. „Wahrscheinlich hast du
Recht. Ich fantasiere schon so sehr, dass ich deine Hand auf meiner Schulter
spüre.“ Lucia lachte und küsste mein Haar. „Schlaf jetzt.“, murmelte sie, das
Gesicht immer noch in meinen Haaren vergraben. Wie befohlen schloss ich meine
müden Augen und ließ meinen Kopf auf meine verschränkten Arme sinken und merkte
so nicht, dass Philipp mein Zimmer leise wieder verließ.