Kurzgeschichte
Darf ich?

Darf ich?

Es war einer jener heißen, schwülen Sommertage, als sie total verschwitzt und abgehetzt den Bahnhof erreichte. „ Die vielen Menschen!“ stöhnte sie innerlich und kämpfte sich durch das Gewusel und Gedränge. Im Zug war es dann nicht anders. Er war übervoll.  Genervt zog sie ihren Trolly durch den vollgestopften Waggon, zog ihn durch den nächsten und übernächsten. Endlich in einer Vierersitz-Gruppe ein Platz! „Hoffentlich ist der nicht am Clo!“ stieß sie ein stummes Stoßgebet aus. Laut aber fragte sie: „ Ist hier noch frei?“ Die drei Fahrgäste nickten und musterten sie kurz.

„Darf ich?“ fragte der junge Mann ihr gegenüber und sah auf ihr Gepäck.

„ Oh, ja, wenn Sie ihn mir später wieder herunterheben, gerne. Er ist nämlich sehr schwer.“ Die anderen lachten, der junge Mann sagte: “Klar!“ und hievte den Trolly ohne nennenswerte Anstrengung in das Gepäcksnetz.

Der Zug rollte durch eine wunderbare Landschaft. Wie immer, konnte sie sich an dem üppigen Grün ihrer Heimat nicht satt sehen. Ihr Blick tauchte in die vielen Schattierungen dieser Farbe ein, glitt über die Gipfel der Berge, die Wipfel der Bäume, die sich sanft im Winde wiegten. Sonnenstrahlen zauberten goldene Reflexe auf das dichte Blattwerk.

hr Gegenüber beobachtete fasziniert ihr Mienenspiel. Sie spürte es. Und es machte sie  nervös und unruhig. Fast magnetisch zog er ihre Blicke an ... und wenn sie sich trafen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, das sie freundlich erwiderte. Sie versuchte, sich abzulenken, an anderes zu denken, aber es klappte nicht. Sie registrierte, dass er ihr gefiel. Oh ja, er war ein hübscher Mann mit einem freundlichen Wesen. Sie registrierte auch, dass er keinen Ehering trug. „Mein Gott, was soll denn das!“ schalt sie sich. „Lesen! Das ist es!“ Die beiden anderen in diesem Abteil waren in ihre Bücher vertieft. Lesen! Das war das Rezept, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie kramte die Zeitung aus ihrer Handtasche ...und  sie fiel auf den Boden.

Mit „Darf ich?“ und einer raschen Bewegung hob sie der junge Mann auf und reichte sie ihr.

„Danke! Möchten Sie auch einen Teil zum Lesen haben? Den Sportteil vielleicht?“

„Wenn ich darf .. gerne!“

Nun lasen beide. Und die junge Frau las tatsächlich. Sie tat nicht nur so, sie nahm sich einen Artikel nach dem andern vor .... die Spannung wich von ihr und die Situation normalisierte sich.

Als er ihr den Teil der Zeitung zurückgab, entwickelte sich ein kurzes, nettes Gespräch ... und bald hatten sie den Ziel-Bahnhof erreicht. Mit einem Lächeln und „Darf ich?“ hob er den Koffer herunter. Sie verabschiedeten sich und wünschten einander einen schönen Tag.

Sie sammelte ihre Utensilien ein, reihte sich in die Schlange der Aussteigenden und strebte der Türe zu. Wie staunte sie, als er davor stand und sie fast schuldbewusst anlächelte „Darf ich Ihnen den Koffer noch über die Trittbretter hinunter heben? Er ist wirklich schwer.“

Sie errötete leicht, freute sich aber über den Kavaliersdienst. Wieder bedankte sie sich mit einem Lächeln und steuerte der Straßenbahn-Haltestelle entgegen. 

Als sie einsteigen wollte, ertönte hinter ihr das bekannte “Darf ich?“ .... und schon stemmte er den Koffer in den Wagen. „Das gibt es nicht!“ stieß sie hervor und lachte. Er stimmte ein und sie lachten einige Minuten lang.

„Sie scheinen heute ja mein ganz besonderer Schutzengel zu sein!“ sagte sie immer noch lachend. „Ja, wenn ich darf, bin ich es gerne!“ Dabei aber dachte er, dass er das am liebsten für immer wäre.

Deshalb stellte er dann auch die nächste Frage:

„Darf ich Sie wiedersehen?“

Er durfte.

Und die Frage: „Darf ich?“

Na ja, die wurde zum geflügelten Wort in ihrem langen Leben.