Romane & Erzählungen
Luzifer

 

In einer Zeit des Krieges sah eine Schar Engel auf die Erde hinab. Sie sahen den Hass und die Gier der Menschen und schüttelten die Köpfe. „So kann es nicht weitergehen.“, sagte einer von ihnen. Die anderen nickten zustimmend. „Wir müssen die unschuldigen Menschen beschützen und den Frieden auf die Welt zurückkehren lassen.“ Und sie schickten dunkle Wolken zur Erde, gefüllt mit
Blitzen und dem Groll der Engel, auf dass sie den Kriegführenden Einhalt gebieten mögen. Doch die Menschen sahen diese Zeichen nicht. Die Engel berieten, was nun zu tun sei und kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass einer von ihnen höchst persönlich auf die Erde entsandt werden sollte, um die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren. Sie wählten Luzifer, den jüngsten und kräftigsten aus. Also machte sich Luzifer bald auf den Weg.
Er landete in einem kleinen Dorf, weit abseits der großen Städte und sah die Armut. Traurigkeit lies sein Herz schwer werden. Und er fragte sich, wie die reichen Menschen in den Städten so etwas geschehen lassen konnten. Der Himmel verdunkelte sich und es begann in Strömen zu regnen. Dicke Tropfen fielen wie ein Sturzbach vom Himmel und durchtränkten seine Kleider. Die Menschen suchten Schutz in ihren baufälligen Häusern.
Ein eisiger Wind ließ Luzifer frösteln und er sah sich nach einem Schutz für sich um, als er plötzlich die Stimme eines kleinen Jungen hinter sich vernahm. „Willst du dich nicht unterstellen?“ Luzifer drehte sich um und sah einen Jungen von etwa 6 Jahren. Luzifer lächelten ihn an. „Ich weiß nicht, wo ich mich unterstellen kann.“ Der Junge nahm ihn bei der Hand. „Du kannst mit zu uns kommen. Wir haben bestimmt noch irgendwo Platzt für dich.“ Und Luzifer ließ sich von dem kleinen Jungen führen. Wenn doch nur alle Menschen so herzlich wären, wie dieses Kind, dachte er. Der Junge führte ihn zu einem kleinem Häuschen unter einem großen Baum. Es hatte noch nicht mal eine Tür. Vor dem Eingang hang eine zerfetzte und mittlerweile triefendnasse Decke. Der Junge schob sie zur Seite und ließ Luzifer eintreten, der den Kopf einziehen musste.
Im Inneren des Häuschens gab es einen großen Raum, in dem ein Feuer knisterte, an dem sich zwei Mädchen und drei Jungen die Hände
wärmten. „Nikolas!“ Der älteste Junge stand auf und ging zu dem kleinen Jungen, der Luzifer hergeführt hatte. „Ich hab dir doch gesagt du sollst reinkommen, wenn es anfängt zu regnen, sonst holst du dir noch eine Lungenentzündung!“ „Ja.“, antwortete Nikolas kleinlaut. „Aber schau Flee, ich hab jemanden mitgebracht.“ Erst jetzt schien der ältere Junge Luzifer zu bemerken. „Er darf doch hier bleiben, bis es auf hört zu regnen, oder? Bitte Flee!“ Flee musterte Luzifer. „Natürlich darf er bleiben.“ , sagte er dann. „Bei dem Wetter schickt man nicht einmal seinen größten Feind vor die Tür.“ Er bot Luzifer einen Platz am Feuer an, während das ältere der beiden Mädchen mit Nikolas durch die einzig andere Tür verschwand und ihm trockene Sachen anzog.
„Wir haben auch noch etwas zu Essen.“ Der Junge lächelte dünn. „Ist nicht das Beste, aber immerhin etwas zu essen.“ Er reichte Luzifer ein Stück hartes Brot und eine Schüssel Suppe, die aus warmem Wasser bestand, in dem ein paar Kräuter und Gewürze schwammen. „Tunk das Brot ein, sonst beißt du dir noch ein Zahn aus.“, sagte das kleine Mädchen zu ihm, das neben ihm saß. „Ach ja und das sind Maria, Sophie, Maximilian und Friedrich.“, stellte der große Junge Luzifer die restlichen Kinder vor. „Mein Name ist übrigens Felix und deiner?“ „Ich heiße Luzifer.“ Die Kinder musterten ihn neugierig. „Wo kommst du her, Luzifer?“, fragte Sophie, das größere der beiden Mädchen, das den Raum gerade wieder betreten hatte. „Aus einem kleinen Dorf nördlich von hier. Es ist abgebrannt und völlig zerstört worden.“ „Das tut mir Leid.“ Sophie lächelte traurig und wechselte dann das Thema. „So und ihr geht jetzt alle ins Bett.“, sagte sie zu den
Kleinen. „Erzählst du uns denn noch eine Geschichte?“ Maria sah Sophie bittend an. „Na gut, aber nur, wenn ihr euch gleich in die Betten legt.“ Maria, Nikolas, Maximilian und Friedrich jubelten und beeilten sich dann in ihre Nachtlager, die sich im nächsten Raum befanden und aus ein bisschen Stroh und je einer Decke bestanden, zu kommen. Sophie entschuldigte sich und verschwand ebenfalls durch die Tür.

 

Eine zeitlang schwiegen Felix und Luzifer sich an. „Wann kommen eure Eltern denn nach Hause?“, unterbrach Luzifer das Schweigen. Felix starrte gedankenverloren ins Feuer, als er antwortete. „Unsere Eltern leben nicht mehr. Meine Mutter starb kurz nach Nikolas Geburt und mein Vater fiel im Krieg. Nikolas und die anderen sind alles, was ich noch habe.“ Luzifer war betrübt. Warum mussten so freundliche Kinder ohne Eltern aufwachsen? Aus dem Schlafzimmer hörte er das Lachen der Kinder. „Sophie ist gut im Geschichten erzählen.“ Felix sprach mehr mit sich selbst als mit Luzifer. „Seid ihr alle Geschwister?“ Felix lachte. „Nein. Sophie und Maria gehört dieses Haus. Was mit ihren Eltern passiert ist weiß ich nicht, sie reden nicht darüber. Friedrich und Maximilian kommen auch aus diesem Dorf. Friedrichs Eltern sind im Eis eingebrochen, als er gerade laufen konnte und bei Maximilian ist es genau wie bei uns.“ Er seufzte. „Nikolas und ich kommen von weiter her. Wir sind durch die Gegend gezogen auf der Suche nach Gelegenheitsarbeiten, mit denen ich gerade so viel Geld verdient habe, dass es für uns beide reichte. Als wir hierher kamen, hat Sophie uns aufgenommen. Seitdem Leben wir hier. Ich hacke Holz und verdiene ein bisschen Geld bei einem Schmied hier ganz in der Nähe, während Sophie Kräuter, Pilze und so etwas sammelt und auf die Kleineren aufpasst.“
Sophie betrat den Raum und setzte sich neben Felix. Dann herrschte eine Weile wieder Schweigen. „Ich glaube ich werde mich auch etwas hinlegen, es ist schon spät und es war ein langer Tag.“ Luzifer stand auf. Sophie erhob sich ebenfalls und begleitete ihn ins Schlafzimmer. „Ich habe schon ein Bett für dich hergerichtet.“ Luzifer bedankte sich und sie verlies den Raum. Luzifer legte sich hin. Das Stroh war genauso unbequem, wie es aussah. Er schloss die Augen und betete zu Gott und den anderen Engeln, dass sie auf die Kinder achten mögen, wenn er fort musste und dass sie ein besseres Leben vor sich hatten, wenn die Kriege vorbei waren. Denn diese Kinder hatten ein besseres Leben verdient.
Luzifer lag auf seinem Bett und wartete, bis der Sturm vorüber zog. Dann stand er auf, um seine eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Die Nacht war sternenklar. Luzifer breitete seine Engelsflügel, die er unter seinem Gewand versteckt gehalten hatte, aus und machte sich auf den Weg zu der nächstgelegenen Stadt. Er vernichtete ihre Waffen und schickte den Menschen Träume, die sie an das wirklich Wichtige erinnerten.
Luzifer erwischte einen Dieb, der seine Beute sofort fallen lies, als er Luzifer entdeckte und panikartig das Weite suchte. Luzifer hob den Beutel auf und fand jede Menge Geld darin.
Als es hell wurde, fand er in der Zeitung den Namen des Mannes, dem es gestohlen worden war. Er machte sich auf den Weg zu ihm und brachte es ihm wieder. Der Mann war so überglücklich, dass er Luzifer einen Teil davon überlies. Damit kehrte Luzifer zu Felix zurück und schenkte ihm das Geld, damit er sich gut um die anderen kümmern konnte. Und Luzifer dankte Gott und den Engeln, weil sie es ihm möglich gemacht hatten, diesen Kindern zu helfen.
Luzifer kehrte noch oft zu den Kindern zurück, brachte ihnen Geld, Essen, Kleider oder was immer er sonst noch auftreiben konnte. In der Welt kehrte langsam wieder Frieden ein. Stadt für Stadt, Land für Land. Die Menschen ließen endlich ihre Waffen fallen und gaben sich die Hände. Bald würde wieder alles so sein, wie es sein sollte. Doch als Luzifer eines Tages zu den Kindern zurückkehrte, fand er das Dorf völlig zerstört vor. Die Häuser waren geplündert und abgebrannt, überall lagen Tote, die ihren Besitz hatten verteidigen wollen. Luzifer lief zu dem Haus der Kinder, das jetzt nur noch eine rauchende Ruine war. Felix lag tot davor. Er hatte einen dicken Ast in der Hand, mit dem er wohl gekämpft hatte. Luzifer beugte sich über ihn. Tränen liefen ihm über die Wange und tropften auf Felix toten Körper. Aber wo waren die anderen? Luzifer sah sich um und entdeckte Sophie, ebenfalls tot mit einem Stock in beiden Händen, um sich zu wehren. Sie war feige
von hinten erstochen worden. Was waren das für Monster, die Kinder von hinten erstachen?
Und dann entdeckte er Nikolas. Der kleine Junge hielt etwas in der Hand fest umklammert. Luzifer hockte sich neben ihn. Vorsichtig öffnete
er seine Hand. Es war das kleine Holzpferd, das Luzifer ihm einmal mitgebracht hatte. Luzifers Augen quollen über vor Tränen und er schrie die Engel im Himmel an, warum sie nicht auf diese Kinder geachtet hätten und warum die Kinder hatten sterben müssen.
Er fühlte sich verraten. Wut, Hass und ein unbändiger Zorn kochten in ihm. Seine Flügel färbten sich schwarz.
Die Engel sahen mit Entsetzen, wie Luzifer sich an den Menschen rächte. Er kam über sie wie ein Fluch und brachte ihnen die grauenvollsten Tode. Wieder berieten die Engel, was nun zu tun sei. Und schweren Herzens nahmen sie Luzifer seine Flügel und verbannten ihn tief unter die Oberfläche der Erde, da sie es nicht fertig brachten ihn zu töten. Und dort wird er hausen, hassen und vor Zorn kochen, bis Nikolas, Felix, Sophie, Maria, Maximilian und Friedrich wieder auferstehen.