5. Kapitel
Einige Monate zogen ins Land. Aber mir kamen sie vor wie
Jahre. Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, musste ich feststellen, dass
ich sie so gut wie verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr wie es war ohne Lucia
zu leben. Ohne ihr Lachen und ohne ihren Optimismus.
Und über die Zeit entwickelten Soraya, Francesco, Lucia und
ich zu so etwas wie einer Familie. Besonders an Weihnachten, wenn Lucia alle
Bediensteten nach Hause zu ihren Familien schickte und wir vier alleine in dem
riesigen Anwesen waren.
Ich werde den Moment, in dem sie mit feuchten Augen auf mich
zu gerannt kam, mir in die Arme fiel und ins Ohr flüsterte: „Ich werde Vater,
Seropin!“ nie vergessen. Das hatte ich mir geschworen. Aber die Zeit ist etwas
Grausames.
Der Schnee tanzt vor dem Fenster. „Seropin?“, fragt eine
Stimme. Sie ist zu dunkel, dachte ich nur, aber ich drehte mich trotzdem um.
„Ich bin hier, junger Herr.“ Philipp steht auf einem Hocker und zwei Schneider wuselten
um ihn herum. „Habt Ihr für den Empfang alles vorbereitet?“ Diese Stimme. Ich
hasste diese Stimme. „Ja, junger Herr.“
Philipp nickte. „Gut, für heute könnt Ihr Euch zurückziehen,
Seropin.“ „Sehr gütig von Euch, junger Herr.“ Ich verbeugte mich, doch Philipp
hatte sich schon wieder den Schneidern zugewandt. Ich schlenderte durch das
Haus, das für diese Zeit viel zu voll war. Unschlüssig blieb ich stehen,
entschied mich dann dafür Lucia zu besuchen und verließ das Haus.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Der Garten lag
unter einer unberührten Schneedecke. Mein Blick und meine Gedanken schweiften
in die Ferne. Ich hörte Lucias Lachen und mein Herz krampfte sich schmerzhaft
zusammen.
Vor zwei Schneehügeln blieb ich stehen. Ich hockte mich
davor und trug den obersten Schnee ab. LUCIA MORGAN Â 3. September 1748- 15. April 1761
Ich erinnerte mich, wie ich stundenlang wortlos mit Lucia
vor Alawis Grabstein gestanden hatte. „Es ist schon ein seltsames Gefühl,
seinen Namen auf einem Grabstein zu sehen.“, hatte sie einmal gesagt.
„Ich weiß nicht, ob ich es morgen schaffe, also wünsche ich
dir lieber jetzt schon mal frohe Weihnachten, Alawis.“ Ich schluckte meinen
Kloß im Hals hinunter.
Meine Hand zitterte, als ich sie nach dem zweiten Schneehügel
ausstreckte. ALAWIS MORGAN 3. September 1748 – 28. August 1770 Â und FLYNN MORGAN 7. Dezember 1768- 28. August
1770
Ich strich mit meiner Hand über die Buchstaben, bis sie
hinter einem Tränenschleier verschwanden. Ich weiß nicht, wie lange ich dort im
Schnee kniete. Ich weiß nur, dass ich meine Beine kaum noch spürte und dass
meine Kleidung total durchnässt war, als ich zum Haus zurückkehrte.
Ich verschwand so schnell es geht in meinem Zimmer. Neben
meinem Bett lag der ausgeblichene alte Gedichtband. Ich streifte die nassen
Kleider ab und legte mich auf mein Bett. Ich griff nach dem Buch und strich
wieder und wieder über den Einband. Â
„Mein Vater hat mir ein neues Exemplar davon gekauft und
möchte, dass ich das hier wegschmeiße und ich hatte gehofft, bei dir sei es ihn
guten Händen. Weißt du, dieses Buch bedeutet mir sehr viel. Es wäre schön, wenn
du darauf aufpassen könntest. Tust du das für mich?“, hörte ich Lucias Stimme
in meinen Gedanken. „Ja, Lucia, ich passe darauf auf.“
Ich legte das Buch wieder auf meinen Nachttisch. Die
Müdigkeit übermannte mich und riss mich in meinen allnächtlichen Albtraum.
Â
Ich saß mit Lucia in der Kutsche und presste die Hand auf
meinen Schmerzenden Knöchel. Lucia betrachtete mich missbilligend. „Du solltest
wirklich zum Arzt gehen!“, schimpfte sie, aber ich schüttelte nur den Kopf. „Er
ist wahrscheinlich nur geprellt oder verstaucht. Das tut zwar höllisch weh,
aber da kann selbst der beste Arzt kaum etwas machen.“ Sie verdrehte die Augen.
Eigentlich war alles wie immer, bis wir aus der Ferne die dunkle Rauchwolke
sahen.
Als wir das Haus erreichten, stand es schon in lodernden
Flammen. Lucia sprang hektisch aus der Kutsche und begann die Leute zu zählen.
Es schienen alle da zu sein. Soraya kam auf uns zu gerannt. „Alawis, Flynn
fehlt!“ Ihre Hände verkrampften sich in Lucias Oberarmen. „Flynn ist noch im
Haus.“ Lucias Augen weiteten sich, dann löste sie sich aus Sorayas Griff, schob
sie in meine Arme und rannte los. „Alawis, nein!“, schrien Soraya und ich
gleichzeitig. Ich wollte sie aufhalten, doch mein schmerzender Knöchel und
Soraya hinderten mich daran. Lucia verschwand in den Flammen.
Minutenlang hörte ich nichts außer Sorayas Schluchzen und
meinem rasselnden Atem. An den genauen Ankunftszeitpunkt der Feuerwehr kann ich
mich nicht erinnern, ich weiß nur, dass sie schon da war, als Lucia mit Flynn
auf dem Arm aus der Eingangstür gestolpert kam. Ich riss mich von Soraya los
und ignorierte meinen schmerzenden Knöchel. Aber als ich bei ihr ankam, war es
für Flynn schon zu spät. Lucia lag neben ihm und atmete flach. „Lucia!“,
flüsterte ich leise. Sie blinzelte und griff mit ihrer verbrannten Hand nach
meiner und legte sie auf ihr blutüberströmtes Gesicht. „Seropin“,
sagte sie, ihre Stimme war kaum noch mehr als ein leises Krächzen. „versprich
mir, dass du eines Tages wieder glücklich wirst.“ „Was???“ „Bitte Seropin,
versprich es mir.“ „Ja, ich verspreche es.“ Die Tränen strömten nur so über
mein Gesicht. „Ich liebe dich.“, hauchte Lucia. Dann wurde ihre Hand schlaff.
Â
Schweißüberströmt und weinend wachte ich auf. Ich rieb mir die
Augen. Glücklich werden. Wie sollte ich je wieder glücklich werden?  Â
Ich fuhr mir durchs Haar und vergrub mein Gesicht. Heute war
Weihnachten und ich verspürte nicht die geringste Lust aufzustehen.
Trotzdem schlug ich die Decke zurück und schwang meine Füße
aus dem Bett. Die Kälte ließ mich zittern.
Â
„Seropin, da seid Ihr ja.“ Ich drehte mich um. Philipp kam
auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. „Einen schönen
Weihnachtsmorgen!“ Ich schob seine Hand von meiner Schulter. „Guten Morgen, junger
Herr.“ Die Worte klangen ironischer, als ich es beabsichtigt hatte, aber
Philipp schien nichts gemerkt zu haben.
Wir besprachen den Tagesablauf. Dann machte er sich auf zu
einer familiären Weihnachtsfeier. Ich stand alleine in der riesigen Eingangshalle
und lauschte den Geräuschen der sich entfernenden Kutsche. Jemand trat hinter
mich. Im ersten Moment dachte ich, es wäre Lucia, aber als ich mich umdrehte
war es nur Soraya. Philipp hatte ihr erlaubt mitsamt ihrem Personal im Haus zu
bleiben.
Sie legte mir die Hand auf die Schulter und vergrub ihr
Gesicht an meiner Brust, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Ich nahm sie ihn den
Arm. „Es tut mir so leid, Seropin.“ Ich strich ihr durch Haar. Sie war so etwas
wie eine Schwester in den letzten Jahren geworden. „Hör auf zu weinen, Soraya,
oder willst du Francesco noch eifersüchtiger machen als er eh schon ist?“ Sie
lachte leise und wischte sich ihre Tränen vom Gesicht. „Geh zu ihm. Ich habe
noch zu tun.“ „In Ordnung.“, hauchte sie leise. Ich küsste ihr Haar und machte
mich dann an meine Arbeit.
Â
Am Abend lag ich im Bett und wünschte mir nichts mehr als
einen traumlosen Schlaf. Plötzlich klopfte es an meine Tür. Verwirrt und doch
etwas dankbar für die Ablenkung öffnete ich sie. Philipp stand davor. Ich hatte
das Bedürfnis ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch ich beherrschte mich.
„Junger Herr, wenn Ihr etwas wünscht, dann lasst doch nach mir rufen.“ Philipp
musterte mich. „Darf ich eintreten?“ „Was wünscht Ihr, junger Herr?“ Ich wollte
nicht, dass er dieses Zimmer betrat. „Ich habe ein paar Fragen an Euch.“ „Kann
das nicht bis morgen warten, junger Herr?“ „Nein, kann es nicht.“ Damit machte
er wie selbstverständlich einen Schritt an mir vorbei und sah sich in meinem
Zimmer um. „Ich war noch nie in Eurem Zimmer.“ Wie ich diese Stimme hasste.
„Was wollt Ihr von mir wissen, junger Herr?“ Philipp drehte sich zu mir um und
betrachtete mich eine Weile. „Was für eine Beziehung hattet Ihr zu meinem
großen Bruder?“ „Alawis war mein Herr.“
Diese Antwort war noch nicht mal gelogen. „Wie habt Ihr über ihn gedacht?“ Was
wollte er damit erreichen??? „Ich habe ihn bewundert.“ Philipp lachte humorlos.
„Junger Herr, hättet Ihr die Güte nun mein Zimmer zu
verlassen?“ Philipps Augen weiteten sich. „Ich bin müde und würde gerne
Schlafen, junger Herr.“ Philipp knirschte mit den Zähnen. „Ihr werft mich aus
Eurem Zimmer?“ Wie ich diese Stimme hasste!!! „Gute Nacht, junger Herr.“, damit
schloss ich die Tür vor seiner Nase.