Einleitung
Ein wichtiges Thema: Integration, wie sie gelingen kann oder auch nicht...
Hassan kam mitten in der Nacht heim. Sein Bruder schlug die Tür so fest zu, dass Yasin aus seinem Schlaf aufschreckte. Schläfrig sah er auf den digitalen Wecker auf dem Nachtschrank neben seinem Bett. 3:20 Uhr. Gespannt wartete Yasin, ob sich Hassan ins Bett legen würde. Nein, es wäre auch zu schön gewesen. Man konnte aus der nebenan gelegenen Küche undeutliches brabbeln hören und plötzlich ging etwas zu Bruch. Nun völlig munter sprang Yasin, nur in Boxershorts, aus seinem Bett und ging leise zur gegenüber gelegenen Tür. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Links aus der Küche schien Licht auf den langen Flur. Er hoffte inständig, dass seine Eltern nichts mitbekamen, die am Kopfende des Flures ihr Zimmer hatten. Weit genug weg war es. In der Küche angekommen, sah er ein zerbrochenes Glas auf dem hellen Fliesenboden. Ein verwirrtes Augenpaar starrte ihn aus der hintersten Ecke der Küche aus an. „Warum machst du so einen Radau?“ „Ich maaach, wass ich willl.“, lallte Hassan ihm laut entgegen. Wackelig versuchte Hassan ihm bedrohlich entgegen zu laufen. Es sah eher lächerlich aus. „Und jetzt sssssssst… ich meine psst!“ Als sich der jüngere Bruder den Zeigefinger vor die Lippen drücken wollte, rausche dieser links an seinem Gesicht vorbei und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, doch er fing sich wieder. Der zweite Versuch klappte. „Dann geh jetzt auch ins Bett, Hassan, bitte!“, flehte Yasin uns machte ebenfalls einen Schritt auf seinen Bruder zu. „Duuuuuu, du hast mir gar nix zu sagen.“, schrie Hassan. „Du scheiß Alman (Deutscher)!“ Mit glasigem Blick torkelte er auf seinen großen Bruder zu. Plötzlich sah Yasin ein Messer in Hassans Hand, die zum zustechen anhob. „Hassan, mach kein Scheiß! Du bist betrunken, man!“
„Jaha.“, seine Augen funkelten stolz. „Das macht abba nix!“ Seine Augen wirkten wie irre, als er aus trockener Kehle lachte. Mit unerwarteter Schnelligkeit sprang er Yasin an. Er bückte sich und drehte sich zur Seite. Doch Hassan knallte gegen den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Trotzdem hatte er Yasin am Arm erwischt, Blut quoll aus der Wunde. „Bleib ruhig Hassan!“, Yasin merkte den Schmerz nicht. Er konzentrierte sich voll auf seinen Angreifer. Mit ungeahnter Wucht ließ Hassan erneut das Messer auf Yasin hinab sausen. Wieder konnte er ausweichen, doch nun war er in die hinterste Ecke gedrängt, aus der er sich nicht so schnell wegbewegen konnte wie nötig. Hassan erkannte seinen Vorteil und grinste hämisch. Zum dritten Mal zischte das Messer durch die Luft. Yasin konnte Hassans Handgelenk packen noch bevor es zu nahe kam und fasste nach dem anderen. Vor Wut schäumend wehrte sich Hassan gegen den harten Griff. Doch sein Bruder rang ihn fast mühelos zu Boden. Teils aufgrund seines trainierten Körpers, teils weil Hassan einfach zu betrunken war. Beide atmeten schwer, als sie sich am Boden liegend in die Augen sahen. In diesem Augenblick hörte Yasin einen spitzen Schrei und wandte sich zur Küchentür. Er erkannte seine Mutter. Durch den gelockerten Griff bekam Hassan seine Chance und er nutzte sie eiskalt. Zu spät bemerkte Yasin seinen Fehler, doch schon hatte sich der andere aus dem Griff befreit und ließ die Klinge sprechen. Erst begriff Yasin gar nicht was geschah. Er bemerkte nur warmes Zeug über seinen nackten Körper laufen. Völlig entgeistert starrte er auf seinen Bruder. Mama musste schrecklich leiden in diesem Moment. Mit einem Mal schmerzte ihn die einzelne Wunde. Er fiel neben seinem Bruder zu Boden, der sich sofort über ihn beugte und weiter zu stach. Sein Bewusstsein erkannte endlich, dass ihn sein eigener Bruder abgestochen hatte. Vor seinen Augen wurde es allmählich dunkel. Als letztes sah er seinen Vater, der den fast wahnsinnigen Hassan von ihm runter zu nehmen versuchte. Dann war alles schwarz und er merkte nichts mehr. Weder von dem kurz darauf eintreffenden Krankenwagen, der ihn schnell ins Krankenhaus brachte, noch von der Polizei, die seinen Bruder zu dritt mit dem Vater nieder rangen und mitnahmen.
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Neben ihm piepste etwas unerträglich laut und Yasin schlug die Augen auf. Er blinzelte ein paar Mal. Alles war so hell um ihn herum. Rechts von ihm erkannte er einen dieser Apparate, die die Herzfrequenz maßen und ein weiteres, aber leeres, Bett. Ganz offensichtlich lag er im Krankenhaus. Der rechte Mittelfinger fühlte sich seltsam an. Wieder irgend so ein Messgerät.
Die Erinnerungen kamen langsam zurück und Yasin stöhnte vor innerem Schmerz. Sein eigener Bruder!
Links neben ihm bemerkte er eine leichte Bewegung. Das Licht des großen Fensters blendete ihn. Bald erkannte er seine Mutter vor seinem Bett kauern, die seine Hand fest umklammert hielt. Ihr ganzer Körper erzitterte unter ihren Schluchzern. Sachte strich er mit seinem Daumen über ihre Hände. „Benim canim annem. (Meine geliebte Mutter)“ Erschrocken blickte die Angesprochene auf ihren Sohn. Ein türkischer Wortschwall ergoss sich über ihn. Müde lächelnd drückte er noch einmal die Hnd seiner Mutter. Wieder wurden seine Lider schwer. Sanft fiel er in einen tiefen Schlaf.
Das nächste Mal weckte ihn das öffnen einer Tür und noch mit geschlossenen Augen begrüßte er seine Mutter auf Türkisch. Als Antwort erhielt er ein helles, leises kichern. Waren seine Schwestern da? Es hörte sich so anders an. Sein Körper spannte sich und unter einiger Anstrengung öffnete er seine Augen. Blauauge stand vor seinem Bett und grinste Breit. „Ich habe leider kein Wort verstanden.“
„Ach du bist es.“ Entspannt lehnte er sich wieder zurück. „Was machst du hier?“
„Nach dir schauen. Du warst zwei Tage nicht in der Schule und zu Hause bei dir war auch keiner. Dann kam mir heute Morgen der Artikel in der Zeitung unter die Nase und da habe ich dann rum telefoniert. Und hier bin ich! Wie geht’s dir?“
„Den Umständen entsprechend. Ich glaube, ich bin stoned von dem ganzen Zeug, die die in mich reinlaufen lassen.“ Damit deutete er auf den Tropf neben seinem Bett. Das Mädchen musste wieder lachen. Aber nur ganz leise und ganz kurz.
„So siehst du auch aus. Ich habe dir die ganzen Zettel und Hausaufgaben mitgebracht, die wir bekommen haben, seit du weg warst. Zumindest die, von den Kursen, die wir zusammen haben.“
„Danke. Sobald ich in der Lage bin, werde ich alles nachholen.“ Schweigen von beiden Seiten. Yasin sah sich das Mädchen genau an. Grüne Jeans, weißes T-Shirt. Man sah das Top darunter. Ihre Haare waren offen. Die Hände umfassten die Stange am Fußende des Bettes. Sie war immer noch hübsch. Yasin kam wieder in Erinnerung, dass er ihren Namen gar nicht wusste. „Wie heißt du eigentlich?“
„Judith.“
Beide hingen weiter ihren Gedanken nach. Er bemerkte, dass Judith völlig abwesend auf seine Decke starrte und eine Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen hatte.
„Hey, alles gut?“, fragte er und schreckte sie damit aus ihren Gedanken auf.
Judith zuckte zusammen. „Ja, ja. Alles ist gut, alles ist gut.“ Es dauerte ein bisschen, bis sie sich wieder gefasst hatte. Doch dann lächelte sie ihn an. „Ich werd‘ dann mal gehen. Hausaufgaben machen.“
„Tu das. Kommst du wieder?“
„Klar, wenn du möchtest. Also, dann bis morgen. Mach‘s gut.“
„Danke, du auch. Bis morgen.“
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Yasin konnte nicht wieder einschlafen. Die Pfleger kamen und gingen. Seine Familie kam und ging. Keiner sagte etwas über Hassan. Der Arzt kam und unterrichtete ihn über seinen Gesundheitszustand. Nur fünf Messerstiche. Sein zustand war Stabil. Yasin hätte Glück gehabt.
Und er hing weiter mit seinen Gedanken Judith nach. Sie war so ganz und gar anders.