Ich saß auf der Bank im Park und beobachtete die Enten. Es war November und es war bitterkalt. Bleigaue Wolken zogen über den tristen Novemberhimmel und ich spürte eine Erkältung in mir aufsteigen.
Eine alte Frau in einem grauen Mantel fütterte die vielen Tauben, die sich gurrend auf dem matschigen Feldweg niederließen. Hatte sie nichts Besseres zu tun? Jedes Kind wusste doch, dass man die Enten nicht füttern durfte! Jetzt fing sie auch noch an mit den Enten zu sprechen. Wie mich das nervte! Als hätte sie meine Gedanken erraten, drehte sie sich unerwartet zu mir um und ich hatte das Gefühl, dass sie mir den bösen Blick sandte. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, doch ich hielt ihrem Blick stand. Plötzlich fing es an zu nieseln. Auch das noch ... . Warum saß ich hier auf der kalten Bank, Mitten im November und lag nicht mit einem guten Buch in meinem warmen Bett? Oder unternahm etwas mit meiner Tochter, für die ich jetzt einen teuren Babysitter bezahlen musste ... . Ich rutschte unruhig hin und her und hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Hätte ich mir bloß ein Sitzkissen mitgebracht. Die Bank war sehr kalt und mit Moos bewachsen.
Ich wickelte meinen lila Schal noch enger um meinen Hals. Der lila Schal. Das war mein Erkennungszeichen. Ich schaute auf die Uhr. Nun schon zum zehnten Mal. Es war fünf Minuten vor drei Uhr. Gleich würde er kommen. Mein Traummann aus dem Internet.
Wie hatte eigentlich alles angefangen? Ich wusste es schon gar nicht mehr so genau. Vor einigen Monaten. Auf jeden Fall war es noch Sommer und ich saß mit einem Glas Rotwein auf meinem kleinen Balkon und surfte durch das Netzt. Meine Freundin Bianca saß im Liegestuhl neben mir und hatte ihr Glas Rotwein bereits längst ausgetrunken. Sie war übermütig und ganz wild darauf, mich endlich unter die Haube zu bringen. Ich war wirklich ein schwerer Fall. Nach drei zerrütteten Beziehungen hatte ich langsam den Glauben an die große Liebe verloren und ging nur noch widerwillig mit auf die Ü 30 Partys. Es war immer alles sehr ernüchternd und ich fand keinen Gefallen mehr daran, mich schick zu machen und auf Beutezug zu gehen. Immer mehr kapselte ich mich ab und igelte mich ein. Ich hatte eine schicke Zweizimmerwohnung im Zentrum von Düsseldorf, meine siebenjährige Tochter und meinen Job als Krankengymnastin. Ich war zufrieden. Richtig glücklich nicht, aber immerhin zufrieden. Was wollte ich mehr? Doch Bianca ließ nicht locker. Immer und immer wieder holte sie mich aus meiner Abgeschiedenheit heraus und stellte mir einen Mann nach dem anderen vor. Es war entsetzlich. Ich kam mir vor wie ein Restposten, der zu einem Schleuderpreis verhökert werden sollte.
Doch an diesem Abend war Bianca mit einer ganz anderen Idee zu mir gekommen. Sie wollte, dass ich im Internet auf einer ganz bestimmten Seite einfach einmal herumklicken sollte. Ich fand diese Idee zwar etwas kindisch, doch ich musste wenigstens nicht mit auf eine dieser üblen Partys. Glücklich konnte ich auf meinem Balkon sitzen bleiben und mit meiner Freundin Wein trinken. Nachdem wir die Flasche geleert hatten, stieß ich plötzlich auf einen eigenartigen Text:
„Bist du zufrieden, aber nicht glücklich?“
Das war der Slogan, an dem ich hängen blieb. Ich las weiter und mein Herz begann zu rasen. Plötzlich war ich mir sicher: Ich hatte den Mann meiner Träume gefunden. Hier auf meinem Balkon. Aufgeregt schrieb ich zurück und bekam auch sofort eine Antwort. Am Anfang schrieben wir nur kurze mails, doch dann wurden die Texte länger und länger. Ich hatte das Gefühl, dass ich Roberto alles erzählen konnte und das tat ich auch. Die Geschichte meiner verkorksten Kindheit, meine gescheiterten Beziehungen und alltägliche Anekdoten aus der Praxis. Wir schienen Seelenverwandte zu sein – schwebten auf der gleichen Wellenlänge.
Wir fanden Burger King besser als MC Donalds, wir hatten beide alle Folgen von „friends“ gesehen, wir liebten Weizenbier und hatten die gleiche CD von Maná in unserem Schrank. Unser großer Traum war, einmal die Mitternachtssonne zu sehen. Roberto hatte keine Kinder, doch unzählige Nichten und Neffen, mit denen er gerne spielte.
Doch zwei Dinge waren seltsam: Werder Roberto noch ich schickten ein Foto – weder Roberto noch ich schlugen ein Treffen vor. Vielleicht hatten wir Angst vor der Realität – vielleicht wollten wir unseren Traum doch so lange wie möglich erhalten. Was, wenn beim richtigen Kennenlernen doch wieder alles wie eine Seifenblase zerplatzen würde?
Schließlich, Anfang November, machte Roberto den gewagten Schritt. Er schlug ein Treffen vor. Im Park. An der Bank beim Ententeich. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, oder nicht. Einerseits war ich glücklich darüber, so wie alles war, doch andererseits wollte ich nicht mehr alleine sein. Besonders nicht im November.
Und so kam es dazu, dass ich mich aufmachte, mir den lila Schal umband und auf eine blaue Globetrotterjacke wartete. Inzwischen war es drei Uhr geworden. Die alte Hexe mit ihrem Futterbeutel war inzwischen verschwunden. Kein Mensch war mehr im Park. Nur ich und ... von weitem sah ich schon das leuchtende Blau. Mit großen Schritten kam er auf mich zu. Ich wurde plötzlich ganz ruhig und strahlte ihn an. Er war groß und schlank und hatte dunkele Locken. Ein richtiger Traummann. Ein Märchen wurde wahr. „Hallo, ich bin Roberto!“, sagte er. Seine Stimme klang angenehm tief, ein bisschen rau. Das mochte ich. Vertraulich legte er seinen Arm um mich. Auch das fand ich schön. Doch irgend etwas beunruhigte mich plötzlich sehr. Ich wusste nicht genau, was es war. Aber ich hatte dieses flaue Gefühl im Magen, und das wurde immer stärker. Was war bloß los mit mir? War ich es einfach nicht mehr gewohnt, ein Date zu haben? War ich mit vierzig schon zu alt für solche Experimente? Aber ich wollte so gerne mit diesem Mann ausgehen. Das Internet hatte uns zusammen geführt. Es war Schicksal. Was hatte ich für ein Glück! Das wollte ich mir einfach nicht durch dieses unbehagliche Bauchgefühl vermiesen lassen ... .
„Ich wollte dich zu meinem Lieblingsitaliener einladen!“, sagte er plötzlich. Die Idee fand ich gut. Instinktiv wollte ich unter Menschen, weg aus diesem einsamen Park mit den ekligen Tauben. Vielleicht war es einfach die falsche Atmosphäre – dieser düstere Park mit den vielen Trauerweiden zog mich einfach irgendwie runter.
Roberto und ich gingen eng umschlungen durch die Straßen. Er erzählte mir von seinem letzten Urlaub, aber ich hörte kaum zu. Was beunruhigte mich so an diesem Mann? An der Ampel blieben wir stehen und ich sah ihm kurz ins Gesicht. Plötzlich wusste ich es. Es waren seine Augen. Eindeutig. Wo hatte ich die schon mal gesehen? Dieser bohrende Blick und die zusammengewachsenen buschigen Augenbrauen.
Gleich hinter der Kreuzung lag das Al Dente. Roberto hielt mir die Tür auf und half mir aus dem Mantel. Wir waren die einzigen Gäste, italienische Musik dudelte aus den Lautsprechern.
Alles könnte so schön sein, doch meine innere Stimme sagte mir immer eindringlicher: „Lauf! Lauf weg, so schnell du kannst!“ Ich schluckte und versuchte meine zitternden Hände zu verbergen. Der Kellner kam. „Ihr schon wisst, was ihr wollt?“, fragte er in schlechtem Deutsch. Wir schüttelten die Köpfe und bestellten fürs Erste eine Flasche Rotwein. Nachdem Roberto die Speisekarte studiert hatte, sah er mich an. Ich wurde ganz nervös und wagte es kaum, aufzublicken. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich wusste auf einmal, warum Roberto mir so bekannt vorkam.
Doch ich musste Gewissheit haben. Aufgeregt sah ich mich um. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite des Restaurants, war ein kleiner Zeitschriftenkiosk. „Trinkhalle“ leuchtete in großen neonfarbenen Buchstaben über dem Verkaufsfenster. Was für ein Zufall! Genau danach hatte ich gesucht! Eilig stand ich auf und stürmte aus dem Restaurant. „Ich muss kurz noch etwas besorgen!“, rief ich dem erstaunten Roberto zu. Obwohl die Ampel auf Rot stand, lief ich über die Straße. Meine Beine zitterten – ein Auto hupte und kam mit quietschenden Bremsen vor mir zum Stehen. Ganz außer Atem blickte ich in das kleine Kioskfenster und suchte den Verkäufer. Eine alte zahnlose Frau blickte mürrisch hinter einem Regal hervor.
„Haben Sie zufällig noch die Zeitung von gestern?“, fragte ich atemlos. Ohne ein Wort zu sagen, kramte die Frau hinter dem Tresen die Rheinische Morgenpost hervor und hielt sie mir vor die Nase. Ich riss sie ihr aus der Hand und blätterte die Seiten durch. Auf Seite drei fand ich, wonach ich gesucht hatte. Das Phantombild des Kreissparkassenräubers. Robertos Augen blickten mich durchdringend an und seine buschigen Augenbrauen waren noch buschiger, als in der Realität. „ Erst bezahlen und dann lesen!“, beschwerte sich die Verkäuferin. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich mein Portmonee und meine Jacke im Restaurant vergessen hatte. Plötzlich spürte ich eine kalte Hand auf meiner Schulter.
„Du hast ...!“, sagte eine raue heisere Stimme. Den Rest hörte ich nicht mehr, denn ich rannte um mein Leben. Ich wagte nicht, mich umzugucken und hetzte blind links durch die Stadt. Schließlich war ich irgendwie wieder im Park gelandet und stieß mit der alten Hexe zusammen, die anscheinend einen zweiten Beutel mit altem Brot für die Enten geholt hatte. Die Tüte flog im hohen Bogen durch die Luft und alte Brotrinden regneten auf uns nieder. Die Bucklige schimpfte und mein Verfolger hatte mich eingeholt. Er packte mich an der Schulter und rüttelte mich. Jetzt war alles aus. Ich spürte schon das Messer in meinem Rücken und verfluchte das Internet.
„Du hast Flasche Wein nicht bezahlt - dein Mann auch abgehauen. Ich werde euch anzeigen bei Polizei!“, sagte ein kleinwüchsiger Italiener. Plötzlich erkannte ich den Kellner aus dem Al Dente. „Wohin ist der Mann gelaufen?“, fragte ich atemlos. „Er ist der Sparkassenräuber! Ich habe ihn im Internet kennen gelernt. Wir müssen sofort die Polizei anrufen!“ Der Kellner zog schnell sein Handy aus der Hosentasche und sprach einige Sekunden später mit einem Polizisten.
„Ich habe zwei Leute, die wollen nicht bezahlen Rotweinflasche! Kommen Sie schnell zum Zoopark – am Ententeich!“ Fassungslos starrte ich den Kellner an. Wieso glaubte er mir nicht?
Die Alte mit dem Entenfutter hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und sah mich böse an. Das zweite Mal an diesem Tag spürte ich den bösen Blick. „Das kommt davon!“, schnaufte sie.„ Das Internet ist Teufelswerk!“
Carolyn2 Re: Ich hätte mir eine andere Auflösung gewünscht - Vielen Dank für die Rückmeldung - ja, der Schluss fiel mir etwas schwer., muss ich noch dran arbeiten. LG Dörte Zitat: (Original von MarionG am 05.08.2012 - 13:54 Uhr) Ist Roberto wirklich der Sparkassenräuber? Die Geschichte ist gut geschrieben, mir fehlt aber die Pointe. Liebe Grüße Marion |
FLEURdelaCOEUR Na ja - den Schluss mit dem Teufelswerk aus dem Mund der alten Frau fand ich nicht ganz so überzeugend ..... aber sonst - wie immer sehr gut geschrieben. Liebe Grüße fleur |