Wir waren wieder einmal in Schweden, diesmal konnte Benjamin allerdings nicht mit, denn er war mittlerweile in einem Alter, in dem er eine Ausbildung absolvierte. Weil er gerade erst damit begonnen hatte, bekam er keinen Urlaub, leider. Swea war darüber nicht sonderlich traurig, bot das doch die Möglichkeit, ihre beste Freundin als Ersatz mitzunehmen. Erst durch sehr viel Überredungskunst bei Jasmins Eltern war alles gebont. Die Mädchen waren damals 11 Jahre alt, also in einem Alter, wo sie schon einmal modische Wünsche äußern. In diesem Urlaub musste es für die beiden unbedingt ein Wickelrock sein. Trotz intensiver Suche war es uns nicht gelungen, für Swea und Jasmin ein passendes Exemplar zu finden. Nun war der Urlaub fast zuende und die Mädchen immer noch ohne Wickelrock. In diesem Fall wandten sie ihre Überredungskunst mir gegenüber an. Ich muss leider gestehen, dass ich leicht zu überreden bin, weil ich mich immer freue, wenn ich meinen Kindern Herzenswünsche erfüllen kann.
So beschlossen wir also am letzten und zudem auch noch verregneten Urlaubstag einen Laden aufzusuchen, der in etwa 20 km von unserem Ferienhaus entfernt war.
Wir hatten leider nicht alle Zeit der Welt, weil deutsche Urlauber in der Nachbarschaft, mit denen wir uns angefreundet hatten, uns zum Abschiedskaffee eingeladen hatten.
Also machten wir uns um die Mittagszeit auf den Weg. Durch Schwedens herrliche - an diesem Tag leider verregnete - Wälder, bergauf und bergab, an Schwedens - an diesem Tag leider nicht ganz so malerischen - Seen vorbei erreichten wir den Laden und - man stelle sich das Glück der beiden nur einmal vor - fanden die heißersehnten Wickelröcke, die später, das muss ich an dieser Stelle einfach einmal erwähnen, höchstens dreimal getragen wurden, dann waren sie wieder out.
Also konnten wir uns - gut in der Zeit - bei mittlerweile stärkerem Regen auf den Rückweg machen. Plötzlich, mitten im Wald, was in Schweden nicht schwer ist, sah ich einen rötlichen Schatten von rechts aus dem Dickicht kommen. Im gleichen Moment gab es einen kleinen Rumps. Ein Reh, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ich bremste sofort. Die beiden Mädchen plapperten auf dem Rücksitz, wie es wohl für Kinder dieses Alters und dieses Geschlechts üblich ist. Gott sei Dank hatten sie von dem Dilemma nichts mitbekommen, wunderten sich lediglich darüber, dass ich anhielt.
Ich fuhr den Wagen an den Straßenrand, stieg aus und machte mich auf die Suche nach dem Tier. Mittlerweile waren auch Swea und Jasmin ausgestiegen. Sie machten Anstalten, mir zu folgen. Ich sagte: "Ihr bleibt beim Auto." Manchmal kann ich sogar einen autoritären Unterton entwickeln. Es wirkte, sie kletterten zurück in den Fond und waren sogar ein Weilchen stumm.
Ich hatte den Rehbock mittlerweile gefunden. Er lag tot im Straßengraben auf der anderen Seite der Fahrbahn.
Nun galt es, den Schaden am Auto zu begutachten, schließlich wollten wir uns mitten in der kommenden Nacht auf den Heimweg machen. Eine erste Inspektion zeigte ein gesplittertes Blinklicht und eine kleine Delle am Kotflügel. Nichts von Bedeutung, dachte ich, dass ich mich dabei irrte, stellte sich erst in Deutschland heraus.
Wir wohnten zu der Zeit in einem kleinen Ort in Dithmarschen im Norden Deutschlands. Also war mir klar, dass es nun meine Pflicht war, den nächstbesten Jäger von diesem Wildunfall zu unterrichten. In meiner Heimat ist das kein Problem, weil dort der nächste Jäger nicht weiter als einen Kilometer vom Unfallort entfernt wohnt - aber in Mittelschweden.
Naja, wir fuhren also weiter. Schon bald sahen wir das erste Haus. Hinfahren, Aussteigen - keine Klingel - macht nichts, klopf ich eben - keine Reaktion, also keiner Zuhause. Aber das nächste Haus befand sich sogar in Sichtweite, was für Mittelschweden auch nicht unbedingt typisch ist. Ich setzte mich wieder ans Steuer und peilte dieses Haus als nächstes Ziel an. Aussteigen - keine Klingel ...... und noch eins und noch eins.
Dann endlich kamen wir zu seinem Haus, in dem wir durch die feuchten Fenster eine Bewegung wahrnahmen. Swea rief vom Rücksitz: "Fahr hin, Mama, da ist jemand." Also tat ich das.
Eine dickliche, ältere Frau öffnete die Tür. Ich fragte sie: "Sprechen sie Deutsch?" Große Hoffnung hatte ich nicht. Von ihr kam dann auch ein "Neee." Zweiter Versuch: "Do you speek Englisch?" "Neee." Ich hätte nun noch fragen können: "Par le vous Francaise?" aber damit waren dann meine Französischkenntnisse so ziemlich aufgebraucht.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihr mit Händen und Füßen zu erklären, was ich von ihr wollte. Hinter mir waren auch Swea und Jasmin mittlerweile wieder ausgestiegen und imitierten meine Erklärungsversuche nach dem Motto: doppelt hält besser. Ganz offensichtlich war diese arme Frau mit dieser Situation völlig überfordert. Sie starrte mich zumindest nur verständnislos an.
Plötzlich sah man bei ihr förmlich ein Licht angehen. Sie hob den Finger, murmelte: "Ha." und verschwand in den hinteren Teil des Hauses. Ich stand vor der Haustür wie Falschgeld, sah die beiden Mädchen an, zuckte mit den Schultern und überlegte, ob ich mich wieder auf den Weg machen sollte, einen neuen Ansprechpartner zu suchen oder abwarten sollte, um zu sehen, was dieses "Ha." bedeutete. Ich wartete und das war gut so.
Diese Frau hatte nämlich zwischenzeitlich ihre Tochter angerufen, die etwas Deutsch sprach. Wortlos reichte sie mir den Hörer. Endlich konnte ich das Dilemma erzählen, das mir passiert war. Aus dem Hörer kam die Frage: "Wollen Sie Polizei?" Ich verneinte, schließlich hielt ich den Schaden am Fahrzeug für ganz gering und wollte nicht noch so kurz vor der Abfahrt irgendwelche Scherereien, ich wollte lediglich den Tod eines Rehbocks melden, mehr nicht. Trotzdem fragte sie mich noch einmal: "Sie wollen Polizei." "Nein," sagte ich: "Wirklich nicht, der Schaden ist nicht groß, ich wollte nur Bescheid sagen, dass das Reh tot ist und wo es liegt." Sie schien mich endlich zu verstehen. Ich bedankte mich - was diese Frau hoffentlich anhand des Tonfalls auch so verstand - und machte mich mit den beiden Kindern von dannen.
Leicht genervt setzte ich mich ans Steuer, lenkte den Wagen auf die Straße und fuhr mit angepasster Geschwindigkeit Richtung Ferienhaus. Schon nach ein paar Metern tippte Swea mir von hinten auf die Schulter und flüsterte: "Siehst du, Mama, das Lied hat doch recht." und begann zu singen: Irgendwo auf dieser Welt stirbt ein Tier einen sinnlosen Tod.
Ja, Recht hat sie und ich bin Schuld. Ich bin eine Tiermörderin. Mir schossen die Tränen in die Augen. War die Sicht nun aufgrund des Augenwassers oder durch die Regentropfen so schlecht, ich wusste es nicht, fühlte mich aber schrecklich.
Nach scheinbar endlos langer Zeit kamen wir endlich wieder bei der Hütte an. Der Vater meiner Kinder wartete schon ungeduldig auf uns. An die Einladung hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. "Wo wart ihr solange?" fragte er, sah meine immer noch nicht versiegten Tränen und ergänzte: "Was ist los?" Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und endete mit den Worten: "Das Reh ist tot und ich bin Schuld." "Toll," sagte er: "Sei froh, dass es kein Elch war, dann würdet ihr jetzt bestimmt nicht so gesund hier stehen." Stimmt, daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, denn bei uns Zuhause gibt es nunmal keine Elche.
Dann betrachtete er den Schaden, wiegte leicht den Kopf und grummelte, dass das bestimmt teuer werden würde, aber immerhin konnten wir so den Heimweg antreten.
Als Nächstes musste ich mir anhören, dass es besser gewesen wäre, den Rehbock in den Kofferraum zu laden, anstatt diese Aktion zu starten. Den Mädchen befahl er, in der Hütte auf uns zu warten und ich musste ihm den Weg zu der Stelle zeigen, wo es passiert war.
Also wieder bei Regenwetter durch die - an diesem Tag für mich gar nicht mehr malerischen - Wälder Schwedens den ganzen Weg zurück bis zur Unfallstelle.
Eins muss man den schwedischen Jägern lassen, schnell sind sie, wo auch immer sie wohnen, denn das habe ich schließlich nicht herausgefunden. Aber der Rehbock war in dieser relativ kurzen Zeit verschwunden.
Mit reichlicher Verspätung trafen wir dann endlich bei unseren deutschen Nachbarn ein. "Wo bleibt ihr so lange? Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr." Wieder einmal musste ich die ganze Geschichte erzählen. Das Auto wurde einer ausgiebigen Kontrolle unterzogen mit dem Ergebnis, dass mir die Geschichte zuerst nicht gelaubt wurde.
Endlich eine mit Kaffee gefüllte Tasse in der Hand überkam mich das große Zittern aufgrund dieser Erlebnisse.
Unser Gastgeber versuchte mich aufzuheitern indem er sagte: "Wenn wir das nächste Mal zusammen nach Schweden fahren, schicken wir Chrissy und die Kinder gleich zu Beginn des Urlaubs einkaufen, dann haben wir wenigstens für die nächsten Tage genug zu essen." Ach wie lustig.
Mitten in der Nacht machten wir uns also auf den Heimweg. In Mittelschweden ist es im Sommer auch nachts viel heller als bei uns in Deutschland. Obwohl ich noch müde war, hatte mich das Erlebnis vom Vortag offensichtlich sehr geprägt. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich einen dunklen Schatten, der sich auf die Straße zubewegte und schrei: "Ein Elch." Im selben Moment überquerte ein junger Elchbulle die Fahrbahn. Wir und unser Fahrzeug aber blieben verschont. Trotzdem werde ich dieses Geschehen sicherlich nie vergessen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Tier töten würde, schon gar nicht so einen wunderschönen, kerngesunden und hübschen Rehbock.
Swea hat Recht: Irgendwo auf dieser Welt stirbt ein Tier einen sinnlosen Tod.
Aber bitte nie wieder durch mich.