Das Ruhrgebiet. Eine graue Betonwüste mit nur wenigen, idyllischen grünen Inseln. War es ein mal. Heute ist es ein grün-grauer Erlebnispark mit Kultur, Industrie und besonderen Menschen. Und mit einzelnen, kleinen Wäldern, die für die gestressten Städter ein Erholungsort sind. Eine Metropole wie sie im Reisekatalog steht. Man sollte meinen, wo es so viele Menschen gibt wie im Ruhrgebiet kann nichts passieren. Dort ist alles sicher, abgesehen von den üblichen Kleinkriminellen. Alle Orte sind bekannt, überblickt. Falsch!
Was ich euch jetzt erzähle ist wirklich so geschehen, ob es mir glaubt oder nicht. Dies ist die pure, haarsträubende Wahrheit und ich wünsche jedem einzelnen von euch, dass ihr nicht in die gleiche Situation kommt wie ich.
Es war das Jahr 2002. Ich war damals 8 Jahre alt. Mit meinem damaligen besten Freund bin ich oft in der Nähe unserer Wohnungen spazieren gegangen um aufregende Orte zu finden. Wir lebten nämlich in einem Teil vom Ruhrgebiet, in dem nicht so viel los war. Außer ein paar alten Bergbausiedlungen gab es nicht mehr viel. Das meiste, was von der damaligen Kohlezeit zeugte, wurde Abgerissen. Die Zechentürme, die Zechenbahnen und natürlich auch die alten Zechengebäude, sofern sie nicht als Einkaufzentrum dienten.
Jedenfalls gingen wir auf das Gelände der ehemaligen Zeche König-Ludwig. Dort, wo früher die Zechenbahn fuhr, war heute ein Radweg gebaut. Und wie für Kinder üblich, haben wir unseren Eltern nicht gesagt, wo wir hinwollten.
Wir gingen also den Radweg entlang. Es war nichts besonderes dort zu finden, nur ein Weg, den eine Mauer von den Geländen verschiedener Firmen trennte. Auf der linken Seite, gegenüber der Mauer, befand sich noch ein kleiner, junger Birkenwald, der erst nach dem Schließen der Zeche gewachsen ist.
Da uns langweilig war und es erst 4 Uhr Nachmittags war, gingen wir in den Wald hinein. Hier war es schon aufregender. Es gab Kletterbäume, dichtes Unterholz zum Verstecken und sogar einen Bach, der allerdings einbetoniert war, weil er früher die Abwässer der Zeche in die Emscher geleitet hat. Aber er war zugänglich, also gingen wir dort auch hin. Das „Eltern haften für ihre Kinder“-Schild hat uns wenig gestört.
Dieser Wald war wie ein Abenteuerspielplatz für uns.
Als es Abend wurde und wir nach Hause mussten, beschlossen wir am nächsten Tag erneut diesen Wald aufzusuchen, diesmal aber wollten wir noch ein paar Freunde mitbringen.
Gesagt, getan. Neuer Tag, alten Vorhaben.
Wir haben in der Schule einigen von dem Wald erzählt, und so passierte es, dass wir nach dem Mittagessen zu siebt losgegangen sind, um in den Wald zu gehen.
Es war noch besser als am Tag vorher, da wir jetzt eine größere Gruppe waren. Wir wollten ein Indianerzelt aus Stöcken bauen, die wir Tipiförmig in den Boden steckten, und mit Laub bedeckten, um dort eine Art eigenes Haus zu haben. Es sollte aber noch größer werden, als ein normales Tipi.
Es war eine dieser Typischen Kinderfantasien. Ein eigenes Haus, oder eine eigene Höhle bauen, abseits des Elternhauses, wo man seine eigenen Regeln hatte und viel Zeit mit Freunden verbringen konnten.
Das Bauen des Tipis hat einiges an Zeit in Anspruch genommen. Wir hatten keine Säge dabei um Äste abzusägen, also konnten wir nur welche verwenden, die auf dem Boden lagen. Es war eine mühsame Arbeit so viele zusammenzusuchen. Aber solange wir mit Freunden zusammen waren, war uns dies egal. Wir wollten nur unser Tipi haben.
Als es halb 7 war, beschlossen wir, nach Hause zu gehen, damit unsere Eltern nicht anfangen zu schimpfen. Das Tipi war noch lange nicht fertig, wir hatten erst die Hälfte der Äste zusammen. Also wollten wir am nächsten Tag weiter machen.
Wir gingen nach Hause und brachten jeden einzelnen bis zur Haustür. Am Ende waren nur noch mein bester Freund und ich übrig. Mein Haus war näher als seines, also gingen wir zuerst zu mir. Ich verabschiedete mich von ihm und ging in die Wohnung. Er ging weiter. Es waren noch etwa 150 Meter bis zu seiner Wohnung.
30 Minuten später: Ich war bereits im Schlafanzug und aß gerade zum Abend. Da klingelte das Telefon. Meine Mutter ging ran. Am anderen Ende war die Mutter meines besten Freundes, sie wollte wissen, ob ich weiß wo er ist. Ich nahm das Telefon von meiner Mutter und sagte seiner Mutter, dass er vor einer halben Stunde nach Hause gegangen ist. Von dem, was wir am Tag erlebt haben, habe ich nichts gesagt.
Sie legte schließlich auf, und ihr „tschüss“ klang so, als würde sie anfangen zu weinen.
Ich machte mir keine Sorgen, ich war ja erst 8, da denkt man nicht, dass was passieren könnte.
Am nächsten Tag in der Schule blieb sein Platz leer. Meine anderen 5 Freunde waren da. Wir dachten einfach nur, dass er Krank ist. Nach der Schule wollten wir bei ihm vorbei, gucken wie es ihm geht.
In der dritten Stunde, wir hatten gerade Sachkunde, kam die Polizei in die Klasse.
In dem Moment dachte ich sofort, dass sie wegen ihm hier sind.
Sie sagten, dass er verschwunden ist und sie ihn suchen und sie fragten uns, ob wir nicht irgend eine Idee haben, wo er sein könnte. Ich wollte den Polizisten gerade sagen, dass wir gestern dort im Wald waren und ein Tipi bauten, aber einer der 5 anderen hielt mein Arm fest und flüsterte mir ins Ohr, dass es besser wäre wenn wir nach der Schule selbst nach ihm suchen. Sonst würden unsere Eltern uns noch verbieten wieder in den Wald zu gehen.
Als die Schule endlich aus war, gingen wir, ohne vorher nach Hause zu gehen, zum Zechengelände und weiter in den Wald. Dort, wo unser Tipi stand, stand nun ein normales Zelt, wie es sicher jeder von euch schon mal beim Camping benutzt hat. Wir liefen sofort dahin, vielleicht saß er ja darin. Ich schaute rein, aber es war leer, fast leer. Es waren nur eine Luftmatratze, eine Decke und, ich erschrak, die Mütze von ihm im Zelt. Ich hob die Mütze hoch. Sie war schwer. In ihr war ein Stück Metall. Ein rotes Metall... Ich schaute genauer hin. Es war eine kleine Säge. Blutverschmiert, wie die ganze Innenseite der Mütze.
Ich schrie und sprang aus dem Zelt, die Säge und die Mütze gegen den nächsten Baum schleudernd. Die andern schauten auf die Säge, und sie sahe sofort das Blut. Entsetzen lag in ihren Augen. In meinen wahrscheinlich auch.
Dann hörten wir die Stimme von ihm, wie sie aus dem Wald kam. Sie rief meinen Namen, immer wieder.
Ohne groß zu zögern folgten wir der Stimme tiefer in den Wald. Aber sie wurde nicht lauter. Wir kamen nicht näher. Wir liefen eine ganze Weile, bis wir den Bach überquerten. Dort wurde die Stimme plötzlich laut, und aus ihr wurde ein Mark erschütternder Schrei, als wenn man ihm mit einer Säge... Nein, nicht das schlimmste vorstellen! Wir riefen ihn, wo er sei, aber es kam nur ein weiterer Schrei zurück. Wir rannten, weiter in den Wald. Dann plötzlich stürtzte der Boden unter uns ein. Wir fielen in einen unterirdischen Hohlraum. Wir fielen etwa 5 Meter tief und schlugen auf einen harten Betonboden auf. Ich blieb unverletzt, aber ich war natürlich geschockt. Ich erkundigte mich bei den anderen wie es ihnen geht. Auch sie blieben unverletzt, auch wenn ein schwerer Schock in ihrer Stimme lag. Wir schauten uns um. Es war ein Hohlraum, so groß wie eine Sporthalle, soweit wir sehen konnten. Die einzige Lichtquelle war das Loch, durch das wir gefallen sind.
Es roch nach Benzin. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass dies ein Benzinlager der Zeche war.
Wir hatten alle Panik. Wir waren eingeschlossen, konnten so gut wie nichts sehen, und hörten immer noch seine Schreie, und sie wurden immer lauter. Wir suchten, aber er war nicht hier unten. Seine Stimme kam von oben.
Ich versuchte, die anderen zur Ruhe zu bringen. Wir mussten einen Weg raus finden. Zum Glück waren wir alle recht sportlich. Wir kletterten jeweils auf die Schulter des anderen und bildeten so einen Turm nach oben. Ich war der leichteste, also ging ich nach ganz oben. Es war sehr wackelig aber der Turm hat gehalten, bis ich an die Öffnung kam. Ich kletterte raus. In dem Augenblick hörte ich unter mir den Turm einstürzen. Einer der 5 hatte sich dabei den Arm gebrochen, er weinte. Ich schrie runter, dass ich Hilfe holen gehe und wiederkomme. Auf jeden Fall. Ich rannte los, nach Hause, zu meinen Eltern, zur Polizei. Hauptsache Hilfe holen. Nach 10 Metern blieb ich stehen. Ich hörte Schreie. Nicht den meines besten Freundes, sondern Schreie der anderen. Außerdem noch das Klirren von Metall. Ich lief zurück zum Loch und fragte, was los sei. Keine Antwort.
Ich fragte nochmal.
Keine Antwort.
Ich rief ihre Namen und merkte, wie ich anfing zu heulen.
Stille, nur ein seltsames, schleifendes Geräusch.
Ich rannte, rannte so schnell ich konnte. Sofort zur Polizei. Die Wache war näher als mein Haus.
Ich erzählte den Polizisten die Geschichte. Jedes Detail. Und ich merkte, wie seltsam die Geschichte war Überraschenderweise glaubten sie mir und sie riefen die Feuerwehr und den Notarzt und wir fuhren zusammen zurück. Dort trafen wir auf die Rettungskräfte. Ich zeigte ihnen den Weg zum Loch.
Auf dem Weg dahin sag ich, dass Zelt und Säge mit Mütze verschwunden waren aber das war im Moment nur Nebensache.
Als wir das Loch erreichten stieg die Feuerwehr mit Seil und Taschenlampe hinab.
Als sie wieder hochkamen, sagten sie, sie hätten niemanden gefunden. Der Tank hatte keine weitere Öffnung, also konnten sie keinen anderen Weg hinaus genommen haben. Das einzige, was die Feuerwehr mit nach oben brachte, war eine kleine, blutverschmierte Säge.
Die Polizei suchte noch wochenlang nach meinen Freunden. Ohne Erfolg. Keine Leiche, keinen Leichenrest. Nichts.
Es konnte nie geklärt werden, was passiert ist.
Ich wollte es auch gar nicht wissen.
Nach dieser Geschichte begab ich mich für zwei Jahre in psychologische Behandlung um dieses Schockerlebnis zu verarbeiten. Aber die Alpträume plagen mich immer noch. Ich höre ihre Schreie aus einem dunklen Loch kommen. Wie sie meinen Namen rufen.
Ein Jahr nach dem Vorfall zogen wir ins Münsterland, weit weg vom Ort des Geschehens. Ich bin auf eine andere Schule gegangen und dann auf ein Gymnasium. Jetzt mache ich mein Abitur. Eins habe ich in der Zeit gelernt: Ich werde nie wieder in diesen Wald zurückkehren.