Prolog
Das erste Mal sah ich sie mit 7 Jahren. Eine Kutsche
klapperte über das unebene Grundstück. Sie sprang fröhlich aus der Kutsche und
streckte sich. Hinter ihr lugte ihr Zwillingsbruder aus der Tür. Sie drehte
sich zu ihm um und half ihm auszusteigen. Müde lehnte er sich an sie.
Doch schon war das Kindermädchen da und führte sie in das
riesige Haus ihres Vaters. Ich klammerte mich an das Geländer der großen Treppe
und sah, wie das Personal die Neuankömmlinge empfing. Der Reihe nach stellten
sie sich vor. Sie nickte bei jedem Namen. Die konzentrierte Falte zwischen
ihren Augen wurde tiefer und tiefer, aber ihr freundliches Lächeln blieb
krampflos und natürlich.
Kurz bevor sie das Zimmer betrat, in dem ihr Vater, der Herr
dieses Hauses, auf sie wartete, trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal und
sie schenkte auch mir dieses wunderschöne warme Lachen.
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Das zweite Mal begegnete ich ihr am nächsten Morgen. Sie
schlenderte durch das riesige Haus, blieb stehen, um die Decke zu bewundern,
ging weiter, blieb wieder stehen. Sie merkte erst nach einer Ewigkeit, dass ich
sie anstarrte und lächelte. „Hallo.“ Ihre Stimme war seltsam rau für die eines
Mädchens, aber sie passte irgendwie zu ihr. „Hallo.“, murmelte ich verlegen
zurück. Der Herr hatte mir eingeschärft, dass sein Sohn einst der Erbe dieses
Haus sein würde und ich ihm dann dienen würde und ich mich auch jetzt schon so verhalten sollte. Gegenüber dem
Mädchen sollte ich mich natürlich genauso respektvoll verhalten, auch wenn sie
für die Erbfolge unbedeutend war. „Miss.“, fügte ich hinzu.
Sie legte überrascht den Kopf schief. „Ich heiße Lucia,
nicht Miss. Und wie heißt du?“ „Seropin, Miss.“, antwortete ich. „Ich heiße
Lucia!“ „Ich weiß, Miss.“ „Dann hör auf mich Miss zu nennen!“ Sie hatte ihre
Hände zu Fäusten geballt und starrte mich wütend an. Ich schluckte. „Nein,
Miss, es ist besser, wenn ich es mir gleich angewöhne.“ Sie sah aus, als würde
sie gleich vor Wut explodieren. Ich wollte gerade etwas Beschwichtigendes
sagen, als ihr Bruder aus seinem Zimmer trat. „Lucia!“, rief er und winkte ihr
zu. Sie warf mir noch einen letzten bösen Blick zu, bevor sie zu ihrem Bruder
lief, ihn fröhlich umarmte, den Kragen seines Hemdes zurechtzupfte und mit ihm
in Richtung des Speisesaals verschwand.
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Danach sprachen wir eine ganze Weile nicht mehr mit
einander. Sie wich meinen Blicken aus und ignorierte mich. Bis zu meinem 8.
Geburtstag. Nicht, dass der Tag irgendetwas Besonderes gewesen wäre…
Ich hatte ihn schon fast selbst vergessen, bis ich abends in
mein Zimmer trat und auf meinem Bett, das den halben Raum ausfüllte (nicht,
dass das Bett besonders groß gewesen wäre), ein kleines Päckchen lag.
Elizabeth, das Hausmädchen, hatte es verpackt. Dabei lag eine Karte, auf der
ein großer Kuchen abgebildet war. Ihre Art „Alles Gute zum Geburtstag“ zu
schreiben, da sie das Alphabet nicht beherrschte.
Ich öffnete das Paket und fand darin ein paar Süßigkeiten.
Sie musste einige Zeit dafür gespart haben. Lächelnd legte ich das Päckchen
samt Karte auf den Tisch und wollte mich gerade umziehen, als es an meiner Tür
klopfte. Ich zuckte zusammen. Wer konnte das sein? Ich hatte doch alle meine
Aufgaben erledigt, oder etwa nicht? Es klopfte ein zweites Mal. Diesmal
energischer. Ich ging zur Tür, öffnete sie und blickte in die Augen von Lucia.
Sie lächelte entschuldigend. „Habe ich dich geweckt?“ „Nein, Mi…“ „Gut.“,
unterbrach sie mich. „Darf ich reinkommen?“ Ich zögerte einen Moment.
„Natürlich, …“ „Danke.“, unterbrach sie mich schon wieder und zwängte sich an
mir vorbei.
Sie schaute sich neugierig in meinem Zimmer um. „Tut mir
Leid, Miss. Es ist etwas unordentlich.“ Sie drehte sich überrascht zu mir um.
„Was ist denn hier bitte unordentlich?“ Ich wollte antworten, aber sie hob
mahnend ihren Finger. „Antworte nicht, wenn du mich mit Miss ansprechen
willst.“ Also schwieg ich. Sie seufzte. „Das hatte ich befürchtet.“
Sie setzte sich auf mein knatschendes Bett und klopfte neben
sich. „Setz dich.“ „Miss?“ „Du sollst sich neben mich setzen und endlich Lucia
zu mir sagen! Ich bin schließlich ein Jahr jünger als du, also hör auf so zu
tun, als wäre ich das Oberhaupt dieser Familie.“ „Ja, Miss.“, beantwortete ich
den ersten Teil und tat, was sie von mir forderte. Den zweiten Teil ignorierte
ich.
Als ich saß, zog sie ein Paket hinter ihrem Rücken hervor
und reichte es mir strahlend. „Ein Geschenk von mir und meinem Bruder. Alles
Gute zum Geburtstag, Seropin!“
Überraschung ist gar kein Ausdruck für das, was ich in
diesem Moment empfand. Ich starrte das schwere Paket an, blickte zu ihr hoch
und wieder auf das Paket. „Jetzt nimm es schon und pack es aus!“, forderte sie
mich auf. Langsam strichen meine Finger über das dicke Papier bis hin zu dem
stabilen Band. Vorsichtig löste ich die liebevoll gebundene Schleife und legte
das Band zur Seite. Nun packte mich die Neugier und ich faltete das Papier
auseinander und hielt plötzlich ein kleines Buch in der Hand. Ein Gedichtband.
Andächtig strich ich über den alten Einband. Die Seiten waren schon etwas
vergilbt und die Tinte verblichen, aber das Buch schien zu flüstern und in
meinen Augen war es wie ein Riesenschatz. „Gefällt es dir?“, flüsterte Lucia.
Ich schluckte und riss mich zusammen. „Ich kann das nicht annehmen, Miss.“
„Wirklich nicht?“, fragte sie und ihre Stimme wurde auf einmal traurig. „Das
ist schade. Mein Vater hat mir ein neues Exemplar davon gekauft und möchte,
dass ich das hier wegschmeiße und ich hatte gehofft, bei dir sei es ihn guten
Händen. Weißt du, dieses Buch bedeutet mir sehr viel. Es wäre schön, wenn du
darauf aufpassen könntest. Tust du das für mich?“ Sie hatte sich vorgebeugt und
war mir so nah, dass ich, als ich antwortete sogar das Miss vergaß. „Danke.“
Sie lächelte und umarmte mich. Ihre Haare riechen nach
Blumen. Das war das Einzige, das ich in diesem Moment dachte.
1. Kapitel
7 Jahre später…
„Junger Herr? Seid Ihr fertig?“ „Einen Moment!“, hallt es
durch die dicke Tür. Ich spähte auf die Uhr, aber es blieb noch Zeit. Die Tür
öffnete sich und Alawis stand vor mir. Er war zu einem hübschen jungen Mann
herangewachsen.
„Seid ihr aufgeregt, junger Herr?“, fragte ich, als wir den
Flur entlang schritten und die Treppe hinunter gingen. „Ja, ein bisschen.“, gab
er zu. Ich lächelte aufmuntern. „Ich bin sicher, es wird kein Problem für
Euch.“, sagte ich, als ich ihm in die Jacke half. „Danke für deinen Zuspruch.“
Er klopfte mir auf die Schulter. Und ging durch die riesige Eingangshalle auf
die Eingangstür zu, hinter der schon die Kutsche wartete, um den Erben des
Hauses zu seinen ersten Verhandlungen zu fahren. „Alawis!“ Beim Klang seines
Namens drehte er sich um. Lucia stürmte die Treppe herunter, den Saum des
Kleides angehoben und zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie fiel ihrem Bruder um
den Hals, küsste ihn auf die Wange und wünschte ihm viel Glück. Er küsste
zärtlich ihr Haar und verschwand dann durch die Tür.
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Lucia blieb alleine in der Mitte der Eingangshalle stehen.
Sie war zu einer richtigen Schönheit geworden. Doch plötzlich krümmte sie sich
und begann fürchterlich zu husten. Die schreckliche Krankheit, die ihr Bruder
im Kindesalter hatte, schwächte nun ihren Körper. Ich lief zu ihr und bot ihr
meinen Arm an. Sie griff dankbar danach und ich begleitete sie ihn ihr Zimmer
dort legte ich sie auf ihr Bett und ließ sofort den Hausarzt holen. Ihr Husten
war schlimmer geworden und ihre Stirn glühte vor Fieber. Der Arzt betrat wenige
Minuten später den Raum und ich ließ die beiden allein. Als zukünftiger
Haushofmeister dieser Familie wartete noch jede Menge Arbeit auf mich.
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Der junge Herr kehrte schon am späten Nachmittag zurück,
doch er hatte keine Zeit lange von den erfolgreichen Verhandlungen zu
berichten. Sobald er seinem Vater kurz von den Gesprächen erzählt hatte,
verschwand er in Lucias Zimmer und blieb die ganze Nacht dort.
Am nächsten Tag kam Elizabeth mit einer Bitte auf mich zu.
Ich sollte mit Alawis reden, weil er sich in Lucias Zimmer eingeschlossen hatte
und es strikt ablehnte irgendjemand abgesehen vom Hausarzt hineinzulassen. Er
wollte nichts essen und nichts trinken. „Er vertraut dir, Seropin. Versuch es
bitte mal!“
Ich nahm ihr das Tablett ab und ging zu Lucias Zimmer.
Zögernd klopfte ich an. Keine Reaktion. Ich klopfte heftiger. „Wer ist da?“,
fragte Alawis. „Ich bin´s junger Herr.“, antwortete ich. „Ich bringe Euch Euer
Frühstück.“ „Ich möchte es nicht.“ „Öffnet bitte die Tür.“ „Warum?“ „Ich möchte
gerne Eure Schwester sehen.“ Die Antwort überraschte mich selbst. Das hatte ich
eigentlich nicht sagen wollen. Was für ein Idiot ich doch war!
„Junger Herr, was ich meine ist…“ Schritte hinter der Tür.
Das Drehen des Schlüssels im Schloss. Langsam öffnet Alawis die Tür. „Na komm
schon rein.“
Ich trat an ihm vorbei und stelle das Tablett auf dem Tisch
ab. In dem großen Bett lag Lucia. Sie war blass und atmete schwer. Auf ihrer
Stirn hat sich kalter Schweiß gebildet. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen,
als ich sie so sah.
 „Lucia?“, rief sie im
Fieberwahn. „Lucia, wo bist du?“ Alawis ging auf sie zu, setzte sich aufs Bett
und nahm ihre Hand. „Ich bin hier.“
Ich trat hinter ihn. „Warum ruft sie nach Lucia, junger
Herr?“ Alawis schluchzte, schaute zu mir hoch. „Weil er stirbt, Seropin. Er
stirbt.“ Alawis schluchzte erneut und klammerte sich an mir fest. Ich spürte,
wie seine Tränen das Hemd an meinem Bauch durchnässten. Ich legte ihm tröstend
die Hände auf die Schultern, aber in meinem Kopf schwirrte nur eine Frage: „Er, junger Herr?“ Alawis schaute zu mir
hoch. „Hast du es noch nicht verstanden, Seropin? ER ist ALAWIS und ICH bin
LUCIA! Wir haben die Rollen getauscht, weil er das Lernen hasste und ich es
liebte.“ Er schluchzte erneut. Erschrocken zog ich meine Hände zurück und wich
ein Stück von ihm weg. „Haltet Ihr es wirklich für angemessen in so einer
Situation zu scherzen, junger Herr?“ „WAS???“ Alawis sprang auf. „Glaubst du
ich würde Witze reißen, während mein Bruder im Sterben liegt???“ Mein Bruder…
Er hatte mein Bruder gesagt…
„Warum sollte er denn sonst nach mir rufen. Wäre er wirklich
Lucia, würde er doch nach Alawis rufen!“
Ich wollte ihm glauben und suchte in seinen Zügen nach etwas
weiblichem, aber ich fand nichts. Alawis schien zu merken, dass ich ihm nicht
glaubte. „Sie dir das an Seropin. Ich trat näher, um dieser Aufforderung
nachkommen zu können, doch als er anfing Lucias Bluse zu öffnen, wandte ich
meinen Blick schnell ab. „Junger Herr, was tut Ihr da?“ „Sieh genau hin,
Seropin!“ „Junger Herr, ich werde nicht…“ Doch bevor ich den Satz zuende
gesprochen hatte, wanderten meine Augen schon von meiner Neugier getrieben über
die offene Bluse und die blasse Männerbrust darunter. „Alawis!“, murmelte ich
leise. „Er hat sich nie von der Krankheit erholt und Lucia hat sie nie
bekommen.“, flüsterte Lucia traurig. „Aber, wenn Alawis die ganze Zeit Lucia
war, dann…“ Meine Stimme versagte…
„War Lucia die ganze Zeit Alawis.“, beendete Lucia meinen
Satz. „Aber das heißt, dass eine Frau das Erbe dieses Hauses antreten wird.“,
flüsterte ich, mehr zu mir als zu irgendwem sonst, aber Lucia hörte es. „Mein
Vater und der Arzt wissen Bescheid.“ Ich glaubte, Lucias Stimme von damals zu
hören, vielleicht noch ein bisschen tiefer und fragte mich, warum mir das nicht
früher aufgefallen war oder ob ich mir das nur einbildete, jetzt, da ich
wusste, dass es Lucias Stimme war. „Widert dich der Gedanke an, einer Frau zu
dienen?“ „Nein, junger Herr, ähm, Verzeihung, Miss.“ Lucia lachte humorlos.
„Jetzt bin ich nach all den Jahren also wieder bis zum Miss gesunken.“ Ich
wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte und schwieg. „Ist dir klar, dass
du mich in der Öffentlichkeit weiterhin „junger Herr“ nennen musst?“  Ich nickte. „Hast du ein Problem damit?“
„Nein, junger Herr.“ Sie lächelte. „Gut. Und danke.“ Sie sah mich an und
schenkte mir seit langer, langer Zeit wieder dieses ungezwungene fröhliche
Lächeln.
„Lucia?“, rief eine kratzige Stimme. Sie wirbelte herum und
beugte sich über ihren Bruder. „Ich bin hier Alawis.“ „Lucia, ich habe Angst.
Ich will nicht sterben.“ „Hol sofort den Arzt!“, sagte sie zu mir und beugte
sich danach wieder über ihren Bruder. „Das brauchst du nicht Alawis. Die Welt
nach dem Tod ist noch viel schöner als diese. Dort bist du nicht krank.“ „Aber
da bin ich alleine.“, widersprach er. „Nein, bist du nicht. Oma und Opa sind
doch da.“
Ich betrat mit dem Doktor den Raum und verließ ihn mit
Lucia.
Es war eine unruhige und stürmische Nacht, doch selbst, wenn
sie so friedlich wie der Gesang der Nachtigall gewesen wäre, hätte ich nicht
schlafen können. Lucia marschierte vor Alawis Raum auf und ab. Die ganze lange
Nacht lang. Ich beobachtete sie und suchte verzweifelt nach Worten, die sie
beruhigen konnten, aber ich fand keine. Ich konnte nur dasitzen und für sie da
sein, falls sie mich brauchte.
Ab und zu kam eine Krankenschwester aus dem Raum, um
frisches Wasser oder ähnliches zu holen. Auf Lucias erschrockene Blicke
reagierte sie immer mit einem aufmunternden Lächeln. „Sie lebt noch, junger
Herr.“
Doch je später es wurde, desto seltener kam sie. Irgendwann
in der frühen Morgenstunden, wenige Minuten vor Sonnenaufgang traten der Doktor
und die Krankenschwester aus Alawis Zimmer, aber auf Lucias Blick hin,
schüttelten sie nur die Köpfe und murmelten nur: „Es tut uns so schrecklich
Leid junger Herr!“
Lucia nickte und riss sich zusammen. „Informieren Sie bitte
meinen Vater.“ Sie ging in Richtung ihres Zimmers und ich blieb unentschlossen
stehen. Die Tränen liefen mir über die Wange. Lucia schaffte es nicht einmal
bis zu der Tür ihres Zimmers. Weinend brach sie zusammen. Ich lief zu ihr und
half ihr wieder hoch. Sie klammerte sich an mich und vergrub ihr Gesicht in
meiner Schulter. Tröstend schloss ich sie in die Arme. Und so standen wir dort
eine ganze Weile und weinten.
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