Was um Himmels willen hatte sie da getan? Judith flüchtete sich auf die Toilette. Vor Steffanie wollte sich jetzt bestimmt keine Erklärung abgeben, wenn sie selbst nicht einmal wusste warum. Aber wie konnte sie nur auf so eine Idee kommen? Sie kannte Yasin nicht und in Grunde genommen wollte sie ihn auch nicht kennen lernen. Unwirkürlich musste sie an die Diskussion ihrer Eltern vom vorigen Abend denken. Es sind nicht alle böse und Attentäter? Wie gerne würde sie ihrer Mutter glauben. Und Vater hatte nur gejammert und alle über einen Kamm geschert. Das konnte auch nicht richtig sein. Manchmal muss man einfach seine eigenen Erfahrungen machen. Genau das wollte sie jetzt tun.
Kaum hatte sie den Gedanken zu ende geformt, flog die Tür auf und Steffi stand im Raum. „Was sollte das denn? Bist du völlig wahnsinnig? Du hast nicht echt diesem, diesem, diesem Typ da geholfen, oder? Das habe ich nur geträumt, richtig?“ „Warum nicht? Frau Reimer war meiner Ansicht nach nicht fair. Und, meine Güte, er ist ein Mensch wie du und ich. Er muss halt nur nicht ins Solarium um Braun zu werden, aber was soll’s!“ „Du haust mich aus den Schuhen. Frau Reimer und nicht fair. Das war so was von dringend notwendig. Und noch etwas: Dieser Yasin will dich doch nur einmal durchnehmen, wenn überhaupt, und dann nimmt er doch seine Cousine… Wie naiv bist du eigentlich?“ „Und welche Tabletten hast du auf dem Schulflur gefunden? Wer hat denn was von Beziehung und Liebe und dem ganzen Blabla erzählt? Ich habe ihm halt einfach mal ein bisschen Rückendeckung gegeben. Die Tatsache, dass er neu ist, macht das ganze an sich nur Ehrenhafter. Aber warum kommst du drauf, ich würde mit ihm etwas anfangen wollen? Denkt die ganze Gesellschaft eigentlich an nichts anderes mehr?“ Wütend drehte sie sich um und begann ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten. Für Judith war dieses Gespräch beendet. Doch Steffi lies nicht locker: „Du wirst noch sehen, dass ich recht hatte!“ Nun traurig wandte sich das Mädchen wieder ihrer Freundin zu. „Warum streiten wir uns eigentlich hier? Ich hab’s getan und es nicht mehr zu ändern! Versprochen: Ich werde nichts mit ihm anfangen. Du brauchst keine Angst um mich zu haben!“
„Es ist deine Sache!“
‚Ach, auf einmal?‘, dachte Judith. „Gut, dann gibt’s ja nichts weiter zu klären.“
„Eben.“
‚Wie dumm das alles hier ist‘ , kam ihr zu Bewusstsein. ‚Macht mir hier erst die Hölle heiß und dann ist es doch meine Sache. So ein Affentheater.‘
Einige Zweifel waren jedoch gesät und Judith, sowieso schon unsicher, kam immer mehr ins Grübeln. Ob das alles eine gute Idee gewesen war? Wahrscheinlich hatte Steffanie sogar recht. Aber er sah so nett aus. Ok, er hatte sehr grimmig gestern in die Runde geschaut, als er die erste Stunde reinkam, aber dann? Sie hätte schwören können, dass er ihr dankbar war. Seine Augen glitzerten vor Freude, als sie sich gegenübergestanden hatten. Und in diesem schlichtem „Danke.“ hatte soviel Gefühl gelegen. Sie war sich sicher, für einen kurzen Moment hatte sie ihn glücklich gemacht und das war immer richtig. Glücklich sein kann nicht falsch sein.
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Die nächste Stunde kam. Sie sah Yasin nicht, erst als Steffanie sie antippte und beschwörend ansah, wusste sie, dass er da war. In den letzten Minuten hatte sich Judith viel überlegt, wie sie reagieren würde. Für das, was sie getan hatte, brauchte sie sich nicht zu schämen. Vor allem nicht dafür, das er nun einmal Türke war und sie ihn trotzdem irgendwie mochte. Damit er merken könnte, sie stünde hinter ihm, zwinkerte sie ihm zu. ‚Ich halte zu dir‘, schwor sie sich selbst.Â
Irgendwie hatte sie gehofft, in den Pausen oder nach der Schule noch kurz mit Yasin sprechen zu können, doch er war immer schon weg. Die Freundinnen gingen zur Bushaltestelle und auf der anderen Straßenseite sah sie ihn laufen. Tief in Gedanken versunken und schleppend ging er vorwärts. Als wenn er nicht nach Hause gehen wollte, sonder lieber hier bliebe. Zwischendurch, während er immer mehr ihrem Blick entschwand, sah sie seine Schultern zucken, gleich einem Boxer, der sich warm macht. Es verwirrte Judith. Ging er jetzt kleine Kinder verprügeln?
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Der Bus kam und damit der Streß. Kaum war sie zu Hause, schlang das Mädchen ihr Essen hinunter, packte einen dicken Ordner, Block und Stifte in einen Rucksack und marschierte los zu Ben, einem Schulkollegen. Ben, sie und noch ein paar andere hatten sich zu einer Lernguppe verabredet.  Steffanie war auch dabei. Ein Abitur ließ sich eben nicht aus dem Ärmel schütteln. Vor allem nicht, wenn man hinterher studieren wollte.
Beim Haus angekommen, ging sie hinten durch, wie gewohnt und entdeckte die tuschelnde Gruppe. Kaum wurde sie gesehen, verstummten alle und automatisch wusste Judith, dass das Geschehnis des Tages besprochen wurde. Doch davon wollte sie sich nicht die Laune verderben lassen. Mit angestrengter Fröhlichkeit fiel ihr Rucksack zu Boden und Judith gleich daneben.
„Na Leute, wie siehts aus? Bin ich noch pünktlich?“
Ben schaute auf seine Armbanduhr. „Ja, bist du. Dann lasst uns mal anfangen.“ Er holte eine Liste raus, mit den Büchern, die für die Deutschklausuren wiederholt werden mussten. „Hat jeder die Zusammenfassung von seinem Buch?“ Ein Chor aus Ja’n drang ihm entgegen. Die Gruppe konnte also loslegen.
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Völlig erschöpft und voll mit den Merkmalen der verschiedenen Zeitepochen wollte sie endlich nach Hause, nachdem sich alle verabschiedet hatten und sie Ben noch beim aufräumen geholfen hatte. Allerdings hatte Steffi andere Pläne und fing sie vor Bens Haus ab. „Wenn du schon hier bleibst hättest du wenigstens helfen können.“, meinte Judith völlig überrascht.
„Ich weiß wo Yasin wohnt und die Gegend wird dir gar nicht gefallen!“
„Ja und?“
„Sag mir wo du wohnst, ich sag dir wer du bist. Kennst du das Sprichwort nicht?“
„Ein bisschen anders, aber ja.“
„Dann lass uns da vorbei gehen. Du wirst ihn nicht mehr mögen. Ehrlich!“
„Woher weißt du eigentlich seine Adresse? Aus dem Telefonbuch bestimmt nicht!“
„Beziehungen meine Liebe! Und jetzt lass uns los. Ich kann es kaum abwarten.“
„OK, wenn du meinst.“
Sie kamen in einen Teil des Dorfes, von dem man nicht viel Gutes hörte. Das kleine Getto des Dorfes. An einer Straßenecke fasste Steffanie ihre Freundin am Arm und zog sie zurück in ein Gebüsch. „Da!“, flüsterte sie und zeigte auf ein schmuddeliges Haus, aus dem gerade eine Frau kam. Die Frau sah im Gegensatz zur Umgebung gepflegt aus. Obwohl eindeutig nicht deutscher Abstammung, trug sie kein Kopftuch. Geschminkt und Fingernägel lackiert, diese Türkin sah sehr modern und gepflegt aus. Judith schaute ihre beste Freundin an. So eindeutig hatte noch nie eine Person hier nicht hergehört. Schadenfroh lächelnd sah sie es im Kopf der anderen Arbeiten und hörte das innerlich gesprochene Gebet, es möge nicht Yasins Mutter sein. Just in diesem Moment sagte die Türkin etwas und man hörte eindeutig den Namen Yasin. Kurz darauf öffnete sich die Haustür und der Schüler trat aus dem Gebäude um seiner Mutter zur Hilfe zu kommen. In diesem Moment wollte Steffanie im Boden versinken und Judith genoss den Triumph an Yasins statt. Irgendwann würde sie es ihm erzählen und ihre Freude an ihn weitergeben.
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Gut gelaunt schloss Judith ein wenig später ihre Haustüre auf. Siglinde und Walter saßen schon vor dem Fernseher. „Hallo, mein Schatz.“, flötete ihre Mutter. „Hallo und Tschüß. Ich geh gleich ins Bett durch.“ Mit diesen Worten flog sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Was für eine Demütigung für Steffi. Aber ihre Freundin war zu stolz um jetzt ruhe zu geben. Sie würde solange stochern, bis sie Yasin, ihrer Meinung nach, überführt hätte.
„Judith?“, rief Sieglinde vom Treppenansatz nach oben.
„Was ist denn?“
„Frag nicht so viel, komm herunter!“ Judith ging im Geiste viele Szenarien durch, was geschehen sein konnte, aber nichts schien ihr plausibel. Alles war vergessen, als sie unten angekommen war und die Bescherung zu Gesicht bekam. Jason, ihr Pflegebruder, war gekommen! „Jason!“, rief sie freudig und flog dem schmächtigen, jungen Mann in die Arme. „Jodie, meine kleine Prinzessin!“, freute sich der Heimkehrer und schloss das blonde Mädchen fest in seine Arme.
„Was machst du hier?“
„Urlaub. Ich dachte, es wäre mal wieder an der Zeit hier vorbei zu schauen.“
„Wo ist Hanna und die Kleine?“
„Noch in München.“, lautete der knappe Bescheid und damit gab sich Judith zufrieden. Man setzte sich ins Wohnzimmer und genoß das vertraute Familienglück.
„Wie läufts in der Schule, Jodie?“
„Ganz gut. Ich habe gute Freunde und mit dem Stoff komme ich auch gut mit. Vor den Abi-Klausuren habe ich trotzdem ein bisschen bammel.“
„Glaub ich dir, war bei mir nicht anders.“
„Wie geht es Hanna und Karin?“
„Ganz gut so weit. Sind Mama und Papa gut zu dir?“, witzelte Jason herum um von seinem traurigen Herzen abzulenken. Zwar bemerkte Judith diesen haltlosen versuch, lachte aber trotzdem mit.
„Ja. M… m… Sieglinde und Walter lieben mich wie ihre eigene Tochter. Es ist alles gut.“
Fast hätte es diesmal geklappt, aber nur fast. Judith konnte sich nicht überwinden ‚Mamma‘ und ‚Papa‘ zu sagen. Ein zu schauriger Geschmack hing daran.Dennoch merkte sie, wie sehr es ihre Pflegeeltern schmerzte, wo sie doch schon so lange bei ihnen wohnte. Und im Prinzip wahres es ja nicht mal mehr ihre Pflegeeltern, zu denen sie gekommen war, nachdem die Polizei sie eines Tages aus ihrem ehemaligen Zimmer geholt hatte. Man hatte ihr gesagt, dass Mami sehr krank wäre und diese beiden würden. Erst als sie vor neun Jahren erführ zu Adoption freigegeben worden zu sein, realisierte sie, ihre Mutter nie wieder sehen zu können. Siglinde hatte sie damals schon sehr in ihr Herz geschlossen. Dieses kleine, hagere Mädchen, mit den großen blauen Augen. Ihre Pflegeeltern fragten sie, ob sie bleiben wolle oder lieber eine neue Familie suchen. Natürlich wollte sie bleiben und so wurde Judith Müller zu Judith Filbur, die nun ein ganz normales Leben zu leben begann. Ohne Alkohol, ohne Schläge, ohne Polizei. Walter und Siglinde hatten Judith nie vorgeschrieben, wie sie sie zu nennen hatte und so blieb es bei den Vornamen, bis sich Judith anders entscheiden wollte. Trotz allem liebte sie ihr Eltern. Die neu gewordenen Geschwister hatten sich ebenfalls von Anfang an gut verstanden und zwischen ihnen wuchs ein dickes Band der Liebe. In Gedanken versunken kuschelte sie sich an Jason und schief trotz der ganzen Aufregung erschöft ein. Wie sehr sie ihn liebte. Wie sehr sie diese Familie, ihre Familie, liebte.