Mit Omas Tränen
Geschichten aus einer Zeit,
von der ich nur aus Büchern hörte,
fliessen wie Kerzenwachs in den Raum
wenn Oma von früher erzählt.
Von der Vergewaltigung durch die Russen
und die Flucht, barfuß hunderte Kilometer.
Keine Ziele in den jungen Augen gehabt,
zwei Kinder an der Hand und 40 Kilo gewogen.
Weisst du was Angst heißt, fragt sie
und ich muss nie überlegen, denn ich glaube
Angst ist mehr, als ich je empfinden kann.
Sie sagt Angst ist ein Dämon, der dich frißt.
Stacheldraht durch die Arme gerissen,
die Narben sehen aus wie Reißverschlüsse.
Sie schämt sich noch heute für ihre verlorene Ehre.
Und wenn sie weint, dann weint auch meine Zeit.
Ein Kleid, einen Schlüpfer und ein Unterhemd,
sechs Monate lang. Voller Läuse und Dreck.
Kein Jammern, sondern weiter geradeaus,
nach Hause, ohne zu wissen, wo das sein wird.
In Leipzig angekommen irgendwann.
Sammellager für Frauen und Kinder.
Warme Suppe. Weisst du was Hunger heißt?
Hunger ist ein Freund. Er bewegt deinen Körper.
Eines ihrer Kinder ist unterwegs gestorben.
Sie hat kein Bild, nur ihre Erinnerung und
feiert den Geburtstag jedes Jahr. An einem
Tag deckt sie nur für ihre tote Tochter den Tisch.
Sie spart ein ganzes Jahr für die Weine und
das gute Essen. Sie kocht fast drei Tage daran.
Und ißt nicht einen Bissen davon.
Keiner würde das machen. Sie ist verhungert.
Mein Opa, ihr Mann ist verschollen. Seit 61 Jahren.
Sie hat ihm ein letzte Woche ein neues Hemd gekauft.
Ein schönes buntes. Etwas moderner.
Er wird es mögen, sagt sie und lächelt kurz.