Der Mann am Fenster gähnte. Das alles schien ihn masslos zu langweilen. Ich hingegen spürte den kalten Schweiss, das leichte, unkontrollierte Zittern in den Beinen. Ich versuchte, zu Boden zu sehen, weg von diesen dunklen Augen, aber ich konnte den Kopf nicht senken. Es war, als hätte einer einen unsichtbaren Faden zwischen ihm und mir gesponnen, zwischen mir und diesem Mann, der urplötzlich in meiner Wohnung gestanden war.
"Sie müssen sich nicht sofort entscheiden", sagte er und blickte auf seine Uhr. "Ich gebe Ihnen ein paar Minuten."
Ich versuchte, meinen Atem in den Griff zu bekommen, ich wollte nicht wie ein nervös hechelnder Hund vor dem Mann stehen, der mich vor diese unmögliche Entscheidung gestellt hatte. Im Gegenteil: Ich wollte ihm zeigen, dass er das mit mir nicht machen konnte.
"Sie..." Ich brach ab, sogar meine Stimme zitterte. Kurz holte ich Atem, dann nahm ich einen neuen Anlauf. "Sie bluffen."
Der Mann legte seine Stirn in Falten, seine dunklen Augen schienen nun regelrecht schwarz. Langsam schüttelte er den Kopf, als wollte er ein ungehorsames Kind tadeln.
"Ja wie denn. Hatten wir das nicht schon? Habe ich nicht bereits den Beweis angetreten, dass ich fordern kann, was ich will - und dass ich es auch durchsetze?"
Mein Blick wanderte langsam durch den Raum. Hin zur Topfpflanze, die in Sekundenbruchteilen verdorrt war, hin zum Teewasser, das zu kochen begonnen hatte, ohne dass der Herd an war, hin zu der Stubenfliege, die auf einen kurzen Befehl hin mitten im Flug, mitten in der Luft stehen geblieben war, um Sekunden später langsam zu Boden zu gleiten. Oh ja, er hatte den Beweis angetreten, kein Zweifel. Aber was er von mir verlangte, war zu viel.
"Sie haben sich bereits entschieden, richtig?" Jetzt lächelte der Unbekannte zum ersten Mal. Er strich sich durchs gelierte Haar und musterte mich interessiert.
Neben mir raschelte es. Max, mein schwarzer Kater, spielte mit der Knisterröhre, die er so sehr liebte. Er schien den fremden Mann im Wohnzimmer gar nicht wahrzunehmen, jedenfalls war ihm nichts anzumerken. Er tobte durch die Röhre, sprang die kleine Maus an, die an ihrem Ende befestigt war. Er war ein fröhlicher, kleiner Kater, drei Jahre jung und im Grunde alles, was ich hatte.
"Feiner Kerl." Auch der Mann schaute jetzt zum Kater und lachte vergnügt, als Max in rasendem Tempo durch die Röhre schoss. "Wirklich ein feiner Kerl. Und Sie hängen doch so an ihm."
Ich nickte. Ich wollte es nicht tun, ich wollte diesem Kerl nicht recht geben, aber ich konnte nicht anders. Ja, ich hing an Max. Und ich würde es niemals zulassen, dass ihm einer etwas antat.
Der Mann trat an mich heran und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich spürte die Kälte durch den Pullover hindurch.
"Das muss ja auch gar nicht sein", sagte er leise, und ich begriff, dass er meinen Gedanken gelesen hatte. "Es ist Ihre Entscheidung."
"Aber... es ist ein Kind", sagte ich mit Hilflosigkeit in der Stimme, ich hasste mich selbst dafür, aber es war das, was ich empfand: Tiefe Hilflosigkeit. Dabei war ich ja genau genommen nicht hilflos, sondern so mächtig wie nie zuvor: Ich konnte über Tod oder Leben entscheiden. Konnte? - Musste!
Der Mann liess seine Hand sinken, blieb aber dicht vor mir stehen.
"Ein Kind, ja. Ein Kind, das Sie nicht kennen. Das Sie noch nie gesehen haben. Das Sie nicht vermissen werden. Es wohnt ein paar Dörfer weiter. Max hingegen...", er deutete auf meinen Kater, der sich am Ende der Röhre hingelegt hat und sich eifrig putzte, "Max kennen Sie. Sie lieben ihn. Sie brauchen ihn. Aber eben: Es ist Ihre Entscheidung."
Ich hatte tausend Fragen, aber keine Hoffnung, dass er sie beantworten würde. Warum musste überhaupt jemand sterben? Warum lag die Entscheidung bei mir? Was hatte mein Kater mit diesem Kind zu tun? Was brachte es dem Universum, wenn ich diese Wahl zu treffen hatte?
Wieder schien er meine Gedanken zu lesen.
"Das bringt uns nicht weiter. Ich mache Ihnen die Sache einfacher: Sie entscheiden sich jetzt, sofort. Wenn Sie es nicht tun, trifft es beide. Und Sie müssen zugeben: Davon hat niemand etwas. Sehen Sie es also positiv: Sie retten im Grunde ein Leben. Sie zerstören keines."
Das war im Sinne einer grausamen mathematischen Gleichung wohl sogar richtig, aber es tröstete mich nicht im Geringsten. In dem Moment, in dem ich die Entscheidung traf, tötete ich, basta. Und zwar entweder diesen kleinen schwarzfelligen Kerl, der mir mein Leben erst lebenswert machte oder aber…
"Ich habe zu tun. Ich muss noch weiter. Wirklich. Also. Ihre Entscheidung?"
Ich schaute zu Max, der seine Katzenwäsche abgeschlossen hatte und nun selig schlummerte. Er schien zu träumen, seine Schnurrhaare bewegten sich zuckend, wenn sich das kleine Maul im Schlaf verzog. Hin und wieder öffnete sich ein Auge ganz leicht, als wollte er sein Revier dösend kontrollieren. Ich beugte mich zu ihm und strich ihm leicht über das schwarze Fell. Sofort begann er zu schnurren. Mir wurde warm.
Ich erhob mich und nickte.
"Ich habe mich entschieden."
Der andere nickte. "Gut. Schreiben Sie es dort auf ein Blatt Papier. Ich muss solche Dinge schriftlich haben. Es muss alles seine Ordnung haben, nicht wahr?" Er lachte meckernd, während ich mit zitternder Hand einen Bleistift zu halten und etwas hinzukritzeln versuchte. Sekunden später war der Mann aus dem Zimmer verschwunden, ebenso das Blatt Papier. Einfach so.
"Es tut mir leid", flüsterte ich mit erstickter Stimme. "Es tut mir so leid." Ich liess mich zu Boden fallen und hielt Max fest, während ich von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Der Kater wachte auf, er musterte mich mit seinen gelben Augen, stupste mich mit der feuchten Nase an und leckte mir mit der kleinen, rauhen Zunge übers Gesicht.
Drei Tage später erschien die Todesanzeige. Sie war fünf Jahre alt geworden.