Die Wintersonne war grade aufgegangen und die ersten ihrer Strahlen drangen durch die Jalousien seines Schlafzimmers. Er aber sah die Sonne nicht, während er unruhig auf und ab lief und den von Licht und Schatten gezogenen Bahnen unaufhörlich folgte. Er hatte nur Augen für SIE.
Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache:
das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.
(Friedrich Nietzsche)
Die Wintersonne war grade aufgegangen und die ersten ihrer Strahlen drangen durch die Jalousien seines Schlafzimmers. Er aber sah die Sonne nicht, während er unruhig auf und ab lief und den von Licht und Schatten gezogenen Bahnen unaufhörlich folgte. Er hatte nur Augen für SIE.
Sie, die ihn schon seit Stunden wortlos und zugleich herausfordernd aus Richtung seines Schreibtisches anstarrte. So als wolle sie sagen: „Warum zeigst du's ihm nicht endlich, du Feigling!? Zahlst ihm alles heim, so wie er es verdient hat? Reiß dich endlich zusammen und lass uns gehen!“
Er wusste genau wo der Mann wohnte, der vor weniger als zwei Jahren sein gesamtes Leben zerstört hatte. Er hatte noch nicht mal die Pietät besessen nach dem Prozess umzuziehen. Nein. Er wohnte immer noch in dem kleinen Haus am Stadtrand, an dessen Wände Anwohner und Nachbarn schmutzige Wörter schrieben, die seinen miesen Charakter aber nicht annähernd beschreiben konnten, egal wie vulgär und widerlich sie auch sein mochten. All das störte ihn allerdings nicht. Mit Terpentin ging die Farbe runter und auch dem Hundekot, mit dem sie die Haustür und die Fenster beschmierten, war leicht mit Wasser und etwas Desinfektionsmittel beizukommen.
Er wohnte also weiterhin einfach dort wo er immer gewohnt hatte, störte sich nicht an den Beschimpfungen und ging ansonsten völlig unbehelligt durchs Leben.
Ihr Anblick machte ihn noch einmal mehr darauf aufmerksam, dass er diesen Zustand nicht länger akzeptieren konnte. Wo war da die Gerechtigkeit? Gut, es hatte einen Prozess gegeben, aber trotz erdrückender Beweislage hatte sein Anwalt ihn raus boxen können. Es hatte Ungereimtheiten bei den Ermittlungsarbeiten gegeben und die Konsequenz war ein Freispruch für den Angeklagten gewesen. Ein Freispruch für den Angeklagten, ein Leben wie ein Trümmerhaufen für ihn.
Er hatte schon oft darüber nachgedacht, hatte sich ausgemalt wie er einfach mit ihr gemeinsam zu seinem Haus hinüber ging, an der Tür klingelte und dem Ganzen sofort ein Ende setzte. Doch so real, wie an diesem Dezembermorgen war ihm dieser Plan noch nie vorgekommen. Das musste an ihrer Anwesenheit liegen, an ihren Blicken. Daran, dass sie jetzt nicht mehr allein Teil seiner Phantasie war, sondern greifbar, hier mit ihm in seinem Schlafzimmer. Er konnte sie ansehen, sie berühren und sich deshalb nur umso besser vorstellen, wie leicht es mit ihr gemeinsam sein würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Er hatte sie mehr oder weniger aus einer spontanen Laune heraus gekauft. Kaum zu glauben, aber das Internet machte heutzutage alles möglich. Auch das. Er hatte sie sorgfältig aus einem Katalog ausgewählt. Natürlich war das illegal, aber darauf kam es jetzt nicht an. Gestern war sie ihm gebracht worden und seitdem nahm sein Plan immer deutlicher Gestalt an.
Nachdem er nun schon einen unsichtbaren Schützengraben zwischen seinem Bett und seinem Schreibtisch gelaufen war, beschloss er ihren Blicken nachzugeben und mit ihr endlich den Ausflug zum Haus dieses Mistkerls zu machen, der vielleicht genau in diesem Moment einmal mehr damit beschäftigt war Scheiße von seinen Türen und Fenstern zu entfernen. Er fragte sich, ob sie gefror, jetzt im Winter. Ob er wohl fluchte während er den Eiskratzer, der eigentlich zum Enteisen von Autoscheiben gedacht war, derart zweckentfremden musste?
Als er seinen Mantel anzog und ihr sagte, dass sie gemeinsam ausgehen würden, glaubte er kurz den Ausdruck von Zufriedenheit in ihren Zügen sehen zu können. Das war natürlich unmöglich, aber vielleicht spürte sie doch, dass es nicht mehr lange dauern würde bis sie ihm endlich dienlich sein konnte.
Die Sonne schien nicht mehr. Draußen war es kalt und der eisige Wind auf seinem Gesicht fühlte sich an wie die Stiche tausender kleiner Nadeln. Dennoch beschloss er, den recht weiten Weg zu Fuß zurück zu legen. Er kannte ihn genau, doch an diesem Tag fühlte es sich an, als würde er ihn zum ersten Mal in seinem Leben gehen. Sein Herz klopfte zwar genauso schnell wie jedes Mal wenn er diese Richtung einschlug, aber heute klopfte es nicht aus Angst. Ganz im Gegenteil. Er glaubte eher eine Art bizarre Vorfreude in all seinen Gliedern zu spüren. Schließlich war heute der Tag, an dem er sie ihm vorstellen würde und er freute sich schon auf den Ausdruck in seinem Gesicht.
Ihr Körper drängte sich nah an seinen, und auch wenn es deshalb den Anschein hatte als würde ihr die Kälte etwas ausmachen, wusste er, dass dem nicht so war. Trotzdem war er froh, einen solch ungemütlichen Tag für ihren ersten gemeinsamen Spaziergang gewählt zu haben, denn er wollte nicht unbedingt gleich von der gesamten Nachbarschaft mit ihr zusammen gesehen werden. Nicht, dass er sich für sie schämte, aber es war einfach besser wenn vorerst Niemand außer ihm von ihrer Existenz wusste. Sie war eine schweigsame Zeitgenossin und da sie den gesamten Weg über kein einziges Wort verlor, war er trotz ihrer Anwesenheit allein mit seinen Gedanken. Er nutzte die Zeit, um noch einmal über die vergangenen Ereignisse nachzudenken, die sie und ihn auf diesen Weg gebracht hatten. Er wollte nichts Unüberlegtes tun. Dafür war er nicht der Typ. Wahrscheinlich hatte es deshalb auch so lange gedauert, bis er sie zu sich geholt hatte. Er bereute es nicht und spürte immer deutlicher, dass er das einzig Richtige tat. Das Einzige, das ihm je Frieden verschaffen konnte und dennoch tat er es weniger für sich selbst, als für seine Tochter... zumindest redete er sich das ein. Vielleicht, weil es ihm und vor allem seinem Gewissen so besser gefiel, vielleicht aber auch weil dem tatsächlich so war. Schließlich war sie damals das eigentliche Opfer gewesen.
Der Prozess hatte sich über mehrere qualvolle Tage erstreckt. Genau so wie die Tat die verhandelt wurde. Seine Tochter war grade 24 Jahre alt geworden, als er ihr auf einer eigentlich harmlosen Party die K.O.-Tropfen verabreicht hatte. Wahrscheinlich hatte er sie den ganzen Abend über beobachtet und sich ausgemalt, wie viel Freude es ihm bereiten würde sie ein wenig zu quälen, bis sie dann einen kurzen Moment unaufmerksam gewesen war. Vielleicht war es ihr Aussehen gewesen, was ihn dazu bewogen hatte ausgerechnet sie unter all den anderen weiblichen Gästen, und damit potenziellen Opfern auszuwählen. Sie, mit ihren langen blonden Haaren und einem wirklich bezaubernden Lächeln. So unschuldig wie ein Engel. Er machte sie also zuerst völlig willenlos, ließ sie dann nicht mehr aus den Augen und bot sich später ganz unverhohlen an, sie nach Hause zu begleiten. Ihre betrunkenen, nichtsnutzigen Freunde waren wahrscheinlich froh gewesen, dass sie sich nicht mehr um sie kümmern mussten und so brachte er sie in seine Gewalt.
Ein Mädchen, das in der selben Disco gefeiert hatte, wie seine Tochter sagte zwar später aus, dass die beiden zusammen fortgegangen waren, konnte aber selbstverständlich keinerlei Angaben zu dem machen, was nach dem Verlassen der Discothek geschehen war. Laut der Polizei musste es ungefähr so abgelaufen sein: Er brachte sie nicht nach Hause, sondern ging mit ihr in sein Haus. Dort hielt er sie mehrere Tage fest, in denen er sie mit einer Unmenge an Drogen betäubte und immer und immer wieder vergewaltigte. Er tobte sich aus, doch als ihm die perversen Ideen ausgingen, brachte er sie um. Sie war für ihn nur ein Objekt gewesen, ein Gegenstand, den man nach Gebrauch entsorgte. Wie? Ganz einfach: Er erstickte sie mit einem Kissen. Saubere Angelegenheit, kein Blut, keine Spuren. Er nahm ihr anschließend auch noch das letzte bisschen Würde, indem er ihre Leiche entkleidete und sie nachts an dem Ufer eines Waldsees, weit außerhalb der Stadt, ablegte. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, sie zu verscharren. Er war sich seiner Sache sicher gewesen, deshalb war es auch nicht schlimm, dass die Leiche bereits zwei Tage später von Spaziergängern gefunden wurde, die dann die Polizei riefen. Das Sondereinsatzkommando, das extra für die Suche nach ihr ins Leben gerufen worden war, fahndete daraufhin fieberhaft nach dem Täter, tappte aber lange Zeit im Dunkeln. Bis der leitende Kommissar einen Tipp bekam, der ihn auf eine heiße Spur brachte. Laut des anonymen Anrufers gab es einen Mann, der jeden Samstag in der selben Kneipe in der Altstadt saß und damit prahlte, Sex mit dem Mädchen gehabt zu haben, dessen Foto in den letzten Wochen und Monaten unentwegt durch die Presse gegangen war. Klar, der Anrufer hätte irgendein Spinner sein können, aber der Kommissar und sein Kommando waren für jeden Hinweis dankbar gewesen und gingen der Sache nach. Weil schon genug Zeit verstrichen war, und sie keine weitere verlieren wollten, schickten sie direkt am ersten Samstag nach dem Anruf einen verdeckten Ermittler in die besagte Kneipe. Dieser hatte ein Aufzeichnungsgerät bei sich und wurde prompt Zeuge der Prahlereien des Mannes, der die Tat begangen haben musste. Er erzählte seinen Saufkumpanen Dinge, die nur der Täter wissen konnte, und das zeichnete der Ermittler auf. Der Fall ging vor Gericht, doch leider sind solche Überwachungsmethoden ein recht unorthodoxes Mittel und ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen. Erschwerend kam hinzu, dass die geladenen Zeugen, bis auf das Mädchen aus der Discothek, nicht auftauchten. Es wurden noch nicht einmal Spuren an der Leiche, oder in der Wohnung des Angeklagten gefunden, die ihn als Täter hätten überführen können. Mit Desinfektionsmittel kannte er sich also wohl auch abseits von Hundescheiße aus... Er selbst sagte nicht aus und wurde dann aufgrund von Mangel an Beweisen freigesprochen. Einige sagten daraufhin, dass wohl alles nur Zufall, und die Geschichten, die er in der Kneipe erzählt hatte nur ausgedacht gewesen sein mussten. Andere aber brauchten genauso wenig wie er die DNS seiner Tochter im Haus dieses Menschen, oder ihre Kleider in seinem Hausmüll zum Beweis für seine Schuld. Für sie und ihn war die Sache klar gewesen, als sie die Aufzeichnungen der Ermittler gesehen hatten. Es war auch kein Beschluss der Staatsanwaltschaft nötig gewesen, damit er diesem Material Glauben schenken konnte. Die Leute, die an die Schuld dieses Mannes glaubten waren es auch, die sich Tag für Tag rächten und ihm bis heute das Leben so gut sie konnten zur Hölle machten.
Er für seinen Teil hatte mit dem Planen seiner Rache deutlich länger gewartet, aber jetzt hatte er sie und mit ihrer Hilfe würde er diesen Plan endlich in die Tat umsetzen können. Die Anwesenheit seiner stummen Begleiterin machte ihm klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Die grauen Wolken am Himmel zogen sich zusammen und es begann zu schneien, als er sein Ziel erreichte. Die Sonne schien nicht mehr und dank dieses Wetters war er unterwegs niemandem begegnet. Auch jetzt war auf der Straße oder den Bürgersteigen niemand zu sehen. Nur er... und sie. Dem Ende seines Leidens so nah erfasste ihn Nervosität, aber er nahm sich zusammen, klingelte an der Tür des Mörders seiner Tochter und bereitete sich nach beinahe zwei Jahren auf eine erneute Konfrontation vor. Er spürte, wie ihre Gegenwart alles veränderte, alles leichter machte. Er umschloss ihren Körper so fest wie er nur konnte, hielt sich an ihr fest, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann wurde geöffnet. Als er ihm erneut ins Gesicht sehen konnte, wurde ihm klar, dass er in den vergangenen Jahren nur für diesen einen Augenblick gelebt hatte. Ihr Schweigen hatte ihn angesteckt, und so sagte er kein Wort. Auch nicht als der Peiniger und Mörder seiner Tochter mit einer beinahe unverschämten Unschuldsmiene fragte, wer er sei und was er wolle. Er erkannte ihn offenbar nicht wieder, aber das war ohnehin unwichtig. Wichtig war nur sie, deren Körper nun um einiges schwerer in seinen Händen lag. Er durfte keine Sekunde mehr verlieren, denn ihm konnte die Tür nur allzu schnell wieder vor der Nase zugeschlagen werden, und diese Tür würde dann für alle Zeit verschlossen bleiben. Er hatte also nur eine Chance. Er musste es perfekt machen, und zwar auf Anhieb. Er konnte sie nicht länger versteckt halten, zwang ihn dazu sie anzusehen, in sie hinein zu sehen. Sie fixierte seine Stirn, dann betätigte er den Abzug und noch bevor er die Tür ins Schloss werfen konnte, schleuderte sie ihm mit all ihrer Kraft etwas entgegen, das seine Stirn mit Leichtigkeit durchschlug: eine Kugel mit neun Millimeter Durchmesser. Der Schalldämpfer, der im Lieferumfang enthalten gewesen war, hatte ganze Arbeit geleistet und das leise Geräusch, das sie trotz allem von sich gegeben hatte, wurde vom Wind davon getragen. Nun blieb ihm nichts weiter, als ihr für ihre Dienste zu danken und sie wieder in seiner rechten Manteltasche verschwinden zu lassen, während er sich langsam umdrehte und den verhassten Ort verließ. Er hatte es endlich getan und es ging ihm besser. Besser, als es ihm je zuvor in den Jahren nach dem Tod seiner geliebten Tochter gegangen war.
Noch während er sich entfernte, deckten die dicken Schneeflocken, die unbeirrt weiter vom Himmel fielen, seine Fußspuren wieder zu. Nichts bezeugte mehr, dass er dort gewesen war und keine Menschenseele hatte etwas gesehen oder gehört. Er hatte sich befreit, und auch wenn sie ihn doch erwischen und einsperren sollten, seine neu erworbene innere Freiheit konnte ihm niemand mehr nehmen.
MagicMarlene ... - Fesselnd und mitreißend! Eine wunderbar geschriebene Story! =D Natürlich 5 * von mir! ~ Maggy XXX |