Bin ich das? Kann das sein? Dieser Mann im Spiegel dort? Ein Mann mit Frau und Kind? Ein Mann mit Haus und Hund? Ein Mann mit einem gepflegten Vorgarten und einem weißen Zaun, der im Glanz der Vorstadtidylle strahlt?
Das kann nicht sein! Ich bin ein glücklicher Mensch! Der Mann im Spiegel ist es nicht.
Tagein tagaus derselbe Trott: Aufstehen, Frühstück, Arbeit, Familienzeit. Am Wochenende wird die Arbeit im Büro von der Arbeit im Garten abgelöst. Letztendlich bringt mich das Wochenende vom Regen in die Traufe. Und ist der Rasen nicht gemäht, steht auch schon der Nachbar am Zaun: „Herr Nachbar, Ihr Rasen. Haben Sie denn nicht gesehen, wie Ihr Rasen aussieht? Vergleichen Sie doch mal Ihren Rasen mit meinen Rasen. Fällt Ihnen denn dabei gar nichts auf, Herr Nachbar?“ Wie gern würde ich diesem Typen seinen getrimmten englischen Rasen ins Maul stopfen! Dann hätten die Gartenzwerge auf der anderen Straßenseite endlich einen Grund zum Lachen. Auf der ganzen Welt müssen Menschen hungern und für ihn bildet sein Rasen, nun eigentlich mein Rasen, das Zentrum des Universums.
Diese Vorstadtidylle. Diese aufgesetzten freundlichen Grimassen. Wie ich es hasse!
Ich blicke in den Spiegel und versuche zu lachen. Wäre es nicht einfacher, einer von ihnen zu sein? Ich kann es nicht. Ich will es nicht!
Ich nehme den Spiegel von der Wand im Badezimmer, stelle ihn hinter einen Schrank und schließe mich in meinem Arbeitszimmer ein. In einen Raum ohne Spiegel. Draußen im Garten spielen die Kinder. Meine Frau kommt zu ihnen hinaus, in der Hand ein Tablett mit Limonade. Sie trägt ein geblümtes Sommerkleid. Unser Hund schläft im Schatten des Apfelbaums.
Ich verabscheue es! Verabscheue die Perfektion. Verabscheue meinen wahrgewordenen Traum. Verabscheue den Mann im Spiegel. Verabscheue, dass ich die Sachen, die mir geschenkt wurden nicht würdigen kann.
16.06.2012 P.R.