Romane & Erzählungen
Verzweiflung pur - Findet Chiara den Weg zum Glück?

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"Verzweiflung pur - Findet Chiara den Weg zum Glück?"
Veröffentlicht am 13. Juni 2012, 218 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Als Kind habe ich alles gelesen, was ich von Karl May kriegen konnte, denn mein Zuhause war ein Käfig. Ich wollte frei sein und Abenteuer erleben... Ich hab´s bekommen.
Verzweiflung pur - Findet Chiara den Weg zum Glück?

Verzweiflung pur - Findet Chiara den Weg zum Glück?

Beschreibung

Seit alleinerziehende Frauen (ein paar Männer natürlich auch) nach einer bestimmten Frist keinen Unterhaltsanspruch mehr haben, hat sich ihre finanzielle Lage dramatisch verschlechtert. Verzweifelt kämpfen diese Menschen für ein würdiges (Über)-Leben

1

„Das Urteil ist hiermit gesprochen.“

Dumpf fiel der Richterhammer auf die Lederunterlage und lies Chiara erschauern. Sie war wie gelähmt.

„Kommen sie,“ ihr Anwalt hatte sich erhoben und seine Unterlagen eingepackt. Wie im Trance stand Chiara auf. Die Welt war für sie zusammen gebrochen. Seit ihr Mann Jonas Winkler sich von ihr hatte scheiden lassen, hatte er nur den Mindestsatz an Unterhalt für sie und die Kleine bezahlt. Mit viel Sparen und Bescheidenheit war es ihr gelungen, sich und Lilly ein karges Auskommen zu ermöglichen. Jeden Samstag kam Jonas, um die Kleine in den Zoo, zum Spazieren gehen und Eis essen usw. abzuholen. Für die Kleine war er der Größte. Alles was sie sich wünschte und ihre Mutter nicht ermöglichen konnte, gab ihr der Vater.

„Kommen sie,“ der Anwalt zupfte an ihrem Ärmel. Chiara blickte auf und sah Jonas im Armanianzug, der sich von seinem Anwalt händeschüttelnd verabschiedete. Sie machte einen forschen Schritt auf ihn zu. Sie wollte ihn bitten ihr mehr Geld zum Leben zu bezahlen. Jonas war der strahlende Sieger bei diesem ungleichen Verfahren. Dreiunddreißig Jahre war er jetzt alt.

Chiara hatte ihn kennen gelernt, als sie sich auf der Uni einschrieb. Er hatte neben ihr gestanden. Seine wirren, blonden Locken und diese strahlend blauen Augen hatten sie angerührt. Groß war er, mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Das hatte sie gleich angemacht.

Damals hatte er Ideale gehabt und wollte die Welt verbessern. Von Gerechtigkeit hatte er geschwärmt. Jetzt ging es ihm nur noch um Karriere.

Jetzt presste er die schmalen Lippen zusammen, als er Chiara auf sich zusteuern sah. Du warst auch schon mal besser angezogen, dachte er. Chiara war noch genauso schlank wie früher und die guten Proportionen von Busen und Hüften widersetzten sich noch der Schwerkraft. Sie trug ein einfaches Hemdblusenkleid in jeansblauer Farbe, mit einem schmalen, geflochtenen Gürtel und Pumps.

Jeder Mann hätte in ihr die schöne Frau gesehen. Ihre braunen Locken, mit dem in Licht aufleuchtenden Rotstich, fielen ihr über die Schultern. Aus dem herzförmigen Gesicht mit der Stupsnase unter reizenden Sommersprossen, schauten blanke, haselnussbraune Augen hervor. Jonas sah in ihr nur das Eurograb. Chiara legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie öffnete ihre vollen, sinnlichen Lippen:

„Bitte Jonas, was soll aus mir und Lilly werden? Wir können nicht davon existieren, was du jetzt noch bezahlst. Du musst uns mehr zum Leben lassen. Bitte.“ Ihre Stimme war flehentlich, die Augen tränenfeucht. Jonas schüttelte ihren Arm ab. Ihm war es unangenehm, dass seine Ex hier ein Drama machte.

„Gehe arbeiten. Das müssen alle anderen auch. So ist es im Leben. Ich muss für das Geld schwer arbeiten. Jetzt musst du für dich selbst aufkommen. Und wehe, es fehlt der Kleinen an irgend etwas. Wage es nicht, etwas für dich zu verbrauchen.“ Er drehte seinen schmalen Kopf zur Seite und erblickte seine Freundin auf dem Weg zum Ausgang. Groß wie eine Göttin war sie. Ihre blonden Haare  waren zu einem Bienenstock toupiert und waren mit einer echten Rose dekoriert.  Sie hatte alles gehört und reckte jetzt ihren Daumen zustimmend nach oben.

 „Kommen sie,“ sagte Chiaras Anwalt leise: „Sie können nichts dagegen tun. Suchen sie sich eine Arbeit und geben sie das Kind in den Kindergarten.“ Sie waren in den Flur gelangt. Jonas war schon am Ende des Flurs. Chiara und der Anwalt verabschiedeten sich:

„Ich lasse ihnen die Rechnung in ein paar Tagen zukommen. Ich wünsche ihnen viel Glück.“

Chiara blieb verlassen zurück. 

2

Melanie Engel schloss die Tür ihrer Massagepraxis. Mittagspause. Noch kein Anzeichen von Chiara zu sehen. Sie wartete auf ihre Freundin, die heute ihren Gerichtstermin gegen ihren Ex hatte. Melanie machte sich Sorgen. Chiara war der friedfertigste Mensch den sie kannte. Seit Sandkastenzeiten waren sie befreundet. Sie hatten gemeinsam die Schule besucht. Melanie hatte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Masseurin und Gesundheitsberaterin absolviert. Chiara eine Lehre zur Schneiderin begonnen und gleichzeitig Modedesign studiert.

 

Melanie schüttelte ihren Kopf. Ihr kupferroter Zopf, der lang über ihren  Rücken fiel, geriet heftig in Bewegung. Bei ihrer Arbeit bevorzugte sie den freien Blick. Deshalb flocht sie sich jeden Morgen ihre dicken, lockigen Haare in einen Zopf. Melanie war mittelgroß mit schmalen Schultern, kleinem Busen und breiter Hüfte. Sie fand, die Natur habe ihr zum Ausgleich ihre wunderschönen dichten Locken geschenkt.

Sie ging in die kleine Küche hinter den Behandlungsräumen ihrer Massagepraxis und setzte Kaffee auf. Chiara müsste bald kommen. Die Verhandlung musste schon lange beendet sein. Wenn sie pünktlich angefangen hatte.

Es war eine unspektakuläre Geschichte. Dabei war sie für Chiara immens wichtig.

Melanie stellte zwei Tassen auf  Unterteller und schob ihre Unterlippe vor. Ihre Freundin hatte wirklich Pech. Dabei hatte alles so glänzend ausgesehen.

Jonas war einer der besten Studenten seines Fachs gewesen. Er hatte in angemessener Zeit sein Studium beendet und nach der Referendarzeit ein eigenes Büro eröffnet. Andere Studenten mussten während des Studiums arbeiten und hingen dafür mehrere Semester an. 

 

Chiara hatte Jonas das Studium leicht gemacht. Sie hatte ihr Studium abgebrochen, gearbeitet und ihn durchgefüttert. Seine Eltern konnten ihm nichts bezahlen. Nachdem Jonas fertig war, wollte Chiara wieder studieren. Solange sie ein Paar gewesen waren, hatte alles gut geklappt. Als Lilly geboren wurde war Chiara ganz zu Hause geblieben, um sich um das Kind zu kümmern. Jonas verdiente genug für seine Familie.

Ich muss Jakob anrufen und fragen, was die Kinder machen, dachte Melanie. Der Kaffee tröpfelte duftend durch den Filter.

„Hallo, mein Engel,“ sagte Melanie zu ihrem Mann: „Wie geht es euch?“

„Prima. Wir haben das Puppenhaus neu eingerichtet. Die Mädchen haben viel Vergnügen daran. Nur Luis wollte nicht mitmachen. Da habe ich ihm angeboten die Garage einzurichten. Jetzt spielen sie schön zusammen.“ Er machte eine Pause und fragte dann: „Schon was von Chiara gehört?“

„Nein, ich warte auf sie. Moment mal. Es klingelt gerade. Das ist sie vielleicht.“ Jakob warf einen Blick auf die spielenden Kinder. Luis schob gerade ein kleines Auto in die Garage. Lilly und Laura verstauten kleine Puppenwäsche in ein Puppenschränkchen. Laura und Luis waren Zwillinge. Sie waren so unterschiedlich, wie Kinder nur sein konnten. Laura war groß für ihr Alter, mit dem Haarschopf ihrer Mutter. Luis war etwas kleiner mit braunen Locken.  Jakob ficht das nicht an. Er war auch ein Spätzünder gewesen.

„Chiara ist gerade gekommen,“ holte ihn die Stimme seiner Frau aus den Gedanken zurück. „Sie hat verloren. Ich muss Schluss machen, denn sie weint sehr viel. Ich erzähle dir heute abend mehr.“ Schon hatte sie aufgelegt.

 

                                                                        ***

 

Jonas und Manon saßen im teuersten Lokal dar Stadt. Sie hatten Austern serviert bekommen. Der Champagner perlte in den Gläsern. Manon feierte ihren Sieg über Chiara. Das bedeutete, dass Jonas jetzt ganz ihr gehörte. Für Jonas war es nicht so bedeutsam. Die paar hundert Euro, die er dadurch sparte, waren ihm nicht ganz so wichtig.

Manon trug ein schickes taubenblaues Kostüm. Es war auf ihre Körpermaße zugeschnitten. Ebenso die weiße Bluse mit einem dunklen Kontraststreifen mit Mille-Fleurs im Kragen, an der Knopfleiste und in den Manschetten. Diese hatte sie jetzt umgeschlagen. Deshalb konnte man ihre aufgestickten Initialen nicht sehen.

Als Jonas eine neue Sekretärin suchte, war Manon Meier frisch von der Sekretärinnenschule gekommen. Sie hatte ihn durch ihr Aussehen ganz für sich eingenommen. Eine Bombenfigur, große Brüste, frauliche Hüften mit schmaler Taille.  Jonas war das Testosteron in den Kopf gestiegen und er hatte sie ohne Federlesens eingestellt.

Seine alte Sekretärin, Frau Maus, sah auch so aus. Nomen est Omen. Alles an ihr war grau. Die kurzen Haare, die Kleidung, sogar die Haut. Sie arbeitete Manon noch ein, die über keinerlei Erfahrung verfügte. Für Frau Maus war Manon eine totale Niete. Manon kümmerte sich mehr um ihr Aussehen als um den Job. Ihr Steckenpferd waren stets perfekte Fingernägel.

Als Frau Maus Jonas einmal darauf ansprach, sagte er ihr, dass Manon über eine große Ausstrahlung verfüge. Die hat sie wohl in ihrer Bluse, dachte Frau Maus ganz undamenhaft.

Als Frau Maus sich in die Rente verabschiedet hatte, wurde Manon der Boss. Jonas fraß ihr aus der Hand. Jetzt wurde ihre Arbeit besser. Schnell hatte sie erfasst, dass das Unternehmen florierte, wenn sie ihre Arbeit gut machte.

Es war eine Kleinigkeit Jonas flach zu legen. Er setzt fast keinen Widerstand dagegen. Sie manipulierte ihn geschickt über seine Bedürfnisse. Schnell hatte sie Lohnsteigerungen und

Erfolgsprämien für sich aus ihm heraus gekitzelt.

Jetzt war es nur ein kurzer Weg, dass er sich scheiden ließ. Zuerst hatte sie geplant, die zukünftige Frau Winkler zu werden. Nun dachte sie, wozu soll ich meine Freiheit aufgeben, wenn ich auch so alles haben kann?

„Jonas, Liebling,“ flötete sie und schaute ihn über das Champagnerglas mit ihren blauen Augen an. Sie wurden durch das Blau des Kostüms besonders gut zur Geltung gebracht. Sie trank mit ihren dicken Lippen einen kleinen Schluck. Vor einiger Zeit hatte sie sie mit Kollagen unterspritzen lassen. Dadurch hatte sie einen Dauerschmollmund.

Als sie sich sicher sein konnte seine Aufmerksamkeit zu haben, sagte sie:

„Mein Liebling, was machst du mit dem vielen Geld, was du jetzt einsparst?“

„Na, soviel ist das doch gar nicht, die paar hundert Euro im Monat.“

„Wenn das so ist, dann kannst du sie mir doch zukommen lassen. Für dich haben sie kaum einen Wert. Ich habe mir etwas ausgedacht und werde dich heute abend besonders verwöhnen.“ Sie leckte sich aufreizend über die Lippen. Dabei legte sie ihre Hand auf seinen Schenkel und strich langsam daran hoch.

Der Kellner unterbrach ihre Bemühungen mit Fettuccine  und weißen, gehobelten Albatrüffeln. Manon stellte ihre Anstrengungen fürs erste ein. Nach Halbgefrorenem mit Limocello rundete ein Espresso das Menü ab.

Es war Zeit zum Büro zurückzukehren. Am Nachmittag waren Termine mit wichtigen Geschäftskunden geplant. Jonas Büro war klein, aber sehr speziell und gefragt.

 

                                                                        ***

 

In der Massagepraxis hatte Chiara sich etwas beruhigt. Sie hatte ihrer Freundin alles berichtet. Jetzt kam sie sich dämlich vor, dass sie Jonas so angebettelt hatte. Unter ihrer Würde aber was sollte sie tun?

„Wie und wo soll ich arbeiten?“ Fragte sie gerade, als ihr Melanie Kaffee nachschenkte. „Die Kindergartenzeiten passen nicht mit den Arbeitszeiten der meisten Geschäfte überein. Dann ist noch der Weg des Hinbringens und Abholens. Mein Auto ist ständig in der Werkstatt. Ich müsste ein Neues haben. Aber wie soll ich alles bezahlen?“ Chiara schluckte schwer an den letzten Tränen. Sie trank etwas Kaffee um besser reden zu können. Melanie schwieg. Sie wusste, dass sie Chiara nicht unterbrechen durfte. Tatsächlich, Chiara sagte leise:

„Die Miete habe ich seit zwei Monaten auch nicht bezahlt.“ Melanie schlug vor Schreck die Hand vor den Mund.

„Das darf auf keinen Fall geschehen. Die Wohnung ist das Wichtigste. Wie schnell steht man auf der Straße.“

„Vielleicht sollte ich in eine kleinere Wohnung umziehen, die billiger ist?“ „Du wohnst schon so lange in deiner Wohnung. Eine neue, kleinere Wohnung ist doch genau so teuer.“ Melanie stemmte die Arme in die Hüften:

„Lass dich nicht so hängen! Jakob und ich legen dir das Geld für die Miete vor und du kümmerst dich um eine Arbeit.“

„Das ist lieb von euch. Danke. Wie soll ich es wieder zurückzahlen und die neuen Kosten dazu? Zuerst muss ich Lilly unterbringen, bevor ich arbeiten kann.“

„Was ist mir deiner Oma? Kann sie nicht mal Lilly für eine Zeitlang nehmen?“

„Das würde sie bestimmt tun aber ich möchte mein Kind nicht hergeben. Außerdem wird sie auch nicht jünger. Bei meinem letzten Besuch war sie gleich nervös, als Lilly in den Kuhstall ging. Sie hat nicht mehr die Nerven dafür. Was mit ihr werden soll überlegen Joachim und ich schon eine ganze Weile.“

„Was macht dein Bruder eigentlich?“ Wollte Melanie wissen. Sie hatte Joachim schon ewig nicht mehr gesehen.

„Zuletzt war er Koch auf einem Kreuzfahrtschiff auf der Karibikroute. Er wollte im nächsten Urlaub mal vorbei kommen und mich und Oma besuchen. So wie er schrieb, hat er auf dem Schiff eine Freundin kennen gelernt.“

„Wie lange ist es her, dass deine Eltern verunglückt sind?“ Wollte Melanie wissen.

„Ãœber zehn Jahre,“ schniefte Chiara. Melanie merkte, dass sie ein heikles Thema angesprochen hatte.

„Du,“ sagte sie zu ihrer Freundin: „Die Mittagspause ist zu Ende. Ich muss wieder öffnen. Fahr zu Jakob und bleibe dort. Wir werden gemeinsam zu Abend essen und Pläne schmieden. Irgend eine Lösung gibt es immer. Man muss sie nur finden.“

 

                                                                        ***                                                                 

 

In Jakobs Wohnung war der Teufel los. Von draußen hörte man schon den Lärm. Chiara klingelte Sturm, bis Jakob schließlich öffnete.

„Hallo, so schlimm ist mein Gehör noch nicht,“ sagte er lachend und ließ Chiara eintreten. „Die Kleinen sind im Kinderzimmer,“ wies Jakob den Weg.

„Das habe ich mir fast gedacht.“ Chiara öffnete vorsichtig die Tür.

Die Kinder waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie Chiara nicht bemerkten. Sie zog leise die Tür hinter sich zu.

„So haben wir noch einen Moment Zeit für uns,“ meinte sie zu Jakob.

„Willst du einen Kaffee? Ich habe frischen gekocht,“ Jakob ging vor Chiara in die Küche. „Nein danke, damit hat deine Frau mich schon abgefüllt. Vielleicht ein Glas Wasser.“

Chiara stellte ihre Tasche ab und nahm sich einen Stuhl. Jakob stellte ein Glas vor ihr auf den Tisch und goss Wasser aus dem Kühlschrank ein. Für sich nahm er einen Kaffeebecher von der Spüle, der zum Trocknen stand und füllte frischen Kaffee ein.

„Wie es ausgegangen ist, habe ich schon gehört. Was willst du jetzt machen?“

„Wenn ich das wüsste!“ Chiara nippte an dem kühlen Wasser. Die Gasperlen kitzelten sie in der Nase.

„Irgendeine Arbeit muss es doch geben,“ sinnierte Jakob: „Sogar Putzstellen sind rar. Alles fest in polnischer Hand. Was die verdienen, davon kannst du nicht leben. In den östlichen Ländern sind die Kosten billiger. Warum fragst du nicht in deinem alten Betrieb?“

„Das habe ich schon, aber die Arbeitszeiten passen nicht mit der Kinderbetreuung überein. Ich kann zwar 50% arbeiten, aber ganze Tage, eine halbe Woche. Jeden Tag vier Stunden wären ideal für mich.“ Chiara blickt sinnend auf den Tisch. Jakob sagte:

„Wir haben uns um ein Au Pair bemüht. Wahrscheinlich bekommen wir ein Mädchen aus Portugal.“

„Ja, Melanie hat es mir schon vor Wochen erzählt. Das finde ich gut. Dann kannst du auch wieder voll einsteigen.“

Jakob war wie seine Frau Masseur. Sie hatten sich die letzten Jahre die Arbeit in der Praxis geteilt. Es gab soviel zu tun, dass Chiara oft auf die Zwillinge aufgepasst hatte, wenn sie nicht im Kindergarten waren.

„Ich würde Lilly gerne mit dazunehmen“ sagte Jakob gerade: „ Aber der Vertrag mit der Au Pair Firma sieht nur zwei Kinder vor. Wenn das Mädchen auch auf Lilly aufpassen muss, kann sie sich beschweren. Es sei denn, du zahlst ihr etwas für die zusätzliche Arbeit.“

„Das kann ich nicht. Aber danke für das Angebot. Ich muss jetzt gehen.“ Chiara war die Zeit bis zum Abendessen zu lange. Außerdem wollte sich alleine sein.

„Bleibe doch noch,“ bat Jakob.

„Ach Jakob, bis Melanie nach Hause kommt dauert es noch eine Weile.

„Aber die Kinder spielen so schön miteinander.“

„Ja, eigentlich hast du recht aber weißt du, ich möchte einfach alleine sein und das Ganze verarbeiten.“

„Weißt du was? Du fährst nach Hause und kommst heute abend wieder,“ schlug Jakob vor. Das gefiel Chiara.

„OK, das ist eine prima Idee,“ stimmte sie zu. Sie nahm ihre Tasche und verabschiedete sich.

 

Zuhause nahm sie die Post aus dem Briefkasten und sah sie auf der Treppe hinauf in die Wohnung durch. Werbung und ein Brief von den Stadtwerken. Sicher die nächste Mahnung, dachte Chiara. Davon, dass sie Stromkosten schuldete, hatte sie Melanie nichts erzählt. Chiara legte den Brief auf die Telefonkonsole im Flur.

Erst mal nicht öffnen, dachte sie, lieber ein Bad. In Ruhe ein Bad nehmen, das hatte sie seit langer Zeit nicht mehr gekonnt.

 

                                                                        ***

3

Jonas Winkler öffnete die Bürotür und ließ Manon den Vortritt. Sie stolzierte an ihm vorbei auf den Schreibtisch zu. Das Büro lag im besten Geschäftsviertel der Stadt in einem Neubau. Großflächige, verspiegelte Fenster in Metallrahmen ersetzen Steine und Beton. Viele Firmen unterhielten hier ein Büro.

Manon war hoch erhobenen Hauptes an der Rezeption vorbei stolziert. Sie sagte nicht Hallo oder Guten Tag.

Du bist nur eine doofe Tippse die mit ihrem Chef vögelt, dachte Christina Holzer verärgert. Sie war seit Eröffnung des Gebäudes hier beschäftigt und kannte Chiara noch. Frau Holzer war mittelgroß und mollig. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, schwarzen Haare. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren PC. Sie machte die Dienstplanung  für die Rezeptionsbediensteten. Dabei geisterte ihr aber Chiara durch den Kopf. Wie es ihr wohl geht?, dachte sie. Wäre schön sie wieder mal zu sehen.

 

Manon stellte ihre Gucci Tasche auf den Schreibtisch und stellte den PC an. Heute nachmittag waren mehrere Termine mit Auftraggebern und Klienten eingetragen.

Der Anruf von Frau Holzer musste jeden Moment kommen. Da klingelte es auch schon.

“Herr dos Santos ist hier.“

„Bitte schicken sie ihn herauf,“ sagte Manon und legte auf.

„Sie werden erwartet,“ sagte Frau Holzer wies mit der Hand in Richtung Aufzug: „Sie kennen sich ja aus.“

„Das ist schön, dass ich erwartet werde,“ schwadronierte Josè dos Santos.

„Erwarten sie mich auch, wenn ich zurück komme?“ Frau Holzer maß ihn mit einem Seufzen. Er probierte es jedes Mal, wenn er hier war. Was würde er sagen, wenn ich zustimme, dachte sie.

„Diesmal nicht, ich muss noch arbeiten. Aber vielleicht beim nächsten mal.“ Sie blinzelte ihm verschwörerisch zu. Sie verschränkte die Arme unter ihrem Busen und legte sie auf den Tresen. Zwei schöne Wölbungen blitzten aus der weißen Bluse. Ein kleines Herz an der Halskette endete zwischen dem Brustansatz. Die Augen von das Santos starrten wie gebannt auf die dargebotene Pracht.

„Wir können gerne mal ein Date ausmachen. Ich muss nur schauen, dass mein Mann Zeit hat mitzukommen. Der würde sich bestimmt freuen.“ José dos Santos sah abrupt auf.

„Ich muss leider gehen, ich werde erwartet.“ Er drehte sich um und verschwand Richtung Aufzug.

 

Manon hielt ihm bereits die Bürotür auf, als er aus dem Aufzug trat.

„Es ist immer wieder belebend sie zu sehen.“ José dos Santos stellte seine Aktentasche auf den Schreibtisch. Er holte eine Flasche Olivenöl aus eigener Pressung heraus und überreichte sie Manon.

„Für die schönste Frau in diesem Land. Wann gehen sie endlich mal mit mir aus? Ich möchte ihnen die Welt zu Füßen legen.“ Manon lächelte:

„Eines Tages werde ich ihre Einladung annehmen. Was kostet die Welt?“ Fragte sie neckisch. Er trat näher an sie heran. Manon sah seine kleinen Fältchen um die braunen Augen. Er hatte dichte lange Wimpern. Seine Haut war olivfarben. Ob seine Oliven abfärben, schoss Manon durch den Sinn. Sie musste bei diesem Gedanken lächeln. Er interpretierte das anders. Von Statur klein, richtete es sich gerade auf. Er duftete nach teurem Parfum, sein Anzug war allerbeste Maßarbeit, das Hemd glänzte seidig.

„Wann darf ich die Dame meines Herzens ausführen?“

„Heute nicht,“ fuhr Manon ihm in die Parade.

„Wenn ich bitten dürfte, Herr Winkler erwartet sie.“ Aufreizend mit dem Po wackelnd ging sie voraus und öffnete die Tür:

„Herr dos Santos,“ meldete sie ihn. Die beiden Herren begrüßten sich und Manon stellte die teure Kaffeemaschine an. Herr dos Santos trank jedes Mal dasselbe. Das Gebräu lief schon in die Tassen, als Jonas den Kaffee  durch die Sprechanlage bestellte.

 

                                                                        ***

 

Chiara hörte leise Musik vom CD-Player während sie in der Wanne lag. Die Augen geschlossen, lag sie im warmen Schaumbad. Während sie über ihre Möglichkeiten nachdachte, dämmerte sie langsam ein. Sie erwachte, weil das Wasser kalt wurde. Schnell duschte sie den Schaum mit viel warmen Wasser ab. Eine Flasche Körperöl hatte sie vorher bereitgestellt. Der Stöpsel öffnete mit einem „Plopp“. Sanft ließ Chiara das Öl auf die Haut rieseln und verrieb es mit der Hand. Die Haut wurde glatt und seidig. Ein wunderbares Gefühl. Chiara genoß es. Sie nahm ihren alten Bademantel vom Haken und schlüpfte hinein. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch einen Moment für sich hatte, bevor sie zu Jakob und Melanie fahren musste.

Eine schöne Tasse Tee ist jetzt gerade das richtige, dachte sie. Bis das Teewasser kochte, suchte sie sich aus ihrem Fundus einen Tee aus, der ihrer Stimmung entsprach. Mit der dampfenden Tasse in der Hand stellte sie sich ans Fenster im Wohnzimmer und blickte auf die Straße hinunter. Der Verkehr hier war mäßig. Außer den Bewohnern hatte kaum jemand Interesse an dieser Straße. Bäume flankierten die Seiten. Das Laub begann sich langsam zu verfärben. Die Sonne warf lange Schatten. Frau Müller vom Erdgeschoss führte ihren Dackel  Gassi. Chiara sah, wie Waldi sein Häufchen auf den Bürgersteig setzte. Frau Müller sah sich rasch überall um. Dann zog sie Waldi weiter.

So eine Schweinerei, dachte Chiara. Sie sollte die Hinterlassenschaften von ihrem Hund wegmachen, das gehörte sich so. Sie hatte die größte Lust Frau Müller das Häufchen auf ihre Fußmatte zu legen.

Chiara trank ihre Tasse leer.

Im  Schlafzimmer  legte sie ihre Kleidung für den Abend heraus. Sie war guter Stimmung und wollte das Gefühl mit schöner Kleidung unterstreichen. Chiara war ein Jeansfan. Sie versuchte ihre alten Jeans in Schuss zu halten. Neue, schicke Jeans hatte sie seit ihrer Scheidung nicht mehr kaufen können. Hosen vom Discounter lehnte sie ab. Lieber applizierte sie hübsche Motive auf die alten Hosen. Es kam ihr auch zugute, dass verwaschen und

zerrissen aussehende Jeans Topp angesagt waren.

Sie holte eine schwarze Jeans aus ihrem Fundus. Einen grünen Pullover mit großem, weiten Rollkragen legte sie zur Hose auf das Bett. Dann kramte sie in ihrem Schmuckkästchen. Die echten Schmuckstücke hatte sie schon lange aussortiert. Sie lagen in einer Kiste, die Chiara nie öffnete. Sie wollte die Sachen, die ihr Jonas geschenkt hatte, nicht verwenden. Jetzt suchte sie ihren Modeschmuck durch. Na ja, dachte sie, modisch ist das schon lange nicht mehr. Aber die Stücke gefielen ihr. Sie nahm kleine Kreolen und eine hübsche Brosche.

Langsam zog sie sich an und legte ein kleines Make-up auf. Als sie fertig war, griff sie nach ihrer Tasche und wollte die Wohnung verlassen. Da sah sie den Brief von den Stadtwerken, der geduldig neben dem Telefon gewartet hatte. Sie wog ihn in der Hand. Leicht. Nicht wie die letzten Male mit allen alten Rechnungen gefüllt. Seufzend schlitzte sie ihn auf, las. Ihre gute Laune schwand wie ein Blitz dahin. Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie schloss ihre Wohnungstür und stieg die Treppe hinab.

 

Nachdenklich startete sie ihren Wagen. Dieser krächzte heiser vor sich hin.

„Nun mach schon,“ bat sie das Auto. Sie durfte nicht zu lange den Zündschlüssel gedreht halten. Die Batterie war schwach. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Wenn sie bis zum Winter keine neue bekam, würde sie nicht mehr fahren können. Endlich sprang der Motor an und Chiara fuhr los. Ihre Augen begannen in Tränen zu schwimmen, als sie an den Brief dachte. Sie nahm ein Papiertaschentuch und trocknete sich die Augen. So durfte sie niemand sehen.

 

Im Flur des Hauses, in dem Melanie mit ihrer Familie wohnte, duftete es herrlich nach Pizza. Chiara hatte nicht gemerkt wie hungrig sie gewesen war. Jetzt meldete sich ihr Magen mit Knurren. Kaum hatte sie geklingelt, als auch schon die Tür aufgerissen wurde und ihr Lilly in die Arme sprang.

„Hallo Mammi, das war so schön hier. Jakob hat ganz toll mit uns gespielt.“

„Das ist prima, mein Schatz.“ Chiara setzte ihre Tochter wieder auf dem Boden ab.

„Ich bin gekommen um dich zu holen.“

„Schade, können wir nicht hier blieben?“

„Schatz, Melanie und Jakob haben keinen Platz für uns.“ Jakob kam ihr zu Hilfe:

„So, alle in die Küche. Jetzt wird gegessen.“ Die Kinder kamen auf die Bank und Melanie holte die erste Pizza aus dem Backofen.

„Vorsicht,“ sagte Jakob zu den Kindern: „Die Pizza ist noch heiß, ihr müsst pusten.“. Mit der gebotenen Vorsicht begannen sie zu essen.

Melanie beobachtete Ihre Freundin. Sie kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ein Problem hatte. Sie wollte aber erst nach dem Essen fragen.

 

                                                                        ***

 

Winfried König trat aus Jonas Büro. Manon ging zum Garderobenschrank und nahm seinen Burberrymantel vom Kleiderbügel. Während er seinen Kaschmirschal umlegte, meinte er: „Sollten sie mal einen Tapetenwechsel benötigen, können sie gerne bei mir anfangen. Ich suche immer gut ausgebildetes Personal. Für den Empfang müssen sie auch noch gut aussehen. Man findet immer gut aussehende Leute aber Leute mit Stil sind selten.“

Manon sah ihn an. Sein Alter war schwierig zu schätzen. Sicher war er älter als er aussah. Sein Kopf war etwas zu groß für seine mittlere Statur. Er war sonnengebräunt, denn er hielt sich berufsmäßig viel in Italien auf. Seine kurz geschnittenen Haare waren schwarz gefärbt.  Der Scheitel zeigte am Ansatz Grau. Vernarbte Haut umgaben seine kleinen, dunklen, tiefliegenden Augen. Lange Nase, schmaler Mund. Nicht das Schönheitsideal eines Mannes für Manon. Trotz seiner Figur, die er durch tägliches Training fit und schlank hielt.

Wie zufällig streifte er ihren Arm. Manon hielt ihm den Mantel hin:

„Ich werde daran denken, wenn ich einen Wechsel benötige.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, dabei entblößte sie zwei Reihen ebenmäßig, blendend weißer Zähne. Er streckte den Arm aus, um  in den Mantel zu schlüpfen. Manon sah seine übermäßig, schwarz behaarte Hand. Er trug eine Rolex und ein Goldkettchen

„Ich nehme sie beim Wort,“ erwiderte er und lächelte ihr zu, als er die Kanzlei verlies.

Jonas trat aus seinem Büro, die Aktentasche unter dem Arm. In der Hand eine Flasche Wein. „Die hat mir Herr dos Santos überreicht.“ Jonas hielt Manon das Etikett hin, damit sie es lesen konnte.

„Und ich bekomme nur eine Flasche Olivenöl,“ protestierte sie lachend.

„Das passende Geschenk für die Hausfrau,“ parierte Jonas: „Aber immerhin, erste Pressung. Er lässt sich nicht lumpen.“ Manon hatte ihren schwarzen Ledermantel angezogen und legte ihren Hermésschal dekorativ darüber. Dann nahm sie ihre Tasche.

 Die Beiden verließen das Büro und Jonas verschloss die Tür. Als sie an der Rezeption vorbei kamen, grüßte Cristina Holzer und wünschte einen schönen Abend. Jonas drehte sich zu ihr um, lächelte und grüßte ebenfalls. Manon stolzierte unbeeindruckt hinaus.

„Sollen  wir noch einen After Work Drink nehmen?“ Bot Jonas an, als sie in seinem chicen, roten BMW Z1 saßen.

„Nein, heute nicht,“ entgegnete Manon. Sie hatte Lebensmittel im Internet bestellt.

„Die Lebensmittel sollen heute geliefert werden. Da müssen wir zu Hause sein.“

 

Zuhause wartete der Lieferservice schon vor der Tür.

„Ich hoffe, sie mussten nicht zu lange warten,“ sagte Jonas, als er die Tür aufschloss.

„Nein, höchstens eine Minute,“ log der Lieferant. Gute Kunden sollte man nicht vergrätzen. Er war jung und hatte seine Karriere bei dem Warenhaus noch vor sich.

Manon ging vor ihm her in die Küche. Unterwegs legte sie ihre Tasche auf den Sessel neben das Telefon und den Schal obendrauf.

„Hier,“ sie zeigte auf den Tisch: „Legen sie die Sachen  hier ab.“ Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Sie streifte ihre Pumps von den Füßen. Ah, wie wohltuend war der kühle Steinboden für ihre gequälten Füße. Sie begann die Sachen in die Schränke zu räumen. Der junge Mann kam mit der Tiefkühlbox und räumte sie aus. Zum Schluss brachte er die Getränkekisten mit Wein und Spirituosen. Bevor er hinaus ging wünschte er einen angenehmen Abend. Er wünschte auch Jonas eine gute Zeit und erhielt erfahrungsgemäß sein Trinkgeld. Es fiel üppiger aus als sonst:

„Weil sie warten mussten,“ sagte Jonas.

 

„Hast du Lust zu kochen oder sollen wir ausgehen?“ Fragte Mona Jonas. Jonas war ein leidenschaftlicher Hobbykoch. Er war gleich begeistert.

„Natürlich, ich koche. Was haben wir da?“ Er inspizierte den Kühlschrank und stellte in Gedanken ein Essen zusammen. Gambas, gegrillt  mit Knoblauch. Nur wenig natürlich, denn morgen musste man wieder Klienten gegenübertreten. Filetsteaks in Pfeffersauce, dazu gebackene Rösti und Feldsalat.

„Welchen Wein trinken wir?“ Jonas sah die Lieferung durch.

„Diesen Roten nehmen wir. Er ist ein bisschen kalt.“ Er stellte ihn auf den Tisch und nahm den Korkenzieher aus einer Lade:

„Ich öffne ihn schon mal. Dann kann er atmen und wärmer werden.“ Jonas ging an die Arbeit. Er war vergnügt und pfiff leise vor sich hin. Er war viel häuslicher als Manon. Immerhin bin ich zehn Jahre älter als sie, dachte er. Manon liebte das Ausgehen und die bewundernden Blicke, die sie auf sich zog.

 

Manon hatte sich inzwischen umgezogen und kam in die Küche. Sie trug ein Neglige. Darunter aufreizende Spitzenunterwäsche:

„Was hältst du von einer schönen Caipirinha?“ Fragte sie und nahm schon zwei Limonen.

„Ja, warum nicht.“ Manon hatte sich während eines Brasilienurlaubs die Herstellung zeigen lassen. Jeder Brasilianer, der genügend Geld hatte, verwendete dazu weißen Zucker und weißen Rum aus der Karibik. Manon wusch die Früchte, schnitt Blüte und Stielansatz ab. Halbierte sie der Länge nach und schnitt dann Scheiben. Sie füllte sie in ein passendes Glas und stieß mit einem Holzstößel, bis Saft austrat. Sie füllte reichlich Zucker dazu und bearbeitete sie weiter. Aromatischer, fruchtig zitroniger Duft erfüllte die Küche. Manon gab reichlich Eiswürfeln dazu und füllte mit Rum auf. Darauf kam noch ein guter Schuss Wasser, damit es nicht zu scharf wurde - und durchrühren. Sie kostete. Hm, war das lecker. Das Zeug ging ins Blut und belebte alle Geister. Sie hatte vor, Jonas in beste Stimmung zu versetzen. Sie wollte, dass er das Geld, dass er an Chiaras Unterhalt sparte, in Zukunft auf ihr Konto überwies. Es würde ihn nicht schmerzen.

Sie nahm noch einen guten Schluck. Mit dem Glas ging sie zu Jonas und gab ihm das Glas in die Hand. Dann drückte sie ihm einen ausgiebig feuchten Caipirakuss auf die Lippen. Begehrlich und gekonnt drang ihre Zunge in seinen Mund. Jonas machte sich lachend frei. Er nahm einen großen Schluck aus dem Glas.

„Mein Augenstern, ich muss auf das Essen aufpassen. Wenn es verbrannt ist, meckerst du.“

Es wurde ein erfolgreicher Abend für Manon. Ihre Vorbereitungen hatten sich ausgezahlt.

4

Das Abendesser war vorüber. Melanie schickte ihre Kinder zum Zähneputzen und

Schlafanzüge anziehen. Jakob lies Lilly inzwischen ein Buch zum Vorlesen aussuchen. Die beiden Frauen reinigten die Küche.

„So,“ sagte Melanie und wrang den Spüllappen aus.

„Jetzt sag mir was los ist.“ Sie wischte den Tisch sauber.

„Nichts ist,“ Chiaras Augen füllten sich mit Tränen.

„Papperlapapp,“ Melanie redete mit ihr wie mit ihren Kindern:

„Jetzt sagt du mir was los ist. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht.“ Chiara senkte den Kopf. Sie holte tief Luft und dann platzte es aus ihr heraus:

„Die Stadtwerke drehen mir den Strom ab, wenn ich bis Ende des Monats nicht gezahlt habe!“ Melanie hielt in ihrer Bewegung inne.

„Das ist schlimm,“ meinte sie leise. „Du musst unbedingt zusehen, dass du einen Job bekommst.“

„Ich könnte ja wieder im Geschäft anfangen, wenn ich Lilly unterbringen könnte. Aber kein Kindergarten und keine Tagesmutter nimmt sie so lange wie ich arbeiten muss. Das habe ich doch schon alles probiert,“ schniefte sie. Melanie wurde energisch:

„Du bringst Lilly morgen früh vorbei. Jakob kommt erst mittags in die Praxis. Dann gehst du morgens zum Arbeitsamt und schaust, ob sie dich irgendwie vermitteln können.“ Melanie hielt mit der Arbeit inne, sie hatte einen Einfall:

„Lass Lilly gleich hier. Die Kinder freuen sich bestimmt, wenn Lilly bei ihnen schläft. Dann kannst du morgen ganz früh durchstarten.“

„Sie braucht nachts noch Windeln,“ bemerkte Chiara. Melanie hob lächelnd den Finger: „Dafür habe ich auch etwas. Ich habe noch Pullups übrig.“

„Danke,“ sagte Chiara einfach und umarmte ihre Freundin.

 

„Hurra,“ riefen die Kinder, als Melanie ihnen sagte, dass Lilly heute bei ihnen schlafen würde. Sie hatte einen alten Schlafanzug der Laura zu klein war. Neue Zahnbürsten hatte sie immer auf Vorrat. Auch für die Kinder. Chiara half ihrer Tochter bei den Abendverrichtungen. Melanie und Jakob schlugen währenddessen das Reisebettchen auf. „So,“ Melanie wurde energisch: „Lilly verabschiedet sich von ihrer Mama. Dann liest Papa euch eine Geschichte vor.“ Chiara machte es kurz, damit ihre Tochter keine Zeit hatte, es sich anders zu überlegen.

Als sie das Haus verlies, hörte sie, wie Jakob mit der Geschichte begann: „Es war einmal...“

Melanie dachte an ihre Mutter, die ihnen auch immer Märchen vorgelesen hatte. Wehmut überkam sie. Sie riss sich zusammen. Jetzt war sie Mutter und sie musste für die Kleine und sich kämpfen.

 

Es war ein seltsames Gefühl ganz alleine in der Wohnung zu sein. Chiara ließ sich nicht weiter auf ihre Gefühle ein. Entschlossen legte sie die Kleidung für morgen heraus und begann ihre Nachttoilette. Bevor sie zu Bett ging, stellte sie den Wecker. Sie wollte ganz früh auf dem Amt sein, um hinterher nicht so lange warten zu müssen.

 

Sie schlief schlecht. Allerhand Szenarien gingen ihr durch den Kopf. Am Ende sah sie sich mit Lilly unter einer Brücke hausen.

Bevor der Wecker klingelte stand sie auf und duschte. Sorgfältig machte sie sich zurecht. Hunger hatte sie keinen. Sie zwang sich ein paar Löffel Müsli zu essen. Der Tag würde lang werden und sie durfte nicht schlapp machen.

Der Motor ihres Autos motzte schon wieder. Ihm passte es gar nicht, so früh am Morgen in die Gänge kommen zu müssen. Nach einigem Husten und Stottern sprang er an und Chiara dankte dafür.

 

Auf dem Arbeitsamt war es schon voller Menschen. Hätte ich noch früher kommen sollen?, überlegte sie. Sie trat vor dem Empfang hinter die Schlange der Wartenden. Es ging nur langsam voran.

Chiara sah sich um. In einem Warteabteil saßen Männer und Frauen. Teilweise waren sie schlecht und ärmlich angezogen. Oh Gott, dachte sie, was steht mir bevor, wenn ich keine Arbeit bekomme? Andere trugen Markenklamotten. Waren sie echt oder Billigware aus Asien? Die Menschen hofften, einfach etwas mehr aus sich zu machen. Chiara wusste, die wirklich Reichen gaben sich nicht als Werbeträger für Markenware her. Die Kleidung, die diese Menschen trugen, war für Hinz und Kunz unbezahlbar. Manche der Wartenden lasen. Aber es gab keine Zeitschriften, sondern nur Informationsbroschüren vom Amt. Man hatte sie schnell durch. Die Langeweile und die Tristesse waren greifbar. Ebenso die Hoffnungslosigkeit. Chiara schlug die Stimmung auf das Gemüt.

Es ging ein Stück vorwärts. Chiara verlegte ihr Gewicht abwechselnd auf  das eine oder andere Bein.

 

Hinter dem Tresen standen zwei Schreibtische mit Computern, Schreibmaterial

und Akten. Noch mehr Akten stapelten sich auf einem Beiwagen. Im Hintergrund stand ein Metallschrank mit Hängeregalen offen. Er war gefüllt mit Heftern. Zwei Fenster gingen ins Blaue hinaus. Diese Amtstelle war im dritten Stock. Auf den Fensterbänken fristeten mickrige Blattpflanzen ihr Dasein.

Eine Person wurde von einer Bürotür aus aufgerufen. Ein Mann, aus dem Wartebereich, stand auf und verschwand in dem Büro. Chiara seufzte. Wieder ging es ein Stück nach vorn. Die Angestellte hatte sich vom Tresen entfernt und setzte sich auf den freien Stuhl.

 

Endlich war Chiara dran. Sie wurde gefragt und sie gab Auskunft. Über Ausbildung, Werdegang usw. Chiara betrachtete das Aussehen der Frau. Das war bei ihr automatisch. So wie ein Frisör die Haare fixierte. Oder ein Zahnarzt den Zustand der Zähne.

Die Angestellte trug einen marineblauen Pullover mit V-Ausschnitt. Darunter eine hellblau gestreifte Bluse. Eine dünne Silberkette mit einem dicken, grünlichen Calcit prangte auf der flachen Brust. Das ist der absolute Todhauer, dachte Chiara. Vielleicht glaubte die dunkelhaarige Frau  an eine medizinische Wirkung des Steines. Die kleine Frau  ging zum Drucker, um Chiaras Antrag auszudrucken. Jetzt sah Chiara die braune Cordhose. Unmöglich, dachte sie. Vielleicht sollte ich Stilberatung geben? 

„Sie werden aufgerufen,“ sagte die Frau. Sie war hinter den Tresen getreten und blickte zum erstem Mal Chiara richtig an. Sie hatte auffallend blaue Augen. Chiara konnte sich nicht verkneifen leise zu sagen: „Mit einer Perlenkette und einer schlichten, schwarzen Hose wären sie Topp elegant gekleidet.“

„Haben sie Ahnung davon?“ Fragte die Frau verblüfft.

„Ich habe Modedesign studiert. Leider nicht abgeschlossen. Ich habe meinem Exmann den Vortritt gelassen.“ Äußerte Chiara verbittert.

„Warum haben sie das nicht gesagt? Das nehme ich mit in den Antrag auf.“ Sie lächelte Chiara an. Dann vervollständigte sie den Antrag und druckte ihn erneut aus. Hinter Chiara begannen die Leute zu murren, weil es ihnen zu lange wurde.

„Nehmen sie Platz, sagte die Angestellte: “Sie werden aufgerufen.“

 

                                                                        ***

 

Manon räkelte sich höchst zufrieden im Bett. Es war ein erfolgreicher Abend und eine heiße Nacht gewesen. Wie einfach Männer zu manipulieren waren, dachte sie. Diese armen Kreaturen waren wie Tiere, wenn es um Sex und Machtspielchen ging. Sie waren so blind. Hauptsache ihre Bedürfnisse wurden befriedigt.

Manon konnte nun mit noch mehr Geld auf ihrem Konto  rechnen. Dass eine andere Frau und ihr Kind dafür darben mussten, war nicht ihr Problem. Sollten sie sehen, wie sie zurecht kamen. Sie musste das schließlich auch.

 

Jonas drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. Manon gönnte sich noch ein paar schöne Gedanken an die Mailänder Modeschauen, die sie im nächsten Jahr besuchen wollte. Dieses Jahr war Paris dran gewesen. Leider war diese Welt nicht ganz ihre Gehaltsklasse. Man müsste einen entsprechenden Sponsor oder Mäzen finden, dachte sie. Sie liebte Jonas nicht, hatte ihn nie geliebt. Sie sah ihn als Geldquelle. Für jeden Mann, der ihr hörig wurde, hatte sie nur Verachtung übrig.

Schon immer war sie eine gute Schauspielerin gewesen. Bis jetzt hatte sie niemand durchschaut. In der Schule hatte sie schon die Jungs dazu gebracht Geld für sie auszugeben. Hier ein Kinobesuch, da einen Eisbecher, dort Make-up oder Parfüm. Sie gab ihnen ihre Wünsche bekannt und die Jungs wetteiferten um ihre Gunst und kauften, kauften, kauften.   Die Ärmeren unter ihnen verleitete sie zum Diebstahl, wenn sie verschämt zugaben, dass sie nicht genügend Geld hatten. Sie fragte dann süffisant:

„Musst du es denn bezahlen?“ Sie kaute dabei auf ihrem Kaugummi herum: „Der Andi hat die Lederjacke mitgehen lassen, die ich ausgesucht habe. Der hat Mumm.“ Sie blies eine Kaugummiblase auf und ließ sie platzen, ganz cool. Wenn einer beim Ladendiebstahl erwischt wurde, hielt er den Mund. Welcher Junge würde sich vor seiner Gruppe, als unfähig bloß stellen lassen?

Danach ging Manon in die Sekretärinnenschule. Ihre Noten waren mehr schlecht als recht.

Sie hatte im letzten Realschuljahr die Macht von Sex erkannt. Nun manipulierte sie die Lehrer auf der Fachschule.

Ihr erstes Opfer war der Deutsch- und Englischlehrer. Er war über fünfzig und hatte eine pflegebedürftige, bettlägerige Frau zuhause. Er war mittelgroß, seine Kleidung war angeschmutzt. Einen Frisör hatte er nötig und eine gute Rasur. Manon gab ihm zu verstehen, wie sehr sie seine Lage bedauere. Ein Mann im besten Alter, vom Leben vernachlässigt. Er fuhr auf ihrer Schleimspur ab, als gäbe es einen Weltmeistertitel zu gewinnen.

 

Er blühte sichtbar auf. Bald darauf  hatte er neue Kleidung, war frisiert und rasiert. Manon ging mit ihm zusammen in anderen Städten aus. Niemand sollte sie zusammen sehen. Schnell war sie mit ihm intim. Ihre Noten verbesserten sich zusehends. Vor Klassenarbeiten bekam sie die Klausurfragen und -antworten

Danach holte sie sich den Mathematiklehrer. Er war jünger und appetitlicher. Seine Frau war zu einem Sabbatjahr nach Israel gereist und Manon kümmerte sich um seine vernachlässigten, sexuellen Bedürfnisse.

Schlecht in der Schule zu sein, hinderte sie nicht im geschickten Terminieren. Gekonnt teilte sie ihre Zeit und Gunst ein. Niemand erfuhr von ihren Eskapaden.

Im letzten Schuljahr brachte sie noch den EDV-Lehrer in ihrem Terminkalender unter.

Schnell hatte sie begriffen, dass sie nicht nur ihre Noten verbessern konnte. Die Herren trugen auch zu ihrem Lebensunterhalt bei. Sie kauften Lebensmittel, Bekleidung, technische Geräte, Luxusartikel und gaben ihr Bares.

Die Abschlussprüfungen bestand sie mit links. Bis sie eine Stelle gefunden hatte, behielt sie ihre Liebhaber.

Jetzt verwöhnte sie Jonas sehr gekonnt und opferte ihm ihre Zeit. Nützte ihre Zeit.

 

Manon dachte kurz an Winfried König und sein Angebot. Dann fiel ihr Mailand wieder ein. Vielleicht könnte man da etwas arrangieren? Während sie den schlafenden Jonas betrachtete, lies sie sich die Sache durch den Kopf gehen.

 

 

                                                                        ***

 

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Chiara aufgerufen wurde. Sie ging in das ihr bezeichnete Büro.

Darin standen zwei Schreibtische. Darauf Computer und Schreibzeug, Telefone, ein Drucker an einer Seite. Die üblichen metallenen Aktenschränke bedeckten die Seiten. Eine weitere, angelehnte Tür führte in ein Nachbarbüro. Chiara hörte leises Gemurmel aus dem Raum dringen.

Auf der Fensterbank wucherten üppig Grünpflanzen. Eine sehr korpulente Frau saß an einem der Schreibtische. Der andere sah aus, als würde er zur Zeit nicht benützt. Dafür war Chiara sehr dankbar. Sie hätte sich nicht wohl gefühlt, wenn ein anderer Besucher ihre Probleme erfahren hätte.

„Bitte nehmen sie Platz.“ Die dicke Frau wies auf einen Besucherstuhl. Ihr herabhängendes Kinn geriet dabei in Bewegung. Sie trug ein am Hals gefälteltes, rot-braun gemustertes Kleid, Marke Zirkuszelt. Chiara sagte:

„Guten Morgen,“ nahm gehorsam Platz und hielt ihre Tasche fest umklammert.

„Guten Morgen,“ antwortete die Sachbearbeiterin. Das Namenschild wies sie als Sabine Vogt aus.

„Wie ich ihren Unterlagen entnehme,“ sagte sie jetzt: „Haben sie bis vor drei Jahren als Schneiderin gearbeitet.“

„Ja,“ nickte Chiara und schaute auf den blau gemusterten Teppichboden.

„Ihr Arbeitgeber hat ihren Arbeitsplatz freihalten müssen. Warum  sind sie nicht dahin zurück gekehrt?“ Sie schaute Chiara aus grauen Augen an. Chiara hob den Kopf und musterte Sabine Vogt. Ihr fiel die fleischige Nase über den vollen Lippen besonders auf. Eine Kurzhaarfrisur in unbestimmbarer Farbe ließen kleine Ohren mit kleinen, goldenen Clips frei.

„Ich habe niemand, der auf meine Tochter aufpasst. Die Kindergärten haben für arbeitende Frauen nicht die richtigen Öffnungszeiten.“ Frau Vogt nickte verständnisvoll.

„Das ist das Problem fast aller Frauen.“ Chiara tat es gut, dass ihre Probleme wichtig genommen wurden. Mutig fuhr sie fort:

„Mein Arbeitgeber hätte mich gerne wieder genommen. Man hat mir aber klar gemacht, dass ich Ãœberstunden machen muss. Außerdem müsste ich häufig abends arbeiten.“ Chiara atmete tief durch.

„Als Schneiderin verdient man nicht viel. Ich kann mir eine Tagesmutter nicht leisten.“

„Dann geht auch kein privater Kindergarten, die häufig bessere Zeiten anbieten,“ bemerkte Frau Vogt: „Ich sehe, sie haben auch ein paar Semester studiert. Lässt sich darauf nichts aufbauen?“

„Ich weiß nicht. Da müsste ich mich erst erkundigen. Vor allem muss ich erst mal verdienen, dann kann ich weiter sehen.“ In Chiara stiegen die Tränen hoch und sie begann zu weinen. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Ehe sie das Päckchen gefunden hatte, reichte ihr Frau Vogt ein Papiertaschentuch. Chiara dankte und wischte die Tränen fort. „Entschuldigen sie,“ schniefte sie. Es dauerte einen Moment. Frau Vogt stand auf, um Chiara ein Glas Wasser zu holen. Sie hatte kräftige Beine mit Gesundheitsschuhen an den Füßen. Chiara trank einige Schlucke Wasser und fuhr fort:

„ Ich muss so schnell wie möglich Geld verdienen. Wenn ich bis Monatsende meine Stromrechnung nicht bezahle, drehen sie mir das Licht ab.“

„Wenn es so schlimm ist, warum bitten sie nicht irgendwelche Verwandte ihnen auszuhelfen?“

„Ich habe hier keine. Mein Bruder arbeitet auf einem Schiff und meine Großmutter hat auch nicht genug.“ Frau Vogt schob die Blätter des Antrags zusammen.

„Was ist mit dem Vater des Kindes?“ Erkundigte sie sich.

„Da ist gar nichts zu erwarten.“ Chiara stellte ihre Tasche auf den Boden: „Er hat mir sogar gedroht für den Fall, dass ich den Unterhalt für etwas anderes als das Kind verwende.“

„Was macht ihr Mann denn?“ Frau Vogt berührte die Verzweiflung der jungen Frau.

„Der hat auf meine Kosten studiert und ist jetzt Anwalt für europäisches Steuerrecht.“

„Das höre ich immer wieder,“ bemerkte Frau Vogt. Hier hat der Staat noch vieles zu tun, dachte sie. Laut sagte sie:

„Haben sie ihren Mann schon mal gefragt, ob er sich an der Erziehung beteiligt?“

„Er teilt das Sorgerecht mit mir. Außerdem besucht er Lilly jedes zweite Wochenende. Sie gehen dann in den Zoo oder machen Ausflüge.“

„Eigentlich meinte ich, dass er sich um Lilly kümmert, wenn sie arbeiten.“ Chiara riss Augen und Mund auf. Als sie das bemerkte, klappte sie den Mund wieder zu.

„N-N-Nein,“ stotterte sie: „So einen Gedanken hatte ich noch nie.“

„Jaja, die alte Denkweise, dass Frauen zu Hause bleiben und die Männer Geld verdienen.“ Frau Vogt nahm einen Kugelschreiber zu Hand und malte gedankenverloren Kreise auf ein leeres Blatt Papier.

„Wer sagt ihnen denn, dass es so bleiben muss?“ Jetzt sah Frau Vogt Chiara voll in das Gesicht. Sie sah nur Ratlosigkeit.

„Wenn sie zum Beispiel drei Tage in der Woche arbeiten, dann haben sie den Rest für Lilly. Ihr Mann arbeitet auch drei Tage und so ist es gerecht verteilt. Was meinen sie?“ Frau Vogt malte jetzt Männchen.

„Wenn sie volle Tage arbeiten können, finden sie leichter eine Stelle.“ Chiara schluckte:

„Das muss ich mir durch den Kopf gehen lassen.“

„Ich werde ihnen jetzt Arbeitsangebote ausdrucken,“ sagte Frau Vogt.

„Von Schneidereien und Kaufhäusern. Ich denke, ich habe noch einige Boutiquen dabei.“ Sie schaute auf ihren Computer und gab Befehle ein. Der Drucker begann zu schnurren. Er spuckte in schneller Folge mehrere Blätter Papier aus. Frau Vogt fegte sie zusammen und überreichte sie Chiara.

„Bewerben sie sich überall. Das eine oder andere wird sie nicht interessieren. Aber so lernen sie ihre Möglichkeiten kennen.“ Sie reichte Chiara die Hand um sie zu verabschieden:

„Ich hoffe sie haben viel Erfolg. Es würde mich interessieren, wie sie zurecht kommen. Ach, ehe ich es vergesse, sollten sie das Geld für die Stromrechnung nicht rechtzeitig zusammen bekommen, wenden sie sich an das Sozialamt. Die helfen aus und sie können es dort zurück zahlen.“

„Ich danke ihnen,“ sagte Chiara. Am liebsten hätte sie Frau Vogt umarmt. So drückte sie nur fest die dargebotene Hand. Zufällig schaute sie auf das Blatt Papier mit den Kreisen. Sie entdeckte Galgenmännchen darauf. Chiara nahm ihre Tasche von Boden und verlies das Büro.

 

                                                                        ***

 

In der Massagepraxis lief leise Entspannungsmusik. Die Türglocke hatte geläutet, als Chiara eingetreten war. Sie hörte ihre Freundin Melanie mit einem Kunden plaudern.

„Ich bin es,“ rief Chiara. Sie ging durch in die Küche und nahm sich eine Tasse Kaffee. An dem kleinen Tisch nahm sie Platz. Die Arbeitsangebote zog sie aus ihrer Tasche. Langsam sah sie sie durch. Das eine oder andere interessierte sie. Einiges war ihrer Meinung nach wirklich unbrauchbar. Sie nahm sich vor, alle aufzusuchen. Frau Vogt hatte Recht. Sie musste ein Gefühl dafür entwickeln.

Es hat sich doch einiges geändert in den letzten Jahren, dachte sie. Chiara hörte, wie Melanie ihren Kunden verabschiedete:

„Einen schönen Tag noch, Herr Waldbauer. Bis zum nächsten Mal.“ Mit einem leisen Pling schloss die Eingangstür. Melanie betrat die Küche:

„Na, wie war es auf dem Arbeitsamt?“ Sie nahm sich ebenfalls einen Kaffee und setzte sich. „Ich habe zehn Minuten Zeit, dann kommt der Nächste.“ Chiara fasste kurz die Lage zusammen. Vom Sozialamt und der Stromrechnung sagte sie nichts, weil sie sich schämte. „Die Sachbearbeiterin hat einen unmöglichen Vorschlag gemacht,“ Chiara machte sinnend eine Pause.

„Ja was denn?“ Melanie war ganz gespannt.

„Sie meinte, ich soll mit Jonas die Betreuung von Lilly teilen. Aber ich gebe doch mein Kind nicht her!“ Empörte sich Chiara etwas. Melanie dachte nach.

„Recht hat sie! Die Beiden verstehen sich doch prima. Es wäre etwas anderes, wenn sie ihren Vater kaum kennen würde. Lass es dir durch den Kopf gehen.“ Die Türglocke ertönte leise. „Da ist er schon, der nächste. Wir reden noch mal darüber. Sage Jakob bitte, er soll das Hähnchen aus dem Froster nehmen. Und ich habe noch einige Sachen für dich zum Ändern.“ Schon war sie verschunden und begrüßte den nächsten Kunden.

 

Chiara fuhr zur Engel -Wohnung. Wie schön die bunten Blätter sind, dachte sie. An einigen Häusern wuchs wilder Wein. Er hatte sein kräftig rotes Herbstkleid angelegt. Das mochte Chiara besonders. Aber die ganze Komposition von verschiedenen Rottönen, gelb, braun und grün, machte das Feuerwerk das Herbstes aus.

 

Chiara fand einen Parkplatz in der Nähe der Wohnung. Sie klingelte an der Haustür. Es dauerte etwas, bis das Summen des Schlosses ertönte. Sie betrat den dunklen Flur des Hauses. Die Wohnungstür war angelehnt.

„Komm herein,“ rief Jakob: „Wir sind im Wohnzimmer.“ Chiara legte in der Diele Tasche und Mantel ab. Mit einem „Hallo,“ betrat sie die Wohnstube.

Jakob und Lilly waren mit einem Puzzle beschäftigt. Als Lilly ihre Mutter sah, sprang sie auf und ihrer Mutter in die Arme. Sie begrüßten sich mit Küssen.

„Wie war es?“ Erkundigte sie Chiara: „Bist du brav gewesen?“ Lilly nickte heftig:

„Und heute morgen bin ich mit zum Kindergarten gegangen,“ erzählte sie. Chiara lies sie wieder herunter und Lilly lief zum Puzzle.

„Hat alles gut geklappt?“ Fragte sie Jakob.

„Natürlich. Lilly ist ein liebes Kind. Sie hat auch gleich geschlafen, nachdem du weg bist.“ Jakob hatte sich erhoben:

„Möchtest du Kaffee oder Tee?“

„Ein Glas Wasser bitte.“

„Komm mit in die Küche,“ Jakob ging voran.

„Wie war es denn?“ Wollte Jakob wissen. Er stellte Gläser auf den Tisch.

„Wasser aus dem Kühlschrank oder warm?“

„Warm bitte,“ Chiara erzählte noch einmal alles.

„Die Idee Jonas mit einzubeziehen finde ich gar nicht schlecht. Das solltest du dir wirklich überlegen.“ Jakob schnitt ein paar Scheiben Baguette ab und stellte eine Kräutercreme dazu. „Du hast bestimmt noch nichts gegessen. Oder willst du lieber etwas Süßes? Marmelade?“ „Nein danke. Deine Kräutercreme ist immer lecker.“

Lilly kam hinzu und kletterte ihrer Mutter auf den Schoß.

„Möchtest du auch etwas?“ Fragte Chiara und schmierte die Creme auf eine Scheibe Baguette. Lilly schüttelte den Kopf:

„Ich habe schon Müsli gegessen. Jakob hat eine Banane hinein getan.“ Vor dem Kind redeten sie nur noch belangloses.

„Ich habe ganz vergessen etwas auszurichten,“ sagte Chiara zu Jakob.

„ Du sollst ein Hähnchen auftauen.“

„Jaja, das habe ich schon. Melanie denkt immer, ich vergesse alles.“ Chiara beneidete die beiden für ihre eheliche Gemeinschaft. Schade, dass es mit Jonas so anders gekommen ist, dachte sie.

„Ich muss wieder los. Danke, dass ihr euch um Lilly gekümmert habt. Kann ich sie in den nächsten Tagen wieder vorbei bringen? Ich möchte mich in den Schneidereien und Geschäften vorstellen.“

„Natürlich, solange ich zu Hause bin, gerne. Lilly macht keine Arbeit.“ Jakob brachte die beiden zur Tür:

„Ãœber die andere Sache reden wir noch mal.“

„Melanie meinte kürzlich, ihr habt wieder Sachen zum Nähen. Wenn ich das nächste mal komme, werde ich meine Nähmaschine mitbringen.“ Sie verabschiedeten sich.

 

5

In den nächsten Tagen schrieb Chiara viele Bewerbungen. Bei einem kleinen Spaziergang mit Lilly warf sie die Briefe ein. Bevor sie sie in den Kasten fallen ließ, wünschte sie ihnen viel Erfolg.

Jetzt hieß es warten.

Für die Kinder nähte sie aus alter Kleidung Halloween Kostüme. Die Maße für Laura und Luis hatte sie im Kopf. Anprobieren mussten sie sie aber doch noch. Dafür kam Jakob mit den Kindern zu Chiara. Die Kleinen freuten sich schon sehr auf das Fest. Sie konnten es kaum erwarten. Laura und Lilly gingen als Lumpenprinzessinnen. Luis wurde ein Geist. Das war das einfachste Kostüm. Das Schminken würde Melanie übernehmen.

 

Eines Morgens ging Chiara mit Lilly zum Sozialamt. Für diesen Monat war mit einer Arbeit nicht mehr zu rechnen. Sie durchlief die ganze beschämende Prozedur der Anmeldung. Dann saß sie einem Sachbearbeiter gegenüber. Herr Koch war sehr groß und kräftig. Vor ihm wurden die Bittsteller immer klein. Er trug einen braunen Anzug mit hellgrünem Hemd. Kein Schlips, dafür offener Kragen. Er hörte sich Chiaras Klage an.

„Zeigen sie mir bitte den Brief von den Stadtwerken.“ Er las ihn durch. Die anderen Papiere von Chiaras Verhältnissen hatte er schon vorliegen. Er sah, dass Chiara nicht eine Person war, die auf Staatskosten leben wollte. Er machte es kurz:

„Wir bewilligen Ihnen den fälligen Betrag. Sie werden ihn in den nächsten Monaten in Raten zurück zahlen. Gibt es sonst noch etwas?“ Herr Koch war erfahren in diesen Dingen.

„Wenn sie mich so fragen...“ Chiara schilderte die Sache mit der Miete. Eigentlich war es ihr lieber, ihre Freunde nicht behelligen zu müssen. Herr Koch schlug die Sache mit der Miete noch dazu.

„Sonst noch etwas?“ Chiara holte tief Luft:

„Ich bräuchte unbedingt eine neue Batterie für mein Auto. Es startet immer schlechter, je kälter es wird. Einbauen kann sie ein Bekannter.“ Jakob machte kleine Reparaturen, wenn nötig. Herr Koch nickte zufrieden. Manch anderer hätte die Kosten für die Werkstatt beantragt und es dann selbst oder von Freunden einbauen lassen.

Als Chiara das Amt verlies, atmete sie auf. Das Weitere wird sich auch finden, dachte sie.

Einige Tage später war das Geld, wie angekündigt auf ihrem Konto und Chiara zahlte die dringensten Schulden.

Jakob kaufte die Batterie und baute sie ein. Jetzt startete der Motor ohne Probleme. Er erinnerte sie daran, dass der TÜV im nächsten Frühjahr fällig war. Daran wollte Chiara jetzt nicht denken. Bis dahin ergibt sich etwas, hoffte sie.

 

Vom Arbeitsamt erhielt sie immer neue Arbeitsangebote und Chiara bewarb sich auf jeder Stelle. Auch wenn sie dachte, das werde ich nie machen. Andererseits, man musste der Stelle und sich selbst eine Chance geben.

Dann begannen Briefe einzutrudeln. Sie erhielt Vorstellungstermine und Absagen. Die Absagen heftete sie in einen Ordner, um sie dem Arbeitsamt vorzulegen.

 

                                                                        ***

 

Dann hatte sie das erste Vorstellungsgespräch.

Chiara bereitete alles sorgfältig vor. In der Stadtbücherei hatte sie sich Bücher besorgt.

„Die richtige Vorstellung“ usw. Sie hatte mit Jakob und zu Hause vor dem Spiegel geübt. Die Kleidung sorgfältig zusammen gestellt. Am Vorstellungstag Lilly zu Jakob gebracht.

 

Nervös und mit feuchten Händen saß sie am Steuer. Der Verkehr erschien ihr überlaut. Kein Parkplatz war zu finden. Sie wurde immer unruhiger. Gut, dass sie früh genug losgefahren war. Da, dort fuhr ein Auto heraus und Chiara schnappte sich die Parklücke.

Sie musste noch ein paar Meter bis zu dem Geschäft laufen. Ein paar Mal tief durchatmen, dachte sie, um sich zu beruhigen.

Sie betrachtete die Auslagen in den beiden Schaufenstern. Kleidung in der obersten Preisklasse. Etwas langweilig. Die Kunden waren bestimmt ältere Semester.                

 Etwas entspannter betrat Chiara den Laden. Er lag auf der Hauptgeschäftsstraße und war sehr schick. Chiara ging auf eine Angestellte zu. Sie fragte sie nach der Geschäftsführung. Die Angestellte sah an ihrer einfachen Kleidung herab. Hochnäsig sagte sie:

„Durch die hintere Tür, links, dritte Tür rechts.“ Damit ließ sie Chiara stehen und widmete sich einem Stapel Pullover in einem Regal.

Chiara fand die angegebene Tür und klopfte an. Auf ein „Herein“ drückte sie die Klinke herunter und öffnete.

Der Raum war ein Arbeitszimmer mit einem großen Schneidertisch in der Mitte. Darauf lagen auf einer Seite Ballen von Stoffen. Zugeschnittene Stücke stapelten sich auf der anderen. Zwei Frauen stritten sich lautstark über einem Zuschnitt.

Oh weh, dachte Chiara, gleich prügeln sie sich. Unter dem Tisch lagen Stoffreste und Wollmäuse. Kästen standen herum. An den Wänden waren Regale. Teilweise unordentlich bestückt, teilweise leer. Jetzt sah sie in einer Ecke einen weiteren Tisch. Ein Computer stand darauf. Ein Mann in sehr lässiger Kleidung saß davor. Für Chiaras Empfinden war er schlampig.

„Kommen sie her,“ rief der Mann ihr zu. Chiara gab sich einen Ruck und ging an den streitenden Frauen vorbei. Sie schenkten ihr keinerlei Beachtung.

Der Mann begrüßte Chiara mit Handschlag. Seine Hand war kalt und feucht. Der Händedruck lasch. Wie nasser Fisch, dachte sie. Sie ließ schnell los.

„Ich bin Herr Schneider. Nomen est Omen.“ Er lachte über seinen Witz. Den bringt er bestimmt überall an, dachte Chiara.

„Hier, nehmen sie sich den Stuhl.“ Er deutete auf einen Stuhl in der Ecke. Er war beladen mit halbfertiger Kleidung. Beherzt nahm sie das Bündel herunter und legte es auf den Tisch. Neben den Computer. Dann nahm sie den Stuhl und stellte ihn in passende Nähe. Nicht zu weit, nicht zu nah!

„Sie bewerben sich also um die Stelle der Schneiderin,“ er beugte sich leicht vor. Chiara nahm Mundgeruch wahr. Sie lehnte sich etwas zurück.

„Ja,“ sagte sie schlicht.

„Wo haben sie bisher gearbeitet?“ Fragte er. Chiara sagte es ihm. Hier würde sie nicht arbeiten, dachte sie. Deshalb war es egal, wie sie reagierte. Er nannte ihr die Arbeitszeiten. Sie waren für eine alleinerziehende Mutter unmöglich. Sie unterhielten sich noch etwas.

„Sie werden von uns hören,“ sagte Herr Schneider abschließend. Chiara nahm allen Mut zusammen:

„Wir haben noch nicht über das Gehalt gesprochen,“ sagte sie. Herr Schneider sah sie an, als hätte sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht. Die beiden Frauen verstummten. Sie sahen zu ihr herüber. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

„Wir zahlen sehr gut in der Branche,“ empörte sich Herr Schneider. Von den Frauen war jetzt Kichern zu hören. Er bedachte sie mit einem bösen Blick. Sofort herrschte wieder Ruhe. Er wandte sich Chiara zu:

„Es kommt darauf an, wie sie arbeiten. Natürlich fangen sie mit einem niedrigen Lohn an. Sie haben die Chance sich hoch zu arbeiten.“

„Wie viel?“ Fragte Chiara nur.

„Na ja, am Anfang sind es satte 3,50 Euro.“ Er sah ihren entsetzten Blick.

„Aber dann wird es schnell mehr,“ fügte er hinzu. Am anderen Tisch begann leises Geflüster. Herr Schneider wollte die Sache schnell hinter sich bringen:

„Ich muss mich mit meinen Geschäftspartnern beraten. Sie hören von uns.“ Schneller als sie gekommen war, verließ Chiara das Geschäft. Für die hochnäsige Verkäuferin hatte Chiara nur Bedauern übrig.

 

Diesem Gespräch folgten noch viele. Gesucht wurden Leute, die sich mit billigem Lohn abspeisen ließen. Es war zum Verzweifeln. So konnte sie sich nicht ernähren. Außerdem kosteten die Kindergärten zu viel. Dann gab es noch die langen Wartelisten. Nur der städtische Kindergarten musste jedes Kind aufnehmen. Es war nicht mehr als eine Verwahranstalt. Das hätte Chiara noch für ein paar Monate in Kauf genommen. Aber auch er war noch zu teuer.

Sie rechnete hin und her. Für diese dürftigen Löhne konnte sie nicht arbeiten. Wie wäre es, weiter zu studieren?, überlegte sie. Aber wovon leben?

 

                                                                        ***

 

Halloween war gekommen. Chiara und Lilly waren am späten Nachmittag zu den Engeln gefahren.

Die Kinder hatten ihre größte Freude bei den Nachbarn ihr Sprüchlein zu sagen. Belohnt wurden sie mit Süßigkeiten. Sie sammelten sie in kürbisähnlichen Papiertaschen.

Danach waren sie in der Wohnung beschäftigt, ihre Schätze zu zählen und zu begutachten. Melanie und Chiara bereiteten in der Küche das Abendessen vor.

„Wie weit bist du mit der Stellensuche?“ Fragte Melanie. Chiara schilderte ihr ihre Probleme. „Du solltest dir wirklich überlegen Jonas einzubeziehen.“ Melanie rührte das Chili con Carne durch.

„Nächste Woche kommt unser Au Pair und Jakob arbeitet dann wieder in der Praxis mit. Wie es dann mit Aufpassen klappt, muss sich finden.“ Chiara seufzte. Melanie fragte:

„Was ist daran so schwer Lilly von ihrem Vater hüten zu lassen? Er hat mehr Pflichten, als nur zu zahlen. Am Wochenende spielt er dann den Superpapa. - Steht er nachts auf, wenn die Kleine Bauchweh hat? Tröstet er sie, wenn sie sich beim Spielen verletzt hat? Verteidigt er sie, wenn die Kinder auf dem Spielplatz unverschämt sind? Wo ist er da als Papa?“ Melanie hatte sich in Rage geredet. Chiara senkte den Kopf. Melanie hatte so recht.

„Wie soll es denn gehen?“ Fragte sie leise.

Melanie schien es sich schon ausgerechnet zu haben.

„Jeder kümmert sich drei Tage um Lilly. Du von Montag bis Mittwoch. Dann arbeitest du von Donnerstag bis Samstag. Samstag zu arbeiten ist in deiner Branche üblich. Samstag hat Jonas das Büro zu. Dafür bekommt er die ersten drei Tage. Den Sonntag teilt ihr euch, wie bisher.“ Melanie hatte die Hände in die Hüften gestützt. Sie schaute ihre Freundin herausfordernd an. „Wenn das so klappen würde,“ meinte Chiara: „Wäre das vielleicht machbar.“

„Das ist sehr gut machbar!“ Beharrte Melanie.

„Du hast eine große Wohnung. Du kannst Arbeit mit nach Hause nehmen. An deinen Lillytagen kannst du etwas zuhause tun.“

„Eigentlich hast du recht,“ Chiara gefiel der Gedanke. Bei den vielen Vorstellungsgesprächen hatte sie gesehen, dass ein großer Bedarf an guten Näherinnen bestand. Nur die Bezahlung war schlecht. Vielleicht konnte sie nebenher etwas eigenes aufbauen?

„Ich werde Jonas schreiben und es ihm anbieten.“

„Gar nichts anbieten wirst du.“ Melanie kam in Fahrt.

„Schreibe ihm, wie es in Zukunft laufen wird und ab wann du ihm das Kind bringst. Dann kann er nicht behaupten, dass du ihm überfahren hättest.“

„Dann muss ich auf den Unterhalt verzichten.“

„Das kannst du locker, wenn du eigenes Geld hast. Einfach probieren. Wenn es nicht geht, kannst du immer wieder in den alten Zustand zurück kehren.“ Melanie stand wie eine zornige Göttin am Tisch. Ihr offenes, rotes Haar sprühte Blitze. Chiara begann zu lachen. Sie umarmte ihre Freundin:

“So wird es gemacht.“ Es wurde ein vergnügter Abend.

 

 

 

6

Am nächsten Tag schrieb Chiara den Brief an Jonas. Sie kündigte ihm an, dass er sich künftig mehr um Lilly würde kümmern müssen. Sobald sie eine Arbeit gefunden hätte.

Zwei Tage später kam der Brief an. Manon öffnete den Brief und las. Sie ging sofort zu Jonas, um ihm von der Unverschämtheit seiner Ex zu informieren. Jonas las das Schreiben stirnrunzelnd. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Außerdem war er nicht damit einverstanden.

„Schreibe ihr, dass das nicht geht,“ sagte er zu Manon.

„Schließlich habe ich hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. – Schneiderin? Pfff.“ Er warf den Brief  auf den Schreibtisch:

„Sie kommt doch nie zu Potte. Auf Knien wird sie mich um den Unterhalt anflehen.“ Jonas war angewidert.

„Eine Frau mit Kind hat zu Hause zu bleiben.“ Hoch zufrieden nahm Manon den Brief und warf ihn an ihrem Schreibtisch in den Papierkorb. Einen Moment lang dachte sie nach. Dann griff sie zu dem Telefonhörer.

„Gerke, Rezeption,“ meldete sich eine helle Stimme.

„Meier hier, Büro Winkler. Gut dass ich sie antreffe, Frau Gerke. Sollte sich in der nächsten Zeit eine Frau Chiara Vogelsang bei Ihnen melden, lassen sie sie nicht vor.“

„Eine Persona non grata,” sagte Frau Gerke.

„Wie bitte?“ Schnappte Manon.

„Eine unerwünschte Person,“ erklärte Frau Gerke.

„Ja, ganz genau. Eine unerwünschte Person,“ wiederholte Manon nachdenklich und legte auf. Für Gabriele Gerke war Manon ein Vorbild. Gut aussehend, stylisch, erfolgreich. Sie würde genau ausführen, was Manon wünschte.

 

                                                                        ***

 

Chiara und Lilly waren zur Begrüßungsfeier des Au Pair eingeladen. An einem Samstag. Das Mädchen war schon am mittwochs gekommen. Sie sollte sich aber etwas einleben, bevor man sie mit Freunden und Bekannten vertraut machte.

Melanie stellte sie vor:

„Das ist Branca Almeria Nunes da Gloria.“ Sie hielt einen Moment inne.

„In Portugal sind lange Namen üblich,“  erklärte sie dann. Branca war ein junges Mädchen. Von Melanie erfuhr Chiara später, dass sie siebzehn Jahre alt war. Sie war klein und schmal. Lange, schwarze Haare umrahmten ein zartes Gesicht. Hervorstechend waren die dunklen Augen mit langen dichten Wimpern und dicken, wulstigen Brauen. Da haben wir viel Arbeit, dachte Chiara. Sie betrachtete die kleine Nase, den vollen Mund. Den Damenbart dazwischen. Sie trug altmodische aber sehr hübsche Ohrringe aus Aquamarin. Sie waren wie Tropfen geformt und in Gold gefasst. Chiara sah hinab auf ihre Tasche, die sie noch auf ihrem Schoß festhielt. Das Mädchen musste sich vorkommen wie eine Kuh auf dem Viehmarkt, dachte sie. Sie nahm das kleine Willkommensgeschenk heraus. Es war eine kleine Schmuckschatulle in der Form Portugals. Auf dem Deckel waren Städte und Flüsse farbig aufgemalt. Chiara hatte sie vor langen Jahren auf einem Flohmarkt gefunden.

„Hier, das habe ich ihnen als kleines Willkommen mitgebracht.“ Sie hoffte, dass das Mädchen das verstehen würde.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie jetzt in bestem Deutsch.

„Einen Abraco.“ Sie umarmte Chiara und küsste sie auf jede Wange.

„Das ist in Portugal üblich bei Begrüßungen unter Frauen und Bekannten,“ erklärte Melanie. „Wieso können sie so gut deutsch?“ Fragte Chiara.

„Sie können du und Branca zu mir sagen,“ antwortete sie:

„Mein Großvater kam als Gastarbeiter nach Deutschland. Mein Vater hat hier noch studiert, bevor sie in die Heimat zurück gingen. Wir sprechen viel deutsch zu Hause und ich will mich verbessern. Vielleicht studiere ich auch hier.“ Chiara staunte. 

„Sag´du auch du und Chiara zu mir. Meine Urgroßmutter stammte aus Mailand. Von ihr habe ich meinen Namen erhalten. Wir sind alle Europäer.“ Die Kinder hatten sich bereits ins Kinderzimmer verzogen.

Jakob deckte den Kaffeetisch im Esszimmer. Das Esszimmer wurde nur zu besonderen

Gelegenheiten benutzt.

Die Frauen schnitten in der Küche die Kuchen auf. Branca hatte einen Flan gekocht.

Sie trugen alles auf und riefen die Kinder. Diese stürzten sich mit Begeisterung auf die Leckereien. Als sie satt und zufrieden waren, kehrten sie zu ihren Spielen ins Kinderzimmer zurück.

Die Erwachsenen hatten viel zu erzählen. Vor allem Branca konnte von ihrer Heimat und Bräuchen berichten. Rezepte wurden ausgetauscht. Jetzt war für Jakob die Zeit gekommen sich mit einem Buch zurück zu ziehen. Das ist Frauensache, dachte er.

Der Nachmittag war erfolgreich. Chiara klärte mit Melanie und Branca das Babysitten von Lilly. Das würde sie gerne zeitweise übernehmen.

Nach dem Abendessen fuhren Chiara und Lilly nach Hause.

Am Montag wollte sie wieder zu einem Vorstellungsgespräch gehen. Sie hatte einige Angebote bekommen. Nichts passte ihr. Soviel Zeit wollte sie sich lassen. Einmal auf der falschen Spur, kam man so schnell nicht wieder auf das richtige Gleis. Es sollte aber etwas Dauerhaftes werden.

 

                                                                        ***

 

Montag morgen zog Chiara sich gut an. Lilly brachte sie zu Branca. Danach fuhr sie zu dem Vorstellungsgespräch.

Es war ein kleines Geschäft in einer Seitenstraße. Zwei große Schaufenster rahmten die Tür ein. Sie war etwas zurück gesetzt über zwei Stufen zu erreichen.

In einen Schaufenster stand eine Schneiderpuppe. Sie war drapiert mit einem üppigen Brokatstoff in grün und Gold, der aus einem Ballen zu ihren Füßen quoll. Daneben stand eine große, schmale Vase mit zwei Henkeln, in schöner Bemalung. Darin war ein Bukett von Herbstgewächsen. Chiara erkannte Feuerdorn, Hagebutte, Pfaffenhütchen und Efeu. Das andere kannte sie nur vom Sehen.

In dem anderen Schaufenster standen Kleiderpuppen als Familie in schöner Herbstwanderkleidung. Auch hier bildeten Sträucher einen Rahmen. Eine Holzbank stand im Hintergrund.

Chiara betrat mit klopfendem Herzen den Laden. Eine altertümliche Glocke hing über der Tür und bimmelte laut, als sie die Tür öffnete.

„Ich komme sofort,“ rief eine weibliche Stimme aus einem angrenzenden Raum.

„Lassen sie sich Zeit. Ich warte gerne,“ antwortete Chiara. Sie sah sich in dem Laden um. Er war nicht sehr groß. Vor der Rückwand stand ein altmodischer Tresen. Er hatte viel Platz zum Zuschneiden von Stoffen. Eine Zentimetereinteilung war eingeritzt und abgegriffen. Auf der einen Seite stand eine Registrierkasse aus Omas Zeiten, mit Knöpfen zum Eingeben. Daneben lag eine Armklemme mit Stecknadelpolster, Bandmaß und Schneiderschere. Ein Spiralblock und Kugelschreiber. Vorn war der Tresen verglast und gab den Blick frei auf Schubladen mit Nähzubehör. Knöpfe, Bänder, Spitze, Garne usw.

An der Rückwand des Ladens waren Regale. Sie waren gefüllt mit Stoffballen. Es machte Chiara Freude die vielen Farben und Muster zu betrachten. An den Seiten befanden sich weitere Regale mit zusammengefalteter Kleidung. Pullover, Blusen, Hemden, Jeans.

 

Ein dreieckiges Tischchen stand davor zwischen zwei Sesselchen, bezogen mit hellgrünem Bouclestoff. Auf dem Tischchen lag eine Tageszeitung. Bestimmt für die wartenden Herren, dachte Chiara schmunzelnd. Gegenüber stand eine Schneiderpuppe mit halbfertigem Damenjackett und Rock. Daneben eine Umkleidekabine, mit dickem braunen Samtvorhang.

Chiara hörte Geräusche aus dem angrenzenden Raum. Sie wird mich doch nicht vergessen haben, dachte sie.

Dann bimmelte die Türglocke. Chiara sah sich um. Gleichzeitig ertönte wieder die Stimme: „Ich komme gleich.“ Eine kleine korpulente Frau war eingetreten. Sie trug einen wadenlangen, braunen Nerzmantel. Auf dem Kopf hatte sie einen rotbraunen Hut aus Filz mit Krempe. Weißgraue Löckchen schauten darunter hervor. Das alte, runzlige Gesicht war bemalt. Knallrote Lippen, rosa Rouge. Ãœber weißen Augenbrauen war ein dicker schwarzer Brauenbogen aus Kajal gemalt. Dicke Perlen hingen an schlaffen Ohrläppchen herunter. Sie war eine Karikatur ihrer selbst. In einer Hand trug sie einen prall gefüllten, großen, weißen Plastikbeutel.

„Das dauert hier so lange,“ brummte sie: „Draußen wartet mein Fahrer im Halteverbot.

Nicht, dass mir ein Strafzettel etwas ausmachen würde, aber ich muss unbedingt zum Frühstück in den Bayrischen Hof. Dort warten meine Freundinnen.“

„Um was geht es denn?“ Fragte Chiara breit lächelnd.

„Um Änderungen,“ sagte die Frau.

„In den anderen Läden ändern sie nur ihre eigenen Sachen, die sie verkaufen.“ Sie legte den Beutel auf den Tresen.

„Ich habe etwas zugenommen. Diese Sachen habe ich zusammen mit meinem Mann in Paris gekauft. Er ist letztes Jahr verstorben. Da möchte ich als Erinnerung die Sachen weiter tragen.“

„Lassen sie mal sehen,“ äußerte Chiara und breitete die Sachen auf dem Tresen aus. Es waren wunderschöne, hochwertige Kleidungsstücke von namhaften Couturiers. Ein Stück davon war teurer als der Inhalt von Chiaras ganzem Kleiderschrank. Chiara ließ die weichen Stoffe durch die Hände gleiten.

„Einfach blind vergrößern kann man das nicht. Am besten sie gehen in die Kabine und ziehen die Oberbekleidung aus. Dann werde ich sie messen und wir schauen dann, wie viel heraus gelassen werden muss.“

Plötzlich war keine Rede mehr von den wartenden Freundinnen. Chiara half der Dame aus dem Mantel und hängte ihn an die Garderobe. Sie nahm das Bandmaß, Block und Stift von Tresen. Als die Frau rief:

„Ich bin soweit,“ ging Chiara in die Umkleidekabine. Sie vermaß sie sorgfältig.

„Nicht den Bauch einziehen,“ sagte sie tadelnd: „Sonst passt es wieder nicht. Sie wollen sich in den Sachen doch wohlfühlen.“

Als sie fertig war, forderte sie die Dame auf sich wieder anzuziehen.

„Wenn sie fertig sind, gehen wir die Stücke einzeln durch und planen, wie und was wir ändern können.“

Die Geräusche aus dem Nebenraum waren verstummt. Chiara merkte es nicht. Sie war in ihrem Element.

Die Frau trat aus der Kabine. Gemeinsam besprachen sie jedes einzelne Teil. Eine ältere, sehr gepflegte Dame, war leise aus dem Nebenraum getreten. Unbemerkt hörte sie zu.

„Hier ist genug Stoff zum Auslassen,“ sagte Chiara gerade. Sie hatte unter das Futter einer Diorjacke gesehen.

„An diesem Stück von Gucci müssen wir etwas einsetzten. Ich denke, wir werden das Passende finden. Es wird nicht auffallen. Wenn alle Stücke vorbereitet sind, kommen sie zur Anprobe. Sie sollten allerdings ein bisschen Zeit mitbringen. Wie heißen sie, wenn ich fragen darf?“ Chiara war bereit den Namen auf den Block zu schreiben.

„Christina Baronin von Weidenmann.“ Chiara erstarrte während des Schreibens. Sie hatte schon von der Familie gehört. Sie waren ausnehmend reich. Schnell schrieb sie weiter:

„Ihre Telefonnummer bitte.“ Die Baronin nannte sie ihr.

„Wir werden uns so schnell wie möglich bei Ihnen melden,“ versprach Chiara und half ihr in den Mantel. Sie begleitete die Baronin zur Tür und öffnete sie ihr.

„Es hat mich gefreut sie kennen zu lernen,“ sagte sie.

„Ich mich auch,“ lächelte die Baronin sie an. Dann stieg sie die Stufen hinunter. Vor der Tür stand ein Rolls Royce. Der Fahrer wartete an den Wagen gelehnt. Als er sah, dass seine Chefin aus dem Laden trat, riss er den Wagenschlag auf.

Umständlich stieg die Baronin ein und winkte Chiara kurz zu. Diese winkte zurück. Als der Wagen davon gefahren war, schloss sie die Tür. Die Glocke bimmelte. Chiara drehte sich um. Vor dem Tresen stand eine mittelgroße, schlanke Frau mit weißer Kurzhaarfrisur in grauem Schneiderkostüm. Sie sagte:

„Sie sind eingestellt!“ Chiara war sprachlos.

„Wenn sie mögen,“ schob die Frau nach.

 

                                                                        ***

 

Chiaras erster Weg führte zu Ihrer Freundin Melanie in die Praxis. Sie konnte es kaum erwarten, bis Melanie mit ihrer Patientin fertig war und einen Moment Zeit hatte. Dann erzählte sie haarklein, was sich in dem Laden zugetragen hatte. Jakob kam hinzu und hörte, wie Chiara von der Baronin erzählte.

„Da hast du schon einen dicken Fisch für das Geschäft geangelt. Vielleicht lassen die Freundinnen der Baronin auch bei dir arbeiten,“ meinte er.

„Ja. Eigentlich macht Frau Rosenberg, die Besitzerin des Ladens, keine Änderungen von Sachen, die sie nicht verkauft hat. Aber als sie hörte, wer diese Kundin war, hatte sie keine Einwände mehr. Ich fange nächste Woche an zu arbeiten. Ich freue mich ja so.“ Melanie umarmte ihre Freundin:

„Du wirst sehen, alles wird gut.“

 

Zuhause bereitete Chiara alles für ihren ersten Arbeitstag vor.

Das Wichtigste war, Lilly darauf vorzubereiten, dass sie in Zukunft eine halbe Woche bei ihrem Vater verbringen würde. Lilly war begeistert. Schließlich kannte sie ihn als Unterhaltungspapa, der ihr jeden Wunsch erfüllte. Sie packten gemeinsam die Sachen. Wäsche, Toilettenartikel, Spielsachen, Kinderbücher. Lilly hatte außer einer Zahnbürste und Zahnpasta auch ihre eine eigene Haarbürste; Haarspangen und Bänder, Badeschaum, Shampoo usw. Natürlich Puppe, Stofftiere und das Reisebett. Schließlich sollte Lilly

bei ihrem Vater übernachten. Es könnte ihm sonst einfallen Lilly abends zurück zu bringen und nicht wieder zu nehmen.

Diese Idee hatte die praktisch denkende Melanie gehabt. Außerdem war es für Chiara einfacher, wenn sie solange arbeiten konnte, wie sie musste oder wollte.

Chiara dachte mit Wehmut daran, dass sie nun einige Tage in der Woche alleine war. Andererseits war es das Beste. Es hatte schon mit Loslassen zu tun.

Am Abend zuvor packte Chiara das Reisebettchen in das Auto. Der Rest würde am nächsten Morgen folgen.

Chiara schlief schlecht. Sie wusste nicht, wie Jonas reagieren würde. Schließlich hatte er nicht auf ihren Brief geantwortet. Die Trennung von Lilly belastete sie. Außerdem wusste sie nicht, was auf der neuen Stelle auf sie zukam. Die Kleidung der Baronin musste sie ändern. Das war ihre erste Aufgabe und ihr Test.

Gerädert stand sie auf, bevor der Wecker klingelte. Mit einer Tasse Tee setzte sie sich im Dunkeln an das Fenster und beobachtete das Erwachen der Straße. Frau Müller aus dem Erdgeschoss war mit ihrem Waldi auf dem ersten Tagesspaziergang. Ein Mann trat aus dem Haus gegenüber. Er reinigte sein Auto vom Nebel, stieg ein und fuhr davon. Der Stadtbus hielt an der Haltestelle. Die Bäckerei hatte ihre ersten Kunden.

 

Chiara weckte ihre Kleine.

„Fahre ich heute zu Papa?“ Sie war gleich hellwach und begeistert.

„Ja, mein Schatz. Heute gehst du zu Papa und am Sonntag sehen wir uns wieder. Sollen wir dann zusammen Kuchen backen?“

„Oh, ja. Ich freue mich so.“ Sie schlang ihrer Mutter sie Arme um den Hals.

„Dann wollen wir uns mal schön fertig machen. Danach gibt es Frühstück und dann gehen wir los.“

 

Chiara war sehr beklommen zumute, als sie zum Büro von Jonas fuhr. Wie würde er sie empfangen? Er hatte nicht geantwortet. Hatte er den Brief erhalten? Unwahrscheinlich, dass es nicht so war. Oder hatte ihm seine Sekretärin den Brief vorenthalten? Egal, sie würde es sehen, wenn sie dort war.

Chiara fand unerwartet schnell einen Parkplatz. Lieber hätte sie länger gesucht.  Dann dachte sie, es muss sein. Je länger ich es vor mir her schiebe, umso schwerer wird es.

Sie packte die Sachen aus dem Auto und trug sie in die Empfangshalle. Als alles beisammen war, schleppte sie sie zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Lilly zog ihren kleinen, rosa Caddy hinter sich her. Ihren Teddy im Arm.

Gabriele Gerke staunte nicht schlecht. Sie kannte Chiara  nicht. Was soll das, dachte sie:

Ist das Knorzels Umzug? 

Laut fragte sie Chiara, zu wem sie denn wolle.

„Zu Jonas Winkler,“ erwiderte Chiara.

„Wer sind sie denn?“

„Chiara Vogelsang“.

 „Tut mir leid,“ sagte Frau Gerke rasch.

„Ich darf sie nicht vorlassen.“ Ihre Stimme war laut und erregt. Lilly begann zu weinen und schmiegte sich an ihre Mutter. 

„Warum nicht?“ Chiara wurde ärgerlich und legte den Arm beruhigend um das Kind. „Anweisung vom Büro Winkler.“

„Das ist mir egal. Ich fahre jetzt hinauf und sie können mich nicht daran hindern!“ Die Aufzugtüren öffneten sich und Chiara schubste Lilly hinein. Das Gepäck hinterher. Frau Gerke griff zum Telefonhörer. Sie wollte Manon Bescheid geben.

Frau Holzer war unbemerkt hinzu gekommen. Jetzt bückte sie sich und zog den Telefonstecker aus der Dose. Wegen dieses Geräusches fuhr Gabriele Gerke herum.

Frau Holzer schwenkte lächelnd den Stecker vor ihrer Nase herum.

„Was soll das?“ Fauchte Gabriele Gerke.

„Wir haben Anweisung diese Frau Vogelsang nicht hinauf zu lassen.“

„Sie vielleicht, ich nicht. Sie wissen nicht, dass das eben Jonas Winklers Exfrau und Tochter sind. Manon hat sie auseinander gebracht. Ich werde jetzt das Telefon wieder einstecken und sie werden Manon nicht informieren. Wir halten uns aus den privaten Sachen von Winklers heraus. Ist das klar?“ So hatte Frau Holzer noch nie mit Gabriele Gerke gesprochen. Sie gab klein bei.

 

7

Im Flur trug Chiara alle Sachen aus dem Lift zur Bürotür. Lilly neben sich klopfte sie an. „Herein,“ ertönte Manons Stimme. Sie erwartete den ersten Kunden des Tages. Chiara öffnete und trat mit Lilly ein. Manon fuhr empört von ihrem Sessel hoch:

„Was wollen sie hier? Sie dürfen gar nicht herein kommen!“ Chiara antwortete nicht, sondern ging zur Bürotür von Jonas. Manon fegte hinter ihrem Schreibtisch hervor und wollte sich vor die Tür stellen. Aber Chiara war schneller.

Sie öffnete die Tür und ging mit ihrer Tochter in Jonas Büro. Manon wie eine Furie hinterher. „Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht herein kommen darf,“ schnappte sie. Jonas war überrascht die Beiden zu sehen. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Was wollt ihr?“ Fragte er. 

„Mein Wochenende mit Lilly ist erst nächste Woche.“ Chiara nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte:

„Schicke bitte deine Sekretärin hinaus,“ wobei sie das Wort Sekretärin besonders betonte. Zu Manon gewandt sagte sie:

„Das ist eine Familienangelegenheit.“ Manon machte einen Schritt auf Chiara zu. Ihre Hände waren erhoben und zu Krallen geformt. Beide Frauen waren wütend.

Jonas sah Handgreiflichkeiten voraus. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Schnell sagte er zu Manon:

„Herr Berger müsste jeden Moment hier sein. Bitte empfange ihn und sage ihm, dass er sich einen Moment gedulden möchte.“ Manon bekam einen feuerroten Kopf. Jonas legte ihr die Hand beruhigend auf den Arm und schob sie hinaus. Dann schloss er die Tür. Als er sich herum drehte, war sein Gesicht wutverzerrt.

„Was soll das? Sag´ mal, spinnst du? Was ist in dich gefahren, einfach so aufzukreuzen.“ Manon legte das Ohr lauschend an die Tür. Sie hörte befriedigt Jonas Wutanfall. Was Chiara sagte, konnte sie nicht verstehen. Sie sprach zu leise. Jetzt schrie Jonas:

„Wie stellst du dir das vor? Bist du von allen guten Geistern verlassen? „ --- „ Das ist eine blöde Vorstellung.“ Das Kind begann laut zu weinen. Jetzt verstand Manon gar nichts mehr. Dann läutete die Klingel. Manon öffnete die Eingangstür. Herr Berger betrat die Kanzlei. Erstaunt hob er den Kopf.

„Ich dachte, hier sein ein Büro für Steuerrecht und nicht für Familienangelegenheiten.“

„Bitte nehmen sie doch einen Moment Platz,“ sagte Manon:

„Herr Winkler hat gleich Zeit für sie. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Manon bereitete den Kaffee und stellte noch eine Schale Gebäck dazu. Man hörte lautes Gebrüll aus dem Büro. Leider war kaum etwas zu verstehen.

Nach und nach wurde es ruhiger. Herr Berger schaute demonstrativ auf seine Uhr. Manon saß ihm schweigend gegenüber.

„Wenn es noch lange dauert, muss ich sie verlassen,“ sagte Herr Berger. „Ich habe gleich den nächsten Termin.“

„Ich werde nachsehen gehen.“ Manon wollte die Gelegenheit wahrnehmen und sehen, was los war. Da kam Chiara gerade aus der Tür. Stolz und siegesgewiss hatte sie das Haupt erhoben. Sie öffnete die Kanzleitür und holte die Sachen herein. Manon und Herr Berger schauten erstaunt zu. Chiara ging wieder in das Büro. Die Tür hatte sie offen gelassen. Sie sagte: „Mama geht jetzt zur Arbeit und du bleibst bei Papa. Dass du schön lieb bist und Papa nicht störst. Hörst du?“ Was die Kleine sagte war nicht zu verstehen. Dann hörte man einen lauten Kuss.

„Ich warte dann Samstag abend auf euch. Habt viel Spaß zusammen.“ Dann verlies Chiara ohne ein weiteres Wort die Kanzlei. Manon und Herr Berger sahen sich verdutzt an.

 

Chiara kam aus dem Aufzug in die Halle. Gabriele Gerke verließ schnell die Rezeption. Frau Holzer grüßte freundlich:

„Hallo, wie geht es ihnen. Schon lange nicht mehr gesehen.“

„Danke, ganz gut. Ich gehe ab heute wieder arbeiten und habe Lilly zu ihrem Vater gebracht, damit er seinen Teil an der Aufsicht übernimmt.“ Chiara stieß Luft aus. Es kam ihr vor, als hätte sie sie die ganze Zeit über angehalten.

„Das ist eine tolle Idee. Dann sehen wir uns jetzt bestimmt öfter,“ freute sich Frau Holzer. Sie beugte sich über den Tresen und flüsterte:

„Wie hat es Manon aufgefasst?“

„Sie war stocksauer. Jonas hat sie aus dem Büro geschickt. Das hat ihr gar nicht gepasst!“ Die beiden Frauen prusteten los und lachten dann laut. Chiara war wie befreit.

„Ich muss los. Ich will nicht schon am ersten Tag zu spät kommen. Noch einen schönen Tag“ „Ihnen auch und viel Erfolg.“

Als Manon mittags zum Tresen kam, stellte sie Gabriele Gerke zur Rede. Warum sie Chiara gegen ihre Anordnung durch gelassen habe, wollte sie wissen. Frau Holzer stand daneben und wartete auch auf die Antwort.

„Ich war leider in dem Moment nicht da,“ sagte Gabriele Gerke. Sie sah dabei auf den Tresen. Hasserfüllt schaute Manon auf Frau Holzer:

„Von ihnen habe ich nichts anderes erwartet. Ich werde mich bei ihrem Chef beschweren.“ „Ich kann es kaum erwarten,“ lächelte diese Manon an. Wütend schoss Manon durch die Tür.

 

                                                                        ***

 

Chiara fuhr zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Sie freute sich schon sehr darauf. Am Tag nach der

Vorstellung war Chiara mit Lilly zu Frau Rosenberg gefahren. Sie mussten alles besprechen, bevor Chiara anfing.

Frau Rosenberg trug immer Kostüme mit farblich passender Bluse und darauf abgestimmten Schmuck. Sie hatte schöne, alte Familienerbstücke. Geschminkt war sie sehr dezent. Sie war das Aushängeschild eines gepflegten, sehr distinguierten Geschäftes. Leider starben die alten Kunden weg und die Jüngeren hatten andere Vorstellungen von Mode.

 

Lilly und ihre Mutter betraten das Geschäft. Lilly schaute ganz erstaunt zu der Glocke über der Tür. Das kannte sie noch nicht. Frau Rosenberg begrüßte die Beiden.

„So, und du bist Lilly,“ sie bückte sich und reichte der Kleinen die Hand: „Deine Mama hat mir schon viel von dir erzählt.“ Lilly schaute sie mit großen Augen an. Besonders die Korallenohrringe in goldener Fassung, erregten ihre Aufmerksamkeit. Frau Rosenberg lächelte sie an. Die Lippen waren schmal und blass. Die Augen von unbestimmbarer Farbe. Lilly sah braun, grau, grün, eigentlich alles darin. Vor allem waren sie freundlich.

„Komm mit,“ sagte sie jetzt und richtete sich wieder auf.

„Ich habe Kakao für dich gemacht. – Kommen sie,“ sagte sie zu Chiara und führte die Beiden durch die hintere Tür. Hier war ein großer Arbeitsraum, mit Schneidertisch, Nähmaschinen, Schränken, Regalen, Schneiderpuppen und, und, und. In einer Ecke war eine kleine Küchenzeile untergebracht. Lilly bekam große Augen.

„Am besten, ich führe sie erst mal herum. Das interessiert sie doch bestimmt.“

„Au fein,“ Lilly liebte Besichtigungen. Frau Rosenberg lächelte ihr zu:

„Magst du auch schöne Kleider?“ Lilly war etwas ratlos. Ãœber solche Dinge hatte sie noch nie nachgedacht. Sie war an Halloween als Lumpenprinzessin gekleidet gewesen. Da ging es aber darum möglichst hässlich zu sein. Bisher hatte sie keine derartigen Wünsche geäußert.

 

Frau Rosenberg nahm sie an der Hand und führte sie zu einem Bild an der Wand. Es war ein Druck des Gemäldes „las Meninas“ von Diego Velázquez.

„Siehst du,“ erklärte sie: „Das ist eine spanische Prinzessin, die vor vielen hundert Jahren gelebt hat. Damals hat man Kinder wie Erwachsene angezogen. Kinderkleidung gibt es noch nicht so lange.“ Staunend, mit offenem Mündchen stand Lilly vor dem Bild. Sie betrachtete das Kind in der aufwendigen Robe.

„Sie kann sich gar nicht setzten,“ stellte sie altklug fest.

„Ja,“ erwiderte Frau Rosenberg.

„Sie durfte sich auch nicht auf den Boden setzten und spielen wie die Kinder heute. Dafür mussten sie schon früh lernen. Kleine Mädchen mussten sticken und nähen. Den kleinen Jungen wurden schon mit Holzschwertern das Fechten beigebracht.“

„Oh, das würde Luis bestimmt gefallen,“ erklärte Lilly Frau Rosenberg.

„Das ist der Sohn einer Freundin,“ meinte Chiara erklären zu müssen.

„Das habe ich mir fast gedacht. So, jetzt zeige ich ihnen die anderen Zimmer.“ Es gab noch einen Lagerraum mit Kisten, Schränken und Kleiderständern. Ein kleines Zimmer mit einem Schrank mit vielen schmalen Schubladen, vielen Kästen und einer Knopfbeziehmaschine. Diese stand auf einem Tisch mit einem Stuhl davor.

„Früher wurden viele Kleidungsstücke mit Knöpfen aus dem gleichen Stoff  bestückt,“ erläuterte Frau Rosenberg. „Heute macht man das nur noch selten.“

 

Danach tranken sie in der Küchenecke Kaffee und Kakao. Frau Rosenberg öffnete eine blecherne Keksdose und legte herrliche Plätzchen auf einen Teller. Zum Zugreifen.

„Sind die selbstgebacken?“ Fragte Chiara.

„Selbst gekauft,“ erwiderte Frau Rosenberg lächelnd.

Die beiden Frauen unterhielten sich über die Einstellungsmodalitäten. Frau Rosenberg wollte Chiara möglichst freie Hand lassen. Sie hatte erkannt, dass in ihr viel Potential steckte. Wenn es sich entfaltete, konnte ihr kleiner Laden nur profitieren. Lilly besichtigte den Laden auf eigne Faust. Chiara warf hin und wieder einen Blick auf sie. Als sie im Verkaufsraum verschwunden war, holte sie Chiara zurück.

„Komm her, meine Kleine,“ sagte Frau Rosenberg: „Schau mal, ich habe hier etwas für dich.“ Sie holte einen Kasten mit Stoffresten unter dem Arbeitstisch hervor.

„Hier kannst du wühlen.“ Lilly steckte begeistert die Hände in die weiche Masse und schaute strahlend zu Frau Rosenberg.

„Ich stelle mir das so vor,“ sagte Frau Rosenberg jetzt zu Chiara.

„Wir machen Werbung in den Zeitungen. Außerdem schreiben wir alle Kunden an, alte wie neue, aus dem Karteikasten. Dieses Schreiben müssen wir schön texten.“

„Fotos könnten wir auch mitdrucken.“

„Ja, das ist eine gute Idee.“

„Ich könnte auch Zeichnungen hinzu fügen.“ Frau Rosenberg schaute Chiara erstaunt an.

„Ja, ich habe auch schon Modelle entworfen und kann gut zeichnen.“

„Prima, das machen wir alles gemeinsam.“

Lilly quietschte vergnügt unter dem Tisch. Sie hatte sich Stoffreste in den Bund gesteckt und einen auf den Kopf gelegt. Die Frauen sahen zu ihr hin. Dann wendeten sie sich wieder dem Gespräch zu.

„Ich möchte mit ihnen auch zu Messen gehen, Chiara. Erst einmal zum Schauen. Später vielleicht mit einem Stand. Was halten sie davon?“ Chiara war begeistert. Danach unterhielten sie sich über Chiaras Lohn. In Schneidereien wurde nicht viel bezahlt, das wusste sie. Hier hatte sie aber die Chance etwas aus dem Laden zu machen und damit am Gewinn beteiligt zu werden. Sehr zufrieden verabschiedeten sich die beiden Frauen. Jede würde dabei gewinnen. Lilly durfte den Kasten mit den Stoffresten behalten und mitnehmen.

 

                                                                        ***

 

 

Abends war Chiara zu Gast bei den Engeln. Zum einen wollte sie berichten wie es gewesen war. Zum zweiten war der Abend alleine zu Hause nicht so lang.

„Jonas war ganz schön wütend. Er war völlig überrascht, als er uns sah,“ sagte sie gerade. „Aber du hast ihm doch geschrieben.“

„Ja, und er hat den Brief auch bekommen. Manon sollte mir eine Absage schreiben. Aber das hat sie scheinbar nicht gemacht.“

„Wie hat er es aufgefasst?“

„Zuerst hat er herum geschrieen. Dann ist ihm wohl eingefallen, dass der erste Klient draußen auf ihn wartet. Als er ruhiger wurde, habe ich ihm erklärt wie es abläuft. Ich habe auch gesagt, dass er seinen Pflichten als Vater nachkommen muss. Es reicht nicht, uns mit Geld abzuspeisen.“

„Das kommt schon alles in Ordnung,“ meinte Melanie: „Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird.“

„Du wirst sehen,“ fügte Jakob hinzu: „ Wenn sich erst einmal alles eingespielt hat, wirst du denken: das hätte ich schon viel früher tun sollen!“

„Ich wüsste nur gerne, wie es Lilly jetzt geht,“ seufzte Chiara.

„Wenn es gar nicht geht, wird Jonas dich anrufen. Also mache dir jetzt keine Gedanken. Jonas liebt seine Tochter. Aber es ist eine neue Situation für ihn,“ bemerkte Melanie. Jakob fügte hinzu:

„Du musst das positiv sehen. Die beiden werden sich jetzt richtig kennen lernen. Ein Wochenendpapa ist etwas anderes als ein Ganztagspapa.“

„Jetzt erzähle mal von der neuen Stelle,“ begehrte Melanie zu wissen.

Chiara erzählte von den wunderbaren Stoffen mit denen sie arbeitete. Die Schnitte, Zutaten wie Spitze, Knöpfe usw. Sie hatte begonnen die Kleidung von der Baronin zu ändern. Bis Samstag hoffte sie einen Termin zur Anprobe machen zu können. Ihre Chefin ließ ihr freie Hand. Chiara bediente auch schon Kunden im Geschäft.

Es war spät, als sie nach Hause fuhr. Sie war sehr müde. Schließlich hatte sie die letzte Nacht wenig geschlafen und der Tag hatte ihre ganze Energie gefordert. Sie schlief schnell ein. Ihr letzter Gedanke war: meine Kleine schläft jetzt auch.

 

Lilly schlief tief und fest in ihrem Reisebettchen im Wohnzimmer. Wie sich ihr Vater und Manon im Schlafzimmer fetzten, hörte sie nicht mehr.

Sie war morgens von ihrem Vater in das Aktenzimmer gebracht worden. Er hatte ihr ihre Spielsachen gegeben.

„Du bist jetzt ein großes Mädchen,“ hatte er gesagt und sie über den Kopf gestreichelt.

„Wir werden in den nächsten Tagen einen Kindergarten für dich suchen. Bis dahin musst du schön leise sein, weil ich Kunden im Büro habe.“ Er hatte die Tür einen Spalt offen gelassen. Lilly hatte sich an den Tisch gesetzt und gemalt. Danach hatte sie mit ihren Puppen gespielt. Sie hörte ihren Vater im Nebenzimmer mit fremden Männern reden. Plötzlich musste sie dringend Pipi. Sie wusste nicht, wo die Toilette war. Außerdem durfte sie nicht stören. Sie hielt ganz fest ein und kreuzte die Beinchen. Als das nicht mehr half, hielt sie das Händchen davor. Dann konnte sie nicht mehr einhalten und sie lies es laufen. Ganz entsetzt betrachtete sie ihre Hose. Es war feucht und wurde unangenehm kalt. Eine Pfütze hatte sich um sie herum ausgebreitet. Sie ging zur Tür und schaute durch den Spalt. Das saßen ihr Papa und ein fremder Mann am Schreibtisch. Lilly vergaß ihr Malheur. Der Fremde hatte einen großen Ohrring. So was hatte sie nur bei Piraten gesehen. Er war groß und dünn. Sein Kopf war wie in die Länge gezogen. Er hatte kohlschwarze Augen und einen langen, schwarzen Pferdeschwanz. Unter einem hellbraunen Wildlederanzug trug er ein Rüschenhemd, dass zum Teil offen stand. Schwarze Haarlocken schauten hervor. Darüber trug er eine schwere Goldkette. Auch an den Handgelenken trug er Goldketten.

Jetzt beugte er sich vor, um Jonas besser zu verstehen. Lilly bekam große Augen. Der Pirat wollte ihren Papa angreifen! Sie riss die Tür auf und lief zu ihrem Vater:

„Papa, Papa, pass auf!  Das ist ein böser Pirat.“ Sie stellte sich schützend vor ihn. Die beiden Männer waren erschrocken und sprachlos. Dann lachte der Pirat laut los.

„Sag mal, meine Kleine. Warum hältst du mich für einen Piraten?“ Er setzte sich auf seine Fersen und sah Lilly in die Augen. Dabei sah er ihre nasse Hose. „Du bist mir die Richtige. Nicht dicht aber naseweis.“ Jetzt sah es auch Jonas. Er wusste nicht, was er als Erstes tun sollte.

„Das ist mir schrecklich peinlich, dass das passieren musste,“ sagte er zu den Klienten. „Meine Frau musste heute zu einer kranken Tante. Da muss ich auf das Kind aufpassen.“  „Du bist ein Pirat, weil du einen großen Ohrring hast. Und dein Hemd ist offen. Wo ist deine Augenklappe?“ Lilly war begeistert. Jetzt hatte sie keine Scheu mehr. Jonas hatte Manon herbei gerufen. Er zeigte auf Lilly:

„Kannst du dich bitte darum kümmern.“ Dann schob er die verdutzte Manon und die widerstrebende Lilly in das Nebenzimmer.

„Das ist mir sehr peinlich,“ wiederholte Jonas. Sie setzten sich wieder hin.

„Ich denke, sie sind geschieden,“ wunderte sich Pascal Genêt.

„Ja, aber meine Frau hat heute morgen ganz überraschend die Kleine gebracht. Sie hatte niemanden, als sie zur Tante musste.“ Herr Genêt ließ es darauf beruhen. Er war Schmuckhändler mit einem Faible für alte keltische Kultur und Esoteriker. Er fand es lustig, wie Kinder ihn sahen.

Kurz darauf kam Manon mit wütendem Gesicht aus dem Zimmer. Sie würdigte Jonas mit keinem Blick und stolzierte in ihr Vorzimmer.

 

Sie waren zu dritt zum Essen gefahren. In ein Lokal, in dem sie nicht bekannt waren. Die Kellner wunderten sich, dass sich nur der Vater um das Kind kümmerte.

Den ganzen Tag herrschte im Büro schlechte Laune. Das bekamen auch die Kunden zu spüren. Manon besaß nicht die Größe, darüber zu stehen und ihrem Chef die Situation zu erleichtern.

Lilly malte weiter im Nebenzimmer und langweilte sich. Sie begann zu quengeln. Jonas schickte sie mit Manon in einen Spielwarenladen. Es dauerte aber nicht lange, und die Beiden waren wieder zurück. Mit einem neuen Spiel hielt Lilly solange Ruhe, bis die Kanzlei geschlossen wurde. Nun musste man noch etwas kindgerechtes zum Abendessen kaufen.

 

Jetzt stritten sich Jonas und Manon heftig.

„Wenn du denkst, du kannst das Kind bei mir abladen, hast du dich geschnitten,“ tobte Manon.

„Das Kind hat eine Mutter. Soll sie sich um ihre Brut kümmern. Wenn ich mich um Schreihälse kümmern möchte, dann schaffe ich mir selbst welche an.“ Jonas versuchte sie zu beruhigen. Außerdem befürchtete er, dass Lilly durch das Geschrei wach wurde.

„Lass uns vernünftig darüber reden,“ bat er seine Geliebte.

„Es ist doch nur für ein paar Tage. Wir suchen einen Kindergarten oder eine Tagesmutter.“ „Du hast recht, die Betonung liegt auf Tagesmutter. Und wer kümmert sich nachts um sie?“ Fragte sie hämisch.

„Meinst du, ich habe Lust auf den Balg. Dass sie jetzt bei uns lebt?“ Jonas fuhr auf:

„Hüte deine Zunge. Mein Kind ist kein Balg. Ich will nie wieder Schimpfworte von dir hören.“

„Das brauchst du auch nicht,“ schnaufte Manon. Sie riss sein Bettzeug vom Bett und warf es durch die Tür ins Wohnzimmer.

„Du kannst bei dem Kind ...“ das Wort betonte sie besonders: „... schlafen.“ Jonas verlies schweigend das Zimmer. Manon knallte die Tür hinter ihm zu.

Jonas machte sich sein Lager auf dem Sofa zurecht. Er sah zu seiner schlafenden Tochter hinüber. Wie lange war es her, dass er sie schlafend gesehen hatte? Wann hatte er seinem schlafenden Kind zuletzt über den Kopf gestreichelt?

Er konnte nicht einschlafen. Die Ereignisse des Tages gingen ihm im Kopf herum. Wie hatte Chiara zu ihm gesagt?

„Dir ist es doch bestimmt recht, dass du die Alimente sparen kannst. Wir kümmern uns jetzt beide um unser Kind!“ In Zukunft würden sie alle Kosten teilen, dachte Jonas.

Er würde sich noch wundern.

 

                                                   

8

 

Am nächsten Tag wurden die Werbebriefe vorbereitet.  Chiara malte viele Skizzen. Sie tuschte sie mit Wasserfarben aus. Während Frau Rosenberg über einem Text brütete, machte Chiara Fotos von Kleidung aus dem Geschäft. Sie fotografierte den Laden von außen und innen.

Nachdem der Text im Rohbau stand, begannen die Frauen  Bilder und Zeichnungen zu platzieren. Es war schon später Abend, als sie endlich zufrieden waren. Morgen würden die Briefe in die Kuverts gesteckt und zur Post gebracht. Chiara hatte noch den Einfall gehabt eine Einladung zu einem Ladenfest dazu zu schreiben. Dass Chiara ihre Probe auch ohne Baronin von Weidenmann bestanden hatte, war beiden Frauen klar. Sie sprachen nicht einmal darüber.

 

Chiara konnte den Samstag Abend kaum erwarten. Dann würde Lilly zurück kommen. Sie würde ihr dann erzählen, wie es gewesen war. Ganz gelöst konnte sie die Baronin erwarten. Sie hatten einen Termin am Vormittag ausgemacht. Die Baronin kam pünktlich. Sie war der Meinung, dass Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige sei. Da sie nur Baronin war, legte sie Wert auf Pünktlichkeit.

Chiara hatte alle Stücke vorbereitet. Nach und nach probierte Baronin von Weidenmann alle Teile an. Natürlich hatte sie hier und da etwas auszusetzen. Chiara merkte schnell, dass sie nur ihre Stellung wahren wollte. Sie spielte das Spiel mit:

„Jawohl Frau Baronin. Wie sie wünschen gnädige Frau.“ Die Baronin war zufrieden. Man machte einen neuen Termin für nächsten Samstag aus. Bevor sie den Laden verlies, sagte sie: „Ich habe sie schon meinen Freundinnen empfohlen. Freifrau von Mantenstein will nächste Woche vorbei schauen.“

„Da freue ich mich sehr darauf. Ich muss ihnen aber mitteilen, dass ich nur von Mittwoch bis Samstag arbeite. Die anderen Tage bin ich Mutti. Aber Frau Rosenberg wird gerne weiter helfen.“

„Sie sind beide sehr patente Damen. Ich bin sehr froh, dass ich ihren Laden entdeckt habe.“ Chiara überreichte ihr den Werbebrief persönlich und lud sie noch mal extra zu dem Ladenfest ein.

 

Aber zuerst kam der heißersehnte Samstag abend. Jonas brachte Lilly zurück. Chiara war voll banger Erwartungen.

„Wie hat es geklappt?“ Fragte Chiara Jonas, nachdem Mutter und Kind sich begrüßt hatten. Jonas stand daneben und schaute zu.

„Schön war es mit Papa,“ sagte Lilly.

 „ Aber die blöde Frau, die bei Papa ist, die kann ich  nicht leiden.“

„Psst, das darfst du nicht sagen. Die Frau ist Papas Freundin. Er hat sie lieb.“

„Warum?“ Chiara verkniff sich ein Lachen:

„Da musst du Papa fragen.“ Jonas war rot angelaufen.

„Wir müssen noch reden, wie wir die Sache gestalten wollen,“ sagte er:  „Lilly kann nicht immer bei mir im Büro bleiben. Sie muss auch mit anderen Kindern spielen. Ich werde einen Kindergarten oder eine Tagesmutter suchen.“

„Wie du willst,“ antwortete Chiara.

„Wir werden uns die Kosten teilen,“ legte Jonas nach.

„In der ersten Zeit kann ich mir das nicht leisten,“ widersprach seine Ex.

„Wenn ich genug verdiene, dann ja. Aber zuerst werde ich zu Hause auf Lilly aufpassen.“ Das wollte Jonas nicht einsehen:

„Du verdienst doch jetzt.“

„Ja, aber das erste Geld bekomme ich erst Ende des Monats. Außerdem ist es nicht soviel wie du einnimmst. Schließlich konnte ich nicht fertig studieren.“ Chiara  machte eine bedeutungsvolle Pause und fügte dann hinzu: „Wie sich der Herr vielleicht erinnern wird!“ Jonas schwieg.

„Außerdem habe ich Schulden. Die müssen erst beglichen werden. Danach können wir darüber reden. Aber du kannst morgen kommen und wir können planen.“ Lilly war inzwischen durch die Wohnung gelaufen und hatte alles besichtigt. Jetzt kam sie zurück.

„Du sagst Papa auf Wiedersehen. Er fährt jetzt nach Hause. Nächste Woche  gehst du wieder zu ihm. Ist das recht so?“

„Oh ja, das ist fein. Sehe ich dann den Piraten wieder?“

„Wer ist denn das?“ Chiara sah Jonas an.

„Ein Klient, der sich etwas seltsam kleidet. Er hat einen Hang zu den Kelten und fühlt sich ihnen spirituell verbunden.“ Lilly verabschiedete sich mit Küssen von ihrem Vater und hüpfte dann ins Kinderzimmer.

„Kommst du morgen vorbei?“ Wollte Chiara wissen.

„Nein, ich muss erst sehen, welche Möglichkeiten es zur Kinderbetreuung gibt.“

„Gut, dann auf Wiedersehen bis Donnerstag morgen.“                                                                     

                                                                        ***

 

Jonas nutzte die Tage um eine Kinderbetreuung ab Donnerstag zu finden. Außerdem schaltete er eine Anzeige, in der er eine Tagesmutter suchte. Er schaffte es, eine Tagesmutter zu finden, die in dieser Woche Donnerstag und Freitag aufpasste. Die anderen Tage war sie besetzt. Er rief Chiara am Mittwoch abend an. Er bat sie das Kind Donnerstag früh zur Tagesmutter zu bringen und er würde sie am Abend abholen. Chiara war nicht einverstanden. Sie kannte die Frau nicht. Da konnte alles passieren. So verabredeten sie sich dahingehend, dass sie sich beide bei der Tagesmutter trafen. So geschah es auch. Chiara war mit der Frau einverstanden, nachdem sie sie kennen gelernt hatte.

 

Lilly hatte ihren größten Spaß mit anderen Kindern zu spielen. Als Jonas sie abends abholte, wurde sie von der Tagesmutter sehr gelobt.

„Ihre Tochter ist sehr gut erzogen. Sie macht kaum Arbeit und ist immer fröhlich. Sehr hilfsbereit und sozial ist sie auch. Wenn alle Kinder so wären, könnte ich viel mehr Kinder nehmen.“ Jonas war sehr stolz auf diese Beurteilung. Obwohl die Ehre Chiara gebührte. Dann sagte die Frau:

„Ich habe mit meiner Freundin gesprochen. Sie ist bereit Lilly nächste Woche zu nehmen. Dann kommt ein anderes Kind in die Gruppe. Schade, dass wir das nicht früher wussten. Wir hätten Lilly gerne behalten.“ Jonas fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt hatte er eine volle Woche Zeit, um einen festen Platz für seine Tochter zu finden.

Dieses Wochenende hatte Jonas Lilly ganz. Er würde sie erst Sonntag abend zu Chiara bringen. Manon hatte angekündigt am Freitag abend zu ihrer Freundin zu fahren und erst Sonntag zurück zu kommen.

„Du wirst die ganze Zeit mit Babysitten beschäftigt sein. Ich will mein Leben für mich haben. Außerdem werde ich mit Ariane ausgehen.“

„Geht ihr zu dritt? Ariane ist doch verheiratet.“

„Sie führen eine offene Ehe. Ich denke, du weißt was das bedeutet. Wenn das mit dem Kind weiter so geht, würde ich bei uns auch dafür plädieren.“ Sprach´s, nahm ihre gepackte Reisetasche und verschwand. Jonas schaute ihr verdutzt nach. Sie hatte sich völlig verändert. Sie war gar nicht mehr die liebe, hingebungsvolle Geliebte.

 

Mit den Frauen, die sich auf seine Anzeige gemeldet hatten, hatte Jonas Termine ausgemacht.

Sie kamen nacheinander in die Wohnung und er stellte die Sache vor.

„Wie bitte,“ fragte die erste. Sie war eine kräftige, ältere Frau mit strenger Frisur und schlichtem Dirndl:

„Nur für zwei Tage?“ Sie schaute Jonas verwundert an.

“Die anderen Tage kümmert sich die Mutter um das Kind,“ entschuldigte Jason.

„Ich muss aber alle Tage arbeiten,“ erwiderte die Frau: „Es sei denn,“ schlug sie verschmitzt vor: „Sie bezahlen mir den Rest der Woche auch.“

So ging das weiter. Keine der Frauen konnte oder wollte nur zwei Tage in der Woche arbeiten. Jonas dämmerte, dass es ihn billiger und bequemer gekommen wäre, hätte er Chiara den Unterhalt weiter bezahlt.

 

Vater und Tochter verbrachten den Rest des Wochenendes ganz vergnügt. Samstag ging er mit ihr ins Hallenbad. Nach einem Nickerchen, das beide kuschelnd auf dem Sofa verbrachten, kochten sie. Es war das erste Mal, dass Jonas mit seiner Tochter am Herd stand. Lilly stand auf einem Stuhl daneben. Sie hatte ein Schürzchen umgebunden. Es gab Rühreier mit Kartoffeln und Tomatensalat. Danach half Lilly das Geschirr in die Spülmaschine zu stellen und aufzuräumen.

Am nächsten Tag gingen sie zum Spazieren in den Park. Lilly fütterte Enten. Sie hatten Brotreste mitgebracht. Es gab hier einen Abenteuerspielplatz. Während Lilly mit anderen Kindern spielte, setzte sich Jonas auf eine Bank.

Bald kam ein Mann hinzu. Er fragte:

„Ist hier noch frei?“ Jonas sah hoch. Er konnte nicht viel sehen. Der Mann stand gegen die Sonne. Er war groß und schmal.

„Ja, natürlich,“ sagte er und rückte ein Stück zu Seite.

„So natürlich ist das gar nicht,“ erwiderte der Fremde.

„Es könnte sein, dass ihre Frau in der Nähe ist und sich zu ihnen setzten will.“

„Ich bin alleinerziehend.“ Diese Worte gingen Jonas fix über die Lippen.

„Die halbe Woche, meine ich,“ fügte er erklärend hinzu.

„Meine Exfrau und ich teilen uns Arbeit und Kind.“ Wieso rede ich eigentlich soviel, dachte Jonas. Das geht den überhaupt nichts an. Der Fremde hatte die Beine übereinander geschlagen und sich zurück gelehnt. Er trug Jeans und Westernboots. Jetzt begann er mit dem Fuß zu wippen.

„He,“ rief er laut einem kleinen Jungen zu:

„Lass der Kleinen ihr Eimerchen. Du hast deine eigenen Spielsachen. – Für Kinder

ist immer das interessant, was andere Kinder haben.“ Er wendete sich Jonas zu.

„Ich bin ganz allein erziehend. Meine Frau hat mich wegen einem anderen sitzen lassen. Dann sind sie in eine andere Stadt gezogen. Ich habe durchgesetzt, dass der Kleine ganz bei mir bleibt. Das hat alles wunderbar geklappt. Ich konnte mich um den Kleinen kümmern. Jetzt ist das Urteil ergangen, dass man nur bis drei Jahre Ehegattenunterhalt zahlen muss. So hat meine Frau die Zahlungen für mich eingestellt. Seitdem lebe ich von der Stütze.“ Er seufzte nachdenklich.

„Ach ja, da haben sie es mit ihrer Frau noch gut geregelt.“ Er sah Jonas an. Jetzt konnte Jonas sehen, dass er braune, gewellte Haare hatte. Ein schmaler Schnauzer zierte die Oberlippe. Er trug eine hellbraune Lederjacke. Fehlt nur noch der Westernhut, dachte Jonas und der Cowboy wäre perfekt.

„So einfach ist das nicht,“ beeilte sich Jonas zu sagen: „Ich habe viele Probleme Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen.“

„Sie haben wenigstens Arbeit,“ der Fremde machte eine nachdenklichen Pause.

„Sehen sie,“ fuhr er dann fort: „Als Mattias geboren wurde, bin ich zu Hause geblieben. Meine Frau hat mehr verdient. Jetzt sitze ich da, ohne Job und Unterhalt. Dabei ist es so schwierig eine Arbeit zu bekommen. Für meinen alten Job müsste ich wieder eingelernt werden.“

„Das sind wirklich Probleme,“ pflichtete ihm Jonas bei. Die beiden Männer schauten schweigend den spielenden Kindern zu. Jetzt war der Spielplatz voller geworden. Das liebste Gerät war die Wasserpumpe. Einige Kinder hatten extra lange Gummihosen und Stiefelchen an. Jonas passte sehr auf, dass Lilly sich nicht nass machte. Dafür war es schon zu kalt. Ich muss unbedingt einen Gummianzug kaufen, dachte er. Auf der anderen Seite des Spielplatzes hatten Mütter auf den Bänken Platz genommen.

„Was die wohl über uns denken?“ Fragte der Fremde.

„Die denken bestimmt, da kümmern sich Väter um die Kinder und beneiden unsere nicht vorhandenen Ehefrauen,“ vermutete Jonas: „Wir sind auch seltene Exemplare.“

„Nein,“ widersprach der Mann: „Ich bin in einer Gruppe für allein erziehende Väter. Wir treffen uns regelmäßig. Bei jedem einmal abwechselnd. Kommen sie doch auch mal dazu.“ Er kramte in seiner Jacke. Er förderte eine alte, zerknitterte Visitenkarte heraus. Er reichte sie Jonas und sagte:

„ Hier, sie können mich anrufen und ich sage ihnen, bei wem und wo das nächste Treffen stattfindet.“ Jonas bedankte sich.

„Ich muss jetzt los,“ sagte der Cowboy. Er rief seinem Jungen. Als der nicht hörte, schickte er einen Pfiff hinterher. Mattias sah auf. Sein Vater winkte. Mattias ließ seinen Blick über den Spielplatz schweifen. Dann stand er auf und trottete zu seinem Vater. Er nahm ihn an die Hand.

„Melden sie sich mal,“ sagte er zu Jonas: „Es ist immer interessant zu hören, wie andere zurecht kommen.“ Damit ging er mit seinem Sohn an der Hand davon. Jonas schaute auf die Karte. Egbert Huber stand darauf. Darunter eine Telefonnummer. Weil er keinen Mülleimer in der Nähe sah, steckte Jonas die Karte ein. Dann vergaß er sie.

9

Die Vorbereitungen für das Ladenfest waren in vollem Gange. Man  wollte die Gäste auch bewirten. Ein Caferingunternehmen lieferte Canapés und Getränke. Um einen Kellner des Unternehmens zu sparen, hatte Chiara eine Idee. Sie fragte Melanie, ob Branca vielleicht Lust hätte sich etwas hinzuzuverdienen.

„Das musst du sie selber fragen,“ antwortete Melanie: „Von mir aus kann sie.“ Branca war gerne bereit dazu.

Der ersehnte Tag des Festes kam. Man saß eine Stunde herum, ohne, dass sich jemand blicken ließ. Die zweite Stunde ging vorbei. Die Frauen verzweifelten schon. Dann kam die erste Kundin, die sich umschauen wollte. Frau Rosenberg nahm sich ihrer an. Danach kamen zwei Freundinnen, die sich umschauen wollten. Dann war plötzlich das Geschäft voller Interessentinnen. Einige Frauen stellten sich mit Sektgläsern in der Hand vor den Laden. Manche rauchten. Alle unterhielten sich angeregt. Immer mehr Leute drängten sich in das Geschäft. Plötzlich hörte Chiara eine ihr bekannte Stimme:

„Das ist der Laden, von dem ich euch erzählt habe. Das ist ein Geheimtipp.“ Schnell ging Chiara auf die kleine Gruppe um Baronin von Weidenmann zu. Sie begrüßte sie herzlich. „Kommen sie doch bitte hier herüber,“ forderte sie die Frauen auf.

„ Bitte nehmen sie Platz. Was darf ich ihnen anbieten?“ Chiara kümmerte sich jetzt nur um sie. Plötzlich hatte sie eine Idee: „Wir werden ein VIP Fest veranstalten. Extra für sie. Dann haben Frau Rosenbaum und ich Zeit, um uns nur um sie zu kümmern.“ Das wurde begeistert aufgenommen.

„Gibt es Freunde und Bekannte von ihnen, die wir vielleicht auch einladen könnten?“ Chiara sammelte Adressen.

„Vielleicht könnten sie ihre Bekannten schon mal darauf vorbereiten, dass wir uns an sie wenden werden.“ Chiara war nicht nur eine gute Schneiderin. Jetzt brillierte sie als Geschäftsfrau.

Das Fest wurde ein voller Erfolg. Für das VIP Fest hatte Chiara auch schon eine besondere Idee.

 

Sarah Rosenberg ließ Chiara freie Hand. Beide Frauen arbeiteten Hand in Hand. Chiara nahm immer öfter Arbeit mit nach Hause. So konnte sie die langen Abende ohne Lilly ausfüllen. Es kamen immer mehr Kunden. Viele waren VIPs. Das Geschäft expandierte.

 

                                                                        ***

 

Jonas sah sich nach einem Kindergarten um. Zuerst besuchte er den städtischen Kindergarten. Er war überfüllt. Der Flur hallte wider von Geschrei der Kinder. An den Wänden waren die Garderobenhacken der Kinder. Jedes Kind hatte ein Bild gemalt, das darüber hing. So fand jeder der kleinen Analphabeten seinen Haken. Auf dem Boden waren Kästen für Straßenschuhe untergebracht.

Jonas wurde zum Sekretariat geleitet. Er sah sich um. Mehrere Türen für verschiedene Klassen. Alle waren verschlossen. Die Toilettentür für Jungs stand offen. Jonas konnte sehen, wie ein kleiner Junge sich an einem niedrigen Waschbecken die Hände wusch.

„Schön machst du das Martin,“ sagte die Erzieherin die Jonas führte, zu dem Jungen im Vorbeilaufen. Martin schaute Jonas mit großen Augen hinterher.

„Hier bitte sehr.“ Jonas Begleiterin stoppte vor einer Tür und klopfte an. Auf ein „Herein,“ öffnete sie die Tür und ließ Jonas eintreten. Danach schloss sie die Tür von außen.

Jonas stand vor einem großen dunkelbraunen, alten Schreibtisch. Daran saß eine ältere Frau mit grauen halblangen Haaren und schrieb etwas auf ein Blatt Papier.

„Bitte setzen sie sich doch. Ich will das gerade noch zu Ende führen.“ Jonas sah sich um. Ein Stuhl stand in einer Ecke. Jonas holte ihn und platzierte ihn vor dem Schreibtisch. Darauf stand ein Monitor, mehrere Ablagen gestapelt und  Schreibzeug. Am Fenster dahinter waren bunte Scherenschnitte und Herbstlaub angeklebt. Das Herbstlaub war wohl mal bunt gewesen. Jetzt war alles nur noch braun. Blechschränke standen an den Wänden. Eine Schranktür stand offen. Jonas konnte Bastelmaterial und Plastikkästen mit Buntstiften erkennen.

Jetzt sah die Frau auf. Sie streckte Jonas die Hand über den Schreibtisch hin und sagte: „Guten Tag. Ich bin Christina Hofmann, Leiterin des Kindergartens.“ Sie hatte eine Matronenfigur. Ein rundes Gesicht mit blassblauen Augen und breiter Nase über dünnen Lippen. Sie trug einen weit fallenden herbstlaubfarbenen Kittel. Die lange Kette aus Holzstückchen sah selbstgemacht aus.

Jonas stellte sich ebenfalls vor:

„Jonas Winkler, Rechtsanwalt.“ Er ließ ihre Hand los.

„Ich brauche einen Kindergartenplatz für meine Tochter. Meine Exfrau geht wieder arbeiten. Wir kümmern uns jetzt abwechselnd um die Kleine.“

„Kein Problem, sagte Frau Hofmann,“ und erklärte ihm die Modalitäten und die Kosten. „Meine Exfrau wird die Kleine im Anfang noch selbst betreuen, da sie noch nicht genug verdient, um sich an der Bezahlung zu beteiligen,“ erklärte Jonas. Frau Hofmann schaute ihn erstaunt an:

„Sie müssen den Kindergarten voll bezahlen, egal, ob ihre Frau sich daran beteiligt oder nicht. Dann kann ihre Frau dennoch das Kind bringen.“ Das leuchtete auch Jonas ein. „Das muss ich mit meiner Exfrau besprechen. Ich melde mich wieder bei Ihnen.“ Eigentlich logisch, dachte er, als er das Haus verlassen hatte. Dann müsste er eben ganz zahlen, bis Chiara genug verdiente um sich daran zu beteiligen.

Bei ihrem nächsten Treffen mit Chiara erzählte er ihr davon. Sie war mit dieser Regelung einverstanden. Lilly musste wirklich unter Gleichaltrige.

„Gut,“ meinte sie: „Für Lilly ist es bestimmt das Beste, wenn sie unter Kinder kommt.“

Von nun an ging Lilly in den Kindergarten. Von Montag bis Donnerstag morgen brachte Chiara sie hin. Donnerstag abend  und Freitag übernahm Jonas. Vielmehr musste Manon die Wegbegleitung übernehmen. Das passte ihr gar nicht. Sie begann über eine neue Arbeitskarriere nachzudenken. Das verstärkte sich noch, als Jonas ihr das Unterhaltsgeld für

Chiara strich. Als sie protestierte, erklärte er ihr, dass er das Geld für Lilly aufwenden müsse.

 

Es kriselte in der Beziehung der Beiden. Das verschlechterte auch das Arbeitsklima. Manon vernachlässigte die meisten Klienten. Nur zu Winfried König und José dos Santos war sie besonders zuvorkommend.

Mit José das Santos ging sie einen Samstag abend aus, als Jonas Lilly für das ganze Wochenende hatte. Sie flirtete was das Zeug hielt. Sie tranken Brüderschaft. Sie küssten sich herzlich. Sie küssten sich begehrend. Sie küssten wild. Danach ließ sie sich von ihm nach Hause bringen. Im Auto küsste er stürmisch und leidenschaftlich, als er einen Parkplatz gefunden hatte. Er legte seine Hand auf ihren seidenbestrumpften Schenkel. Er steckte ihr seine Zunge in den Mund. Manon empfing sie spielerisch. Umkreiste mit Ihrer Zunge die seine. Wie aus Versehen fuhr sie ihm über den Schritt. Hart und stramm war die Hose. Er wollte ihr den Rock hochschieben. Das war für Manon das Zeichen aufzuhören.

„Langsam,“ keuchte sie: „Langsam, so eine bin ich nicht.“ Sie machte sich frei und stieg mühsam aus. Er hing fest an ihr und löste sich nur langsam. Draußen strich sie den Rock glatt. Sie beugte sich zu dem schmachtenden José hinunter. Ganz leicht küsste sie ihn auf die Wange. Dann schlug sie die Tür zu und stöckelte davon. José das Santos hörte das Stakkato ihrer Pumps auf dem Pflaster verklingen. Der Schritt schmerzte ihm. Du Luder, dachte er, erst heiß machen und dann abservieren. Dich kriege ich noch.

 

                                                                        ***

 

Als Chiara Donnerstags in das Geschäft kam, wartete Frau Rosenbaum mit einer Überraschung auf.

„Stellen sie sich vor, wir sind zur Modemesse eingeladen. Ist das nicht fabelhaft.“ Chiara schloss Frau Rosenbaum ganz spontan ihn ihre Arme. Dann planten sie ihre Reise zur Messe. „Wenn alles so weiter geht, wie bisher, dann können wir vielleicht im nächsten Jahr als Aussteller mit machen.“ Frau Rosenbaum wirkte auf einmal viel jünger.

„Was machen wir eigentlich mit unserem VIP Fest?“ Das hatten sie wegen der vielen Aufträge sträflich vernachlässigt.

„Oh, je. Das hatte ich völlig vergessen,“ klagte Sarah Rosenbaum.

„Vielleicht sollten wir es nach der Messe veranstalten?“ Schlug Chiara vor.

„Da holen wir uns noch Anregungen und unseren Damen können wir so die Wartezeit verkaufen. Sie haben bestimmt Verständnis dafür, dass wir ihnen nur das Beste bieten wollen.“ Frau Rosenbaum dachte nach. Sie krauste die Stirn.

„Hm, ja. So könnte es gehen. Diese hochfeinen Damen sind mit Glacéhandschuhen anzufassen!“ Nanu, dachte Chiara perplex. So frei von der Leber weg hatte sie ihre Chefin noch nie reden hören.

Aber erst einmal machte Lilly Schwierigkeiten. Sie wurde stiller und grüblerischer. Wenn man von einer Dreijährigen so etwas sagen kann.. Sie ging nicht mehr gerne in den Kindergarten. Eines Abends, vor dem zu Bett gehen, nahm Chiara sie auf den Schoß. Ganz fest legte sie die Arme um sie. Küsste ihr auf das Köpfchen. Atmete den wunderbaren Geruch ihrer Tochter ein. Dann sagte sie:

„Jetzt sag Mama, was im Kindergarten los ist.“ Lilly kuschelte sich an ihre warme Brust. „Ach Mama, ein paar Jungs sind so frech zu mir. Sie hauen mich und nehmen mir meine Sachen weg.“ Jetzt begann Lilly zu weinen. Chiara wiegte sie beruhigend.

„Ich werde mit Tante Annika reden,“ tröstete sie ihre Kleine. Sie soll auf dich aufpassen, dass die Jungs nicht so frech zu dir sind. Und du...“ Chiara schob Lilly etwas von sich weg, schaute ihr fest in die Augen und sagte: „....wenn die Jungs dich hauen, dann hau zurück. Meine Erlaubnis hast du. Zeige ihnen, was ein richtiges Mädchen kann.“ Dann zog sie Lilly wieder an sich und summte ein Lied.

 

Am nächsten Morgen ging Chiara mit Lilli in den Kindergarten. Sie verlangte die Leiterin zu sprechen. Schnell saß sie ihr am Schreibtisch gegenüber. Lilly hatte sie auf dem Schoß.

„Frau Hofmann,“ sagte sie: „Lilly wird hier von Junges gehauen und sie nehmen ihr die Sachen weg. Das  darf nicht sein.“

„Da haben sie völlig recht,“ erwiderte Frau Hofmann.

„Es ist schwierig. Ich werde mit Frau Schäfer reden, damit sie ein Auge darauf hat.“

„Siehst du,“ sagte Chiara zu ihrer Kleinen: „Alles wird gut.“

„Vielen Dank Frau Hofmann. Ich werde Lilly jetzt zu Frau Schäfer bringen.“ Chiara stellte Lilly auf den Boden, stand auf und verabschiedete sich. Frau Hofmann sah ihr nach. So einfach war es nicht. Frau Hofmann war wegen der Ãœberlastung ihres Kindergartens sehr im Stress und wünschte sich nur noch ihre Verrentung. Sie hatte selbst vier Kinder großgezogen und hatte Enkelkinder. Früher war alles einfacher, dachte sie.

Chiara brachte Lilly zu ihrer Gruppe. Schon von draußen konnte sie den Lärm hören. Als sie die Tür öffnete, war der Krach infernalisch. Kinder liefen kreuz und quer herum. Sie schrieen, als seien alle Teufel der Hölle hinter ihnen. Trotzdem saßen ein paar Kinder an kleinen Tischchen und waren mit malen und basteln vertieft. Sie störte der Radau scheinbar überhaupt nicht.

Ich könnte hier nicht arbeiten, dachte Chiara. Vielleicht sollte Lilly in einen anderen Kindergarten. Sie suchte mit den Augen Annika Schäfer, die Kindergärtnerin. Endlich entdeckte Chiara sie in einer Ecke. Von dem Lärm ganz unbeeindruckt saß sie auf einem Kinderstuhl. Sie sprach mit einem kleinen Mädchen. Schäfer war um die dreißig.

Chiara hatte schon früher mit ihr gesprochen. Sie wusste, dass sie esoterischen Gedanken anhing.

Nun erblickte sie Chiara. Sie stand auf. Jetzt erst konnte man sehen, wie groß sie war. Dabei sehr hager. Sie hatte einen knabenhaften Körper. Wenn sie Formen hatte, dann hatte sie sie gut versteckt. Denn sie trug eine weite, grün-blau karierte Bluse über verwaschenen Jeans und Birkenstocksandalen. Sie kam Chiara entgegen. Die Hand, die sie Chiara reichte, war kalt und feucht. Kein Händedruck. Dabei streiften ihre langen, braunen Haare über Chiaras Hand. Um den Kopf trug sie ein Haarband á la Indianer. Das ließ ihre vorstehenden Ohren sehr zur Geltung kommen. Chiara schaute in große, hellbraune Augen über einem Meer von Sommersprossen. Sonst war ihre Haut sehr fahl und teigig.

„Frau Schäfer,“ sagte Chiara nach der Begrüßung: „Meine Tochter wird von einigen Jungen hier gehauen und sie nehmen ihr die Sachen weg. Ich bitte sie, darauf zu achten, dass das nicht vorkommt.“ Frau Schäfer beugte sich zu Lilly:

„Wer sind denn die Jungs?“ Lilly schaute sie mit großen Augen treuherzig an:

„Der Achmed und der Kevin und der Sebastian.“ Sie schaute in die Runde. Dabei zeigte sie auf einen Jungen, der wild herum tobte und auf einen umgedrehten Stuhl einschlug.

„Und der Bülent auch,“ fügte sie hinzu.

„Die wollen doch nur spielen,“ meinte Frau Schäfer.

Was soll das? Fragte sich Chiara. Sind das junge Hunde?

„Wie meinen sie das?“ Fragte sie laut.

„Die meinen das nicht so. Sie wollen Aufmerksamkeit.“

„Von meiner Tochter? Ich bitte sie Frau Hofmann. Wenn die Kinder Aufmerksamkeit brauchen,  dann von deren Eltern und von ihnen. Aber nicht von Lilly. Ich bitte sie ein Auge auf Lilly zu haben.“

„Ich werde darauf acht geben,“ beteuerte Frau Schäfer. Chiara verabschiedete sich von ihrer Tochter. Sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.

Sie würde mit Jonas reden müssen. Dieser Kindergarten taugte nicht für Lilly.

 

                                                                        ***

 

„Hier am Empfang ist ein Herr Berger, er hat einen Termin bei ihnen,“ tönte die Stimme von Frau Gerke durch das Telefon. „Soll herauf kommen,“ antwortete Manon und legte grußlos auf. Bald trat ein großer, gutaussehender, braungebrannter Mann durch die Tür der Kanzlei. Er hatte weißes, dichtes Haar, das in seiner Fülle seinen Kopf umgab wie ein Heiligenschein. Er hatte ein markant männliches Gesicht. Er wusste das er gut aussah. Genau das strahlte er aus.

Manon trat auf ihn zu um ihn zu begrüßen. Sein Händedruck war fest aber nicht zu hart. Wahrscheinlich langte er bei Männern härter zu. Jetzt sah Manon, dass er tiefblaue Augen hinter dichten langen Wimpern hatte. Er grüßte:

„Mein Name ist Friedrich Berger. Wir hatten schon miteinander telefoniert.“ Manon ließ seine Hand los.

„Bitte setzten sie sich doch.“ Sie wies mit der Hand auf den Stuhl ihrem Sessel gegenüber. „Herr Winkler hat gleich Zeit für sie. Was darf ich ihnen anbieten? Kaffee? Tee? Ich habe verschiedene Sorten. Oder ist ihnen etwas Kaltes lieber? Wasser oder Softdrinks?“ Sie schaute ihn sich dabei genauer an. Er trug einen graumelierten Pullover mit V-Ausschnitt, aus dem ein hellblau gestreiftes Hemd hervorschaute. Dazu eine dunkle Bundfaltenhose, die seinen hübschen Po betonte. Er setzte sich.

„Einen Kaffee bitte.“

„Milchkaffee, Latte Macchiato, Espresso...?“

“Bin ich hier bei Starbucks?” fragte Friedrich Berger.

„Wir gehen nur mit der Zeit,“ säuselte Manon und stellte eine schale Kekse hin.

„Dann bitte einen Espresso und ein Wasser.“

„Wie beim Italiener,“ kokettierte Manon. Während die Maschine zischte, holte Manon ein Fläschchen Wasser aus dem Kühlschrank. Dabei reckte sie ihr Hinterteil vorteilhaft in die Höhe.

„Ein San Pellegrino,“ sagte sie und goss ein schönes Kristallglas halbvoll.

„Haben sie für jeden Kunden das passende Wasser?“ Flirtete er. Manon brauchte ihm das Tässchen starken, dicken Kaffee.

„Wir haben noch Perrier und Apollinaris.“ Sie setzte sich ihm gegenüber.

„Kommen sie aus dem Urlaub?“ Fragte sie.

„Weil ich so braun bin?“ erkundigte er sich.

„Das bin ich immer. Ich bin in meiner Freizeit Bergsteiger. Seit ich geschieden bin, habe ich viel mehr Zeit für mein Hobby.“

„Darf ich fragen, was sie beruflich machen?“

„Ich stelle medizinische Geräte auf und weise die Ärzte in die Geräte ein. Ich arbeite europaweit. Seit der Grenzöffnung in den Osten haben sich die Kunden verdoppelt,“ schmunzelte er.

„Und da bleibt ihnen noch Zeit für ihr Hobby?“ Fragte Manon. Ein Gerät auf dem Schreibtisch summte.

„Herr Winkler ist bereit für sie.“ Manon stand auf.

„Ich bringe ihre Getränke nach. Hier durch bitte,“ Manon hielt ihm die Tür offen.

 

                                                                        ***

 

 

Abends ging Manon wieder aus. Sie ging jetzt oft alleine aus. Auch wenn Lilly nicht da war. Jonas hatte sie erklärt, dass sie Luft brauche. Das Kind belaste sie zu sehr.

Es wird ihr alles zuviel, dachte Jonas. Er glaubte immer noch, dass Manon ihn liebe. Schließlich beteuerte sie es fast täglich.

 

Er beschloss auszugehen. In die nächste Kneipe, auf ein Bier. Er zog seine Jacke über und griff in die Tasche. Hatte er alles dabei? Schlüssel, Geldbörse? Da war doch etwas störendes in seiner Tasche. Er zog eine Karte heraus. Egbert Huber las er erstaunt. Er dachte, er hätte die Visitenkarte längst entsorgt. Das wäre doch etwas, dachte er. Er griff zum Telefon und rief an. Er hatte Glück. Die allein erziehenden Väter trafen sich heute bei Egbert Huber. Er ließ sich die Adresse geben und stieg in sein Auto. Dort gab er die Adresse in das Navigationsgerät ein und fuhr los. Es ging hinaus in die Vorstadt. Die Bäume waren total entlaubt. Es war sehr kalt und ungemütlich. Schnee lauerte in der Luft. Nur noch wenige Wochen bis Weihnachten.

Er lauschte der Stimme des Navigators und bog an der Ampel ab. Dabei überlegte er, wie sie Weihnachten verbringen wollten. Sonst war er mit Manon immer in Urlaub gefahren. Die Azoren, in die Karibik, letztes Jahr die Seychellen. Dieses Jahr hatte Lilly alles durcheinander gebracht. Wäre ja auch mal schön zu Hause zu bleiben.

Das dachte er. Manon hatte andere Pläne.

 

Er war vor dem Haus angekommen und fand gleich einen Parkplatz. Er stieg die Stufen zur Haustür hinauf und läutete. Mattias, Egberts Sohn öffnete die Tür. Er starrte Jonas an, er rührte sich nicht.

„Hallo,“ sagte Jonas: „Ist der Papa da?“ Aus einem hinteren Raum erscholl Kinderlärm. Da kam Egbert Huber schon aus einer Tür geschlurft. Er trug dicke  Filzpantoffeln.

„Hallo,“ begrüßte er Jonas: „Kommen sie herein. Los Mattias, mach´ für den Onkel Platz.“ Forderte er seinen Sohn auf. Jonas trat ein.

„Kommen sie, ich stelle sie den anderen vor.“ Sie traten ins Wohnzimmer. Mehrere Augenpaare waren auf die beiden gerichtet.

„Hey, wie heißt du eigentlich?“ Ganz plötzlich war Egbert ins DU verfallen. Alle duzten sich, wie Jonas feststellen konnte. Es war ihm recht.

„Ich bin Jonas Winkler, Anwalt für europäisches Steuerrecht und halber alleinerziehender Vater.“ Die Anwesenden brachen in Gelächter aus.

„Hast du halbe Portion dann überhaupt ein Recht hier zu sein?“ Fragte einer.

„Komm, setz dich,“ sagte der, der ihm am nächsten saß und zog ihn am Ärmel.

„Lass ihn erst einmal den Mantel ausziehen,“ sagte Egbert. Jonas reichte ihm seinen Mantel. Die Männer stellten sich ihm vor. Es waren acht. Zwei fehlten. Sie hatten sich für heute entschuldigt. Es war eine Zusammenkunft aller Klassen. Einfache Arbeiter, Angestellte und Beamte waren dabei. Sie alle einte eine Gemeinsamkeit: ihre Kinder. Jeder hatte seine Brut mitgebracht. Nur Jonas Lilly war bei ihrer Mutter.

Jonas anfängliche Ungemütlichkeit wich schnell Geborgenheit. Hier waren Männer mit den gleichen Problemen. Hier fand er Verständnis und Aufmunterung. Man besprach Probleme und deren Lösungen. Man wollte sogar eine gemeinsame Weihnachtsfeier ausrichten. Sie kamen überein, dass sie den zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam verbringen wollten. Viele Vorschläge wurden gemacht. Spitzenreiter war ein Rodelausflug in die nähere Umgebung. Zuerst war von Skiern die Rede. Aber einige Väter konnten nicht Skilaufen. Außerdem war die Ausrüstung zu teuer, manche Kinder dafür noch zu klein. Schlitten dagegen waren genügend verfügbar.

Man kam überein mit der Bahn zu fahren. Alleine die Zugfahrt wäre für die Kinder ein Abenteuer. Abends wollten sie gemeinsam schmausen. Wo und was wollten sie beim nächsten Treffen klären. Jeder sollte sich schon mal was überlegen.

„Ich schau mal nach, was das Essen macht,“ sagte Egbert und erhob sich.

„Wird Zeit für eine Zigarette,“ sagte ein anderer und stand ebenfalls auf. Einige andere taten es ihm nach. Sie gingen auf den Balkon. Einer drehte sich eine Zigarette. Ein anderer gab allen Feuer. Auch einige Nichtraucher waren dabei. Sie standen alle auf dem Balkon, die Hände in den Taschen vergraben.

Ein kalter Wind pfiff. Erste Schneeflocken stieben in der Luft herum. Kragen wurden hochgeschlagen und die Köpfe eingezogen. Jonas wurde gefragt, seit wann er Single sei.

„Das bin ich nicht,“ erwiderte er.

„Ich lebe mit meiner Freundin zusammen. Sie will mit dem Kind nichts zu tun haben.“ Er überlegte, ob er alles erzählen solle. Warum nicht, dachte er. So fuhr er fort:

„Ich habe erst seit einigen Wochen meine Tochter. Seit meine Frau wieder arbeitet. Wir teilen den Job.“

„Das ist doch Klasse,“ wurde er unterbrochen. Jetzt hörten alle zu.

„Seit die Kleine drei ist, muss sie wieder arbeiten.“ Er dachte kurz daran, dass er schuld an der Misere war. Das würde er keinem erzählen.

„Sie hat niemanden gefunden, der auf das Kind aufpasst.  Da hat sie mir die Kleine eines Morgens einfach in das Büro gestellt und gesagt: so, jetzt bist du dran.“ Die Männer lachten. „Wie bist du klar gekommen?“ Fragte einer.

„Na, es musste halt gehen. Einen meiner Klienten hat sie für einen Piraten gehalten.“ Die Männer wieherten. Jason fühlte sich wohl in der Männergruppe. So schnitt er ein wenig auf, wie es alle Männer machen.

„Ich habe gleich eine Betreuung für mein Kind gefunden. War ganz easy.“

„Wohin geht sie jetzt?“

„In den Kindergarten.“

„Da hast du mächtig Glück gehabt,“ sagte einer.

„Wo doch überall so lange Wartezeiten sind,“ meinte ein anderer.

„In welchen Kindergarten geht sie denn?“ Wollten jetzt alle wissen. Schließlich waren sie Fachmänner in Sachen Kinderbetreuung geworden.

„In den städtischen.“

„Oh je,“ wurde jetzt gebrummt.

„Essen ist fertig,“ rief Egbert aus dem Wohnzimmer. Er hatte einen großen Topf Bohnensuppe mit Würstchen auf den Tisch gestellt. Teller und Bestecke waren daneben. Dann holte er die Kinder. Begeistert lief die kleine Truppe zum Tisch. Jonas zählte elf Kinder. Ein weiteres Kind im Krabbelalter wurde von seinem Vater aus dem Kinderzimmer geholt.

Jeder Vater nahm sich einen Teller und schöpfte Suppe. Die größeren Kinder bekamen Schalen oder übergroße Tassen. Alles was der Haushalt an Geschirr zu bieten hatte. Die kleineren Kinder wurden aus dem Teller ihres jeweiligen Vaters gefüttert. Getränke waren bunt gemischt.

Jonas erkannte, dass jeder Vater etwas mitgebracht hatte. So wurden die Kosten verteilt. Dazu gab es Wasser und Tee. Als die Kinder satt waren, verzogen sie sich wieder in das Kinderzimmer. Das Krabbelkind wurde frisch gewickelt und durfte danach auch wieder zu den anderen Kindern. Die Väter nahmen einen Nachschlag.

10

Es war schon spät, als Jonas nach Hause zurück kehrte. Er musste erst einen Parkplatz suchen. In einer Nebenstraße fand er einen. Als er zum Haus ging, sah er in einem Auto heftige Bewegung.

Na, dachte er, habt ihr kein Bett?, dachte er. Plötzlich blieb er stehen. Er hatte eine Person erkannt. Es war Manon. Jetzt schaute er genauer hin. Der andere war José dos Santos. Am liebsten hätte er gleich auf das Autodach geschlagen und Streit angefangen. So ballte er nur die Faust. Nach einem Moment der Erstarrung ging er weiter. Was sein Klient machte, ging ihn nichts an. Er hatte schon oft vor Jonas mit seinen Amouren geprahlt. Dass er es mit Manon trieb war nur folgerichtig. Dass sich Manon dafür hingab, enttäuschte ihn gewaltig. Wie sollte er sich verhalten? José dos Santos war ein wichtiger Kunde. Manon benötigte er in der Kanzlei. Er beschloss, vorerst das Treiben zu beobachten.

Er legte sich ins Bett und löschte das Licht. Eine Weile später hörte er Manon leise herein kommen. Sie zog sich im Dunkeln aus und schlüpfte ins Badezimmer. Als sie zu Bett gekommen war, fragte er:

„Wie war dein Abend?“ Manon erschrak sehr. Sie fühlte sich ertappt. Erst einmal ausloten was er weiß, dachte sie.

„Schön,“ antwortete sie: „Kannst du nicht einschlafen?“

„Doch ich habe schon geschlafen,“ log er: „Ich bin wach geworden, weil ein Auto so laut losgefahren ist. Wer hat dich denn gebracht?“

„Ich bin mit dem Taxi gekommen. Der Mann meiner Freundin hatte zuviel getrunken.“

„Wo wart ihr denn?“ Wollte Jonas wissen. Manon spann die Geschichte weiter:

„Beim Italiener. Es wurde spät. Aber jetzt lass mich bitte schlafen. Es ist schon spät.“ Manon drehte sich auf die andere Seite. Wie soll das weiter gehen, überlegte Jonas. Dann war auch er eingeschlafen.

 

                                                                       

 

Frau Rosenbaum stellte ihren alten Mercedes ab.

„So, jetzt müssen wir ein Stückchen bis zum Eingang laufen,“ sagte sie. Chiara war erfüllt von Vorfreude. Sie holte ihren Mantel aus dem Fond des Wagens und zog ihn an. Frau Rosenbaum hatte ihren gar nicht ausgezogen. Sie fror schnell. Allerdings holte sie ein Nerzcape vom Rücksitz und legte es über. Am Eingang wartete schon eine lange Schlange. Eine Tür war nur für geladene Gäste. Die Beiden zeigten ihre Einladungen und konnten gleich passieren. Sie betraten die erste Halle. Wie wunderbar war das hier. Schön ausstaffiert und dekoriert. Sie gaben ihre Mäntel an der Garderobe ab. Das Nerzcape behielt Frau Rosenbaum an. Zum einen machte es etwas her. Zum Zweiten wurde es nicht gestohlen. Sie besahen sich die Stände und sprachen mit den Ausstellern. Sie sammelten Proben, Schnitte, Adressen usw. Zwischendurch gab es Modeschauen. Sie liefen den ganzen Tag. Zur Mittagszeit gönnten sie sich ein kleines Essen. Danach einen Espresso, um wieder munter zu werden. Zum Abschluss kamen sie in die Halle der italienischen Aussteller.

Chiara bewunderte sie fließenden, köstlichen Stoffe. Die klassischen Modelle und die modernen Schnitte. Sie beugte sich gerade über eine gezeichnete Vorlage, als sie angesprochen wurde. In gebrochenem Deutsch. Chiara schaute auf. Vor ihr stand ein etwa vierzigjähriger Mann. Extravagant gekleidet, eindeutig homosexuell.

„Ja bitte,“ sagte Chiara. Er hatte eine knabenhafte Figur von mittlerer Größe. Jetzt öffnete er seinen sinnlichen Mund und sagte:

„Sono italiani?“ Chiara lächelte ihn an.

„Nein. Aber meine Nonna war aus Italien.“ Eine Flut begeistertes italienisch prasselte auf Chiara herab. Er hatte ein schmales Gesicht mit olivefarbenen Teint. Einen sehr starken Bartwuchs und kohlschwarze Augen. Schwarze, schulterlange Locken wallten über den Kragen seines dunkellila, moisirenden Anzugs. Vorne quoll ein Jabot über die Aufschläge. Die Manschetten waren ebenso gefertigt. Später sah Chiara, dass der Anzug schräg geschnitten war und er maßgeschneiderte, schwarze Lackschuhe trug.

Plötzlich hielt er inne.

„Sie verstehen mich nicht?“

„Nein,“ Chiara schüttelte den Kopf.

„Darf ich mich vorstellen?“ Er reichte ihr die Hand: „Arturo Cellini, Modeschöpfer in Milano.“

„Chiara Vogelsang. Ich arbeite im Modehaus Rosenberg.“

„Ah, wie schön.“ Dabei kannte er Sarah Rosenbaum überhaupt nicht. Die beiden begannen zu fachsimpeln. Arturo war von den Ideen Chiaras begeistert.

„Sie würden gut zu uns passen,“ sagte er: „Wollen sie nicht mit mir zusammen arbeiten?“ „Das geht leider nicht. Ich habe Familie hier.“

„Schade,“ bedauerte Arturo Cellini. Chiara hatte eine Idee.

„Heute kann man vieles über Internet machen. Ich könnte gerne von zu Hause aus arbeiten. Außerdem kann ich immer für eine halbe Woche nach Italien kommen. Von München bis Mailand ist es nicht weit.“

„Das muss ich mir überlegen,“ antwortete er. Er sinnierte. Chiara wartete ab und störte nicht. Sie konnte förmlich sehen, wie seine Drähte hinter der Stirn glühten und arbeiteten.

Dann stimmte er zu.

„Wir werden es ausprobieren,“ sagte er.

„Ich muss es aber noch mit meinem Modehaus besprechen,“ bremste Chiara.

Sie suchte Frau Rosenbaum. Diese hatte einen alten Bekannten getroffen.

„Das ist alles nicht so einfach heute,“ hörte Chiara ihn sagen. Sie stellte sich etwas abseits, um nicht zu stören.

„Haben sie Expansionsmöglichkeiten?“ Fragte er jetzt.

„Wir sind gerade dabei etwas aufzubauen,“ antwortete Frau Rosenbaum.

„Die Kunden heute wollen alle ausländische Mode. Paris, Mailand. Glücklich, wer dahin Beziehungen hat,“ erklärte er.

„Oh, da ist meine Bekannte,“ sagte Frau Rosenbaum. Sie hatte Chiara gleich bemerkt und wollte jetzt das Gespräch abbrechen.

„Bis nachher. Wir sehen uns bestimmt noch einmal.“ Damit ließ sie ihn stehen und ging mit Chiara davon. Chiara erzählte ihr aufgeregt von Arturo Cellini und seinem Angebot.

„Wir können davon nur profitieren,“ sagte sie aufgeregt: „ Was werden unsere Kunden sagen, Wenn wir Geschäftsbeziehungen nach Italien haben.“

„Ich will mir das erst einmal anschauen,“ meinte Sarah Rosenberg. Die beiden Frauen gingen zum Messestand Cellini. Frau Rosenberg schaute sich alles gründlich an und prüfte die Ware und das Angebot. Man kam überein, sich in den nächsten Tagen und Wochen zu besprechen und auszuhandeln.

Wenn das Angebot gut war, würden sie übernehmen.

 

                                                                        ***

 

Lilly klagte bald wieder über die frechen Jungen. Sie weigerte sich in den Kindergarten zu gehen. Chiara hatte ganz vergessen mit Jonas darüber zu reden. Das holte sie jetzt schnell nach. Sie griff zum Telefon. Dass sie in der Praxis anrief, störte sie überhaupt nicht. Manon schon. Dann dachte sie sich aber, dass es ein Steinchen mehr im Hindernisparcours für Jonas war. Sie stellte durch.

„Sie wissen, dass ich nicht gestört werden möchte,“ sagte er zu Manon. Im Büro waren sie immer noch per Sie.

„Es ist ihre Ex,“ meinte sie süffisant und stellte durch. Jonas hörte kurz zu.

„Wir klären das nachher. Ich rufe zurück,“ damit legte er auf. Vor ihm saß José dos Santos. Jonas hatte Mühe sich zu konzentrieren.

„Den Rest können wir postalisch erledigen,“ sagte er.

„Nein, ich habe in München zu tun und kann gerne her kommen. Ich werde mir von ihrer Sekretärin einen Termin geben lassen.“ José dos Santos erhob sich. +„Bleiben sie sitzen,“ sagte er zu Jonas: „Ich finde alleine hinaus.“

 

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, drückte Jonas auf einen Knopf im Rufgerät. Jetzt konnte er hören, was José und Manon redeten. Mit geballten Fäusten hörte er dem verlogenen Liebesgesäusel der Beiden zu. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass jeder mit jedem spielte. Er war angewidert. Er hörte, wie die Kanzleitür geschlossen wurde. Er wollte das Gerät abschalten. Seine Hand schwebte schon über dem Knopf. Da ertönte die Klingel und der nächste Klient wurde eingelassen. Es war Wilfried König.

„Hallo, was machte meine liebste Sekretärin,“ hörte Jonas und ein Geräusch wie ein lauter Kuss.

„Klappt alles mit dem Wochenende?“ Erkundigte sich Manon. Jonas schaltete aus.

 

In der Mittagspause rief er Chiara an. Sie sprachen über das Problem mit dem Kindergarten. Ich werde einen anderen Kindergarten suchen, versprach er ihr. Sofort versuchte er Egbert Huber zu erreichen. Er war nicht zu Hause. Er holte die Liste der Väter hervor, die er erhalten hatte. Dann rief er die anderen Nummern durch. Bei Klaus-Peter Hintersegger hatte er Erfolg. Sie verabredeten sich für den frühen Abend. Jonas musste zu ihm hinkommen, denn er hatte zwei Kinder. 

Jonas dachte den ganzen Nachmittag über Manon nach. Das musste er regeln. Er hatte festgestellt, dass sie schlampig arbeitete. Einige Klienten hatten bereits andere Anwälte aufgesucht. Doch zuerst musste Lilly neu untergebracht werden.

Als der letzte Klient gegangen war, fuhren sie nach Hause. Dort schottete er sich ab:

„Ich muss telefonieren und dringend etwas regeln,“ sagte er ihr.

„Kein Problem,“ antwortete sie: „Ich habe sowieso noch etwas vor. Du brauchst nicht auf mich zu warten.“

Jonas besprach mit Chiara das weitere Vorgehen. Er müsse nur noch Informationen einholen. Morgen könne er mehr sagen. Dann fuhr er zu Klaus-Peter Hintersegger.

 

Klaus-Peter Hintersegger wohnte mit seiner kleinen Familie in Aschheim. Sie lebten im Haus seiner Eltern. Er hatte keine Arbeit und musste sich um die Kinder kümmern. Seine Eltern gingen beide arbeiten. Seine Frau hatte ihn vor Jahren verlassen. Von ihr hatte er den ältesten Sohn Richard, genannt Rick. Er ging in die sechste Klasse. Den zweiten Sohn hatte er von einem Techtelmechtel mit einer Russin. Diese hatte das Baby nach der Geburt zu Klaus-Peter gebracht und dort abgegeben. Er hatte eine DNA Analyse vornehmen lassen. Der Bub war seiner. Er nannte ihn Wolfgang, genannt Wolfi. Er würde im nächsten Jahr eingeschult.  Die drei lebten von der Stütze und was Klaus-Peter mit Nachbarschaftshilfe hinzu verdiente.

 

In einem Supermarkt kaufte Jonas eine kleine Kiste Bier, zwei Liter Limo und zwei Packungen Tiefkühlpizza. Derart gerüstet betrat er das alte Haus. Klaus-Peter begrüßte ihn frenetisch.

„Es war doch nicht nötig etwas mitzubringen,“ sagte er. „Komm mit in die Küche, da können wir uns ungestört unterhalten,“ und räumte die Pizzen in die Tiefkühltruhe. Zwei Flaschen Bier holte er aus dem Kühlschrank. Wolfi saß im Wohnzimmer am Fernseher.

„Der Große ist noch unterwegs,“ erklärte Klaus-P. Er zog die Tischschublade auf und holte einen Flaschenöffner heraus.

„Brauchst du ein Glas?“ Jonas verneinte. Die beiden prosteten sich mit den Flaschen zu. Jonas war es nicht gewöhnt aus der Flasche zu trinken. Er nahm nur einen Schluck. Als Klaus-P. die Flasche auf den Tisch stellte, war sie halb leer.

„Also, Kumpel,“ Klaus-P. rülpste vernehmlich.

„Wo drückt der Schuh?“ Jonas bereute es schon hierher gefahren zu sein. Das war unterste Schicht. Prekariat.  Was soll´s, dachte er. Es erfährt niemand von meinen Bekannten, dass ich hier war. Er fragte nach Kindergärten. Klaus-P. antwortete:

„Gute Kindergärten haben lange Wartelisten. Manche bieten auch Vorschule an. Aber da muss man sein Kind praktisch schon anmelden, wenn man es gezeugt hat.“ Er nahm den letzten Schluck aus seiner Flasche.

„Warum habe ich dann im städtischen Kindergarten gleich einen Platz bekommen?“ Jason war verdutzt.

„Ganz einfach,“ stelle Klaus-P. die Sache klar: „Die städtischen Kindergärten müssen jedes Kind nehmen, das kommt. Das bedeutet übervolle Kindergärten mit erschöpften Erzieherinnen.“ Er stieß ein weiteres Bäuerchen aus.

„Diese Kindergärten,“ fuhr er fort: „Sind nur Kinderverwahranstalten. Sie lernen nichts, keiner kümmert sich um frühe Bildung. Es gibt Kindergärten, da lernen die Kinder sogar schon eine Fremdsprache. Man weiß heute, dass die beste Zeit zu lernen zwischen vier und sieben Jahren liegt. Das wird völlig vertan. Diese Kinder lernen zum Beispiel Farben von allein. Aber bis zehn oder gar zwanzig zählen, nicht.“ Er spielte versonnen mit einen Kronenkorken. Jonas sah ein, dass Klaus-P. mehr drauf hatte als anfangs vermutet. Klaus-P. fuhr fort:

„Weil ich nicht arbeite beschäftige ich mich mit den Kindern. Der Älteste geht auf das Gymnasium. Mein Kleiner hier geht nur nachmittags in den Kindergarten. Da kann er spielen. Vormittags unterrichte ich ihn zu Hause. Ich will das Beste für meine Kinder. Ihnen soll es nicht mal so gehen wie mir.“

„Das kann ich nicht,“ erklärte Jonas.

„Ich muss sehen, dass ich einen guten Kindergarten finde, und den sehr schnell.“

„Geh´ einfach mal auf Google. Da siehst du, was angeboten wird. Vielleicht sind auch spezielle Kindergärten dabei.“

„Was meinst du damit?“

„Was weiß ich? Katholische, evangelische, Diplomatenkindergärten.“ 

„Du hast mir schon sehr geholfen,“ sagte Jonas und verabschiedete sich.

                                                                        *

 

Es war kurz vor Weihnachten.

Im Modehaus Rosenberg wurde das Ladenfest für VIPs vorbereitet. Es wurde eine besondere Überraschung geplant. Chiara hatte viele Modelle entwickelt. Man hatte für die kurze Zeit Schneiderinnen engagiert, um die Modelle herzustellen. Was fehlte war noch ein Model. Da hatte Chiara eine Idee.

Eines Abends besuchte sie Melanie Engel. Sie hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Es gab viel zu erzählen. Branca brachte die Kinder zu Bett. Lilly war bei ihrem Vater. Chiara fragte Melanie, ob Branca für sie modeln dürfe.

„Da musst du sie selbst fragen. Meinen Segen hat sie.“ Branca war gleich hellauf begeistert: „Wenn Melanie mich entbehren kann.“

Einige Tage vor dem Fest probte Branca die Auftritte. „Wir müssen dich vorher zurecht machen,“ stellte Chiara klar. „Ich habe einen Termin bei einer Kosmetikerin ausgemacht.“ Chiara brachte Branca zum festgesetzten Termin zur Kosmetikerin. Sie sagte ihr: „So wie wir es besprochen haben. Und ausgiebig wachsen. Morgen kommen wir dann zum Schminken vorbei.“

Melanie ließ es sich nicht nehmen auch zu dem Fest zu kommen. So fuhr sie mit Branca zum Schminken. Als die beiden im Modestudio ankamen, gab es viele Oh´s. Branca sah ganz verändert aus. Schmale Brauen, kein Damenbart und sehr vorteilhaft geschminkt. Sie war ein wunderbares Model. Sie bewegte sich mit einer Grazie, als sei sie dafür geboren.

Die Besucherrinnen sparten nicht mit Applaus für die eleganten Modelle und die Darbietung der jungen Portugiesin. Zum Ende verkündete Frau Rosenberg:

„Meine Damen, in Zukunft werden wir mit dem Mailänder Modehaus Cellini eng zusammenarbeiten. Ich kann ihnen versprechen, dass sie die eleganteste Garderobe bekommen werden,  die es in Europa gibt. Was sage ich Europa, in der ganzen Welt.“ Sie erntete stürmischen Applaus.

 

Jonas besprach sich mit Chiara wegen des Kindergartens. Sie war einverstanden und wollte ab dem nächsten Jahr ihren Teil der Kosten tragen. Sie würde dann genug verdienen. Anschließend  fragte er sie dann, wie sie es mit Weihnachten regeln sollten. Er sagte ihr, dass er mit Lilly einen Rodeltag veranstalten wolle. Chiara war verblüfft. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Jonas das Kind außer der Reihe haben wolle. Sie würde es sich überlegen, sagte sie.

„Du musst mir aber bald Bescheid geben, denn ich muss sie anmelden,“ sagte Jonas, als er sich verabschiedete.

Chiara besprach das Problem mit Melanie. Die beiden Frauen hatten geplant, dass Chiara und Lilly Weihachten bei ihnen verbringen würden. Nur der Heilige Abend war für jeden selbst vorbehalten. Jetzt wollte Jonas Lilly für einen Tag haben.

„Weißt du,“ redete Melanie Chiara ins Gewissen: „Du musst loslassen. Ich weiß, es fällt schwer. Bedenke aber bitte, für Lilly ist das wichtig. Vor allem, weil sie ein so gutes Verhältnis zu ihrem Vater hat. Du kannst doch an diesem Tag zu deiner Oma fahren. Sie würde sich bestimmt sehr freuen. Ihr habt euch lange nicht gesehen. Hast du ihr schon geschrieben, wie gut es euch jetzt geht? Was ist mit deinem Bruder?“ Melanie schaute sei eindringlich an.

„Du hast nicht viel Verwandtschaft. Du musst sie pflegen.“

Chiara dachte lange darüber nach. Dann rief sie Jonas an und gab ihm ihre Zusage.

„Wenn du zur Oma fahren willst, dann bleibe doch ein paar Tage bei ihr,“ schlug Jonas vor. „Ich habe das Büro über die Feiertage geschlossen. Ich werde mich um Lilly kümmern.“ „Was ist mit Manon? Der wird das nicht gefallen.“

„Sie hat eigene Pläne. Soweit ich weiß, will sie in Urlaub fahren.“

„Gut, dann ist das geklärt.“ Chiara legte nachdenklich den Hörer auf. Zwischen Jonas und Manon schien es mehr als zu kriseln. Früher hätte sie diese Nachricht mit Freude und Häme erfüllt. Jetzt bedauerte sie Jonas.

 

11

Weihnachten nahte.


Die letzten Einkäufe wurden getätigt. Dann war es soweit. Chiara und Lilly feierten einen stillen Abend. Sie kochten gemeinsam. Dann zogen sie neue Kleider an. Chiara hatte sie extra genäht. Sie wollte die Kleine nicht zu lange auf die Folter spannen. Es gab die Bescherung. Diese Weihnachten fielen die Geschenke für Lilly üppiger aus als im letzten Jahr. Lilly hatte ein Bild für Chiara gemalt. Darauf hatte sie sich mit beiden Eltern gezeichnet. Allerdings musste sie ihrer Mutter die abstrakte Kunst erklären.

Danach gab es Essen. Während Chiara die Küche säuberte konnte Lilly schon spielen. Lilly hielt nicht lange durch. Bald war sie auf dem Teppich eingeschlafen und Chiara brachte sie ins Bett.

Jonas und Manon verbrachten den Abend zusammen. Jonas dachte, dass alle ihre Liebhaber verheiratete Männer waren und Weihnachten im Kreis ihrer Familien verbrachten. Pech für Manon. Auf gegenseitige Geschenke hatten sie in Einvernehmen verzichtet. Sie schauten fern.

Bei den Engeln stieg eine richtige Party. In Südeuropa ist Weihnachten ein fröhliches Familienfest. Nach dem Essen und der Bescherung sangen und tanzten sie.

 

Am nächsten Tag besuchte Chiara mit Lilly eine Kindermesse. Hier traf sie sich mit den Engeln. Danach fuhren sie alle zum Engelhaus. Geschenke wurden ausgetauscht. Ein feines Essen verspeist. Es wurde ein lustiger, entspannter Tag. Am späten Nachmittag verabschiedete sich Chiara von Melanie und ihrer Familie. Jonas wollte Lilly abends abholen, damit er morgens früh keine Zeit verlor. Auch für Chiara war es einfacher, weil sie schon im Dunkel los musste. Sie fuhr mit dem Zug. Ihre Oma lebte in den Bergen. Chiara fuhr nur in schneefreier Zeit mit dem Auto in die Berge.

Zu Hause packte sie noch die Schneesachen für Lilly. Die Kleine war ganz aufgeregt. Ihr Papa hatte ihr erzählt, dass viele Kinder mitfahren würden. Lilly war noch nicht zu einem Treffen der alleinerziehenden Väter mitgegangen. Es hatte sich noch nicht ergeben.

Sie waren noch mit Packen beschäftigt, als Jonas klingelte.

„Los,“ sagte Chiara zu ihrer Tochter.

„Das ist Papa. Öffne ihm.“ Lilly rannte zur Tür. Sie sprang an ihrem Vater hoch und umarmte ihn kräftig. Chiara kam dazu.

„Frohe Weihnachten,“ sagte sie zu ihm.

„Dir auch ein frohes Fest.“ Sie reichte ihm die Hand. Da zog er sie an sich. Sie standen zu dritt eng umschlungen. Dann löste sich Chiara.

„Die Tasche für Lilly ist hier. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen einzupacken.“ Sie verabschiedeten sich voneinander. Chiara trat ans Fenster und schaute den Beiden zu, wie sie die Tasche in den Kofferraum luden. Dabei sah Jonas Chiara am Fenster stehen. Chiara sah, wie Jonas Lilly darauf aufmerksam machte. Beide winkten zu ihr hoch. Chiara winkte zurück. Sie winkte noch, als das Auto längst verschwunden war.

Sie betrachtete die stille Straße. Plötzlich fiel ein Lichtschein durch die geöffnete Haustür auf die Straße. Hinein trat Frau Müller mit Waldi. Dann schloss sie die Tür und die beiden standen im Dunkel. Frau Müller marschierte los. Waldi sperrte sich. Frau Müller zog und Waldi schob einen Berg Schnee vor sich her. Chiara lächelte.

 

                                                                        ***

 

 

Chiara hatte ihrer Oma ihren Besuch angekündigt. Der Tag war schön und sonnig. Gegen Mittag lud das Taxi sie vor der Tür des kleinen Hofes ab. Alles war dick verschneit. Aus der Schneemasse aus dem Dach ragte der Kamin hervor. Weißer Rauch stieg in die klare Luft. Die kleinen Fenster schauten wie Augen unter den Balkonen oben darüber hervor. Den Gartenzaun konnte man an der Wellenform des Schnees erkennen. Von der Tür war ein Weg zur Straße freigeschaufelt. Die Tür öffnete sich. Die Oma kam ihr entgegen gelaufen und umarmte sie herzlich.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich dich im Leben noch mal wiedersehen würde. Komm herein und wärme dich auf.“ Dabei war Chiara keiner Kälte ausgesetzt gewesen. Oma war älter geworden. Viele Falten durchfurchten das liebe Gesicht. Wie immer trug sie einen Dutt in ihren weißen Haaren. Sie ging vor ihrer Enkelin her zum Haus. Chiara klopfte den ärgsten Schnee an den Schuhen am Schuheisen ab. Im Haus hatte Oma Hausschuhe für sie bereitgestellt.

„Erst mal frohe Weihnachten mein Schatz,“ Oma konnte sich nicht einkriegen vor Freude. Chiara bedauerte, dass sie sie so selten besuchte. Schließlich hatte Oma sie und ihren Bruder aufgezogen. Dann hatten beide das Bergdorf verlassen, weil sich in München bessere Arbeitsbedingungen boten. Ihr Bruder war schließlich mit dem Schiff auf Fernreisen gegangen.

Als Chiara ihr sagte, dass sei ein Paar Tage bleiben würde, weinte Oma vor Glück.

„Das ist das größte Geschenk, dass du mir machen kannst.“ Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, sagte sie:

„Zuerst wird gegessen. Schließlich ist Weihnachten.“ Während sie alles fertig machte, deckte Chiara den Tisch. Sie nahm das gute Tafeltuch aus dem Wohnzimmerbuffet. Die alten, goldumrandeten Teller, das blankgeputzte Silberbesteck. Die Kristallgläser stellte sie vorsichtig dazu. Das waren Omas gehütete Schätze. Erinnerungen an frühere Feste überfielen Chiara wie einen Sturzbach. Längst Vergessenes kam wieder an die Oberfläche. Dazu eine Verbundenheit mit dem Land hier, von der sie nicht wusste, dass sie exsistiert hatte. Versonnen drehte sie den Stiel eines Glases in der Hand. Oma drückte mit dem Po die Tür zur guten Stube auf. In beiden Händen hielt sie die Suppenterrine mit Topflappen fest.

„Ich habe deine Lieblingssuppe gekocht,“ unterbrach sie Chiaras Gedankengänge. „Bouillon mit Markklößchen.“ Chiara stellte das Glas hin. Bevor sie aßen, beteten sie. Das immer gleiche Gebet, durch die Generationen hindurch. Hier wurde die Verbundenheit mit den Ahnen besonders deutlich. Wie hatte sie das alles nur vergessen können?

Nach der köstlichen Suppe gab es Hirschbraten. Der Hirsch hatte hier in den Wäldern gelebt. Dazu Rotkohl aus dem Garten. Oma hatte auch die Nudeln selbst zubereitet. Nur bei dem Dessert hatte sie die Errungenschaften der Neuzeit genutzt. Sie servierte Vanilleeis. Dazu aber hauseigene Waldbeerensoße. Oma war im Sommer immer unterwegs, um Früchte und Kräuter zu ernten. Den selbstgemachten Magenbitter musste Chiara dann auch noch probieren. Der war gut, für ihren übervollen Magen.

Satt und müde erzählte sie ihrer Oma von ihrem jetzigen Leben. Oma staunte nur. Hier oben war das Leben ein gleichmäßiger Fluss. Mit den Jahren hatte sie ihr Vieh abgeschafft. Es wurde ihr zuviel. Einzig ein paar Hühner hielt sie sich noch. Zwei Katzen leisteten ihr Gesellschaft.

„Wie kannst du nur so leben?“ Wunderte sich Chiara.

„Es ist nicht einsam. Ich habe Nachbarschaft. Wir besuchen uns gegenseitig. Ich gehe zu Seniorenveranstaltungen im Dorf. Im Sommer bin ich viel unterwegs und treffe immer Leute. Die Zeit, die ich alleine bin genieße ich sehr. Wenn du älter bist, wirst du das verstehen.“ Oma stand vom Sofa auf:

„Wie wäre es jetzt mit Kaffee?“

„Oh nein, ich bin noch so satt. Können wir nicht noch eine Stunde warten?“

„Wann wollen wir dann zu Abend essen?“

„Wie machst du das denn? Soviel isst du doch gar nicht.“

„Nein, natürlich nicht. Dafür sind die Festtage da.“ Chiara rappelte sich aus dem Sessel hoch: „Ich habe ganz vergessen dir dein Geschenk zu geben.“ Sie öffnete ihre Reisetasche und entnahm ihr ein bunt gepacktes Päckchen.

„Ich hoffe, es passt dir.“ Oma öffnete es vorsichtig, damit das Papier nicht zerriss. Darin war ein blauer Rock, einer wie Oma sie immer trug. Nur war dieser aus Jeansstoff und nicht aus Köper. Schön verziert mit Spitzen und Bändern. Dazu ein aufgenähter Beutel. Oma hatte immer etwas zum Einstecken.

„Oh Gott ist der schön,“ staunte Oma.

„Den habe ich selbst genäht. Probiere ihn an.“ Es gab daran nichts zu verändern, obwohl Oma dünner geworden war. Im hinteren Bund war ein Gummiband eingezogen. Da kristallisierte sich in Chiara eine Idee.

Oma holte die Geschenke für Chiara und Lilly. Für Chiara hatte sie dicke Wollsocken gestrickt. Das Geschenk für Lilly fühlte sie ganz weich an.

„Es ist ein Schäfchen, das ich vom letzten Schaffell meiner eigenen Tiere genäht habe,“ erklärte Oma. Chiara umarmte sie glücklich.

„Nähst du immer noch auf der alten Maschine?“

„Natürlich, was glaubst du denn? Für das bisschen, das ich noch nähe, brauche ich keine moderne Maschine.“

Es waren wunderschöne, erholsame Tage, die Chiara hier oben verbrachte. Dann heckten die beiden Frauen einen Plan aus.

 

                                                                        ***

 

Jonas hatte am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertag eine fest schlafende Lilly in ihr Bettchen gelegt. Es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Früh morgens waren sie nach einem guten Frühstück zum Bahnhof gefahren. Dort hatten die Männer einen Treffpunkt ausgemacht. Gemeinsam fuhren sie mit dem Zug in die Berge. Sie lärmten im Zug und fanden kaum ein Ventil für ihre Vorfreude, Kinder wie Männer.

Es war ein flacher Hügel, auf dem sie ihren Spaß hatten. Rick durfte als ältestes der Kinder sein Glück auf Skiern probieren. Unermüdlich und unverdrossen übte er. Bis zum Abend hatte er es geschafft, den Hügel sturzfrei zu bewältigen. Die Väter fuhren mit den Kleinsten gemeinsam auf den Schlitten. Wolfi und die größeren Kinder fuhren alleine oder in Grüppchen. Zwischendurch gab es für alle heißen Tee und eine warme Suppe.

Jonas hatte nicht gewusst, welche Freude man mit Kindern haben konnte. Für einen Tag vergaß er alle Probleme und wurde selbst wieder zum Kind.

Bevor es dunkelte, zogen sie in einer langen Reihe zum Bahnhof. Die Kleinsten mussten getragen werden. Jonas kaufte am Brezelstand Brezel für alle. Dann zockelten sie zum Bahnsteig. Alle waren müde. Auf der Heimfahrt gab es keinen Radau oder Lärm. Alle waren froh im warmen Abteil zu sitzen und sich aufzuwärmen. Bevor sich jeder auf den Weg nach Hause machte, wurde das nächste Treffen vereinbart.

Jonas und Lilly verbrachten schöne, ungestörte Tage. Er besuchte mit ihr ein Kindermuseum. Doch Lilly war noch etwas zu klein dazu. Er las ihr vor, das fand sie sehr viel spannender. Sie besuchten einen Wasserpark und gingen ganz schick in einer Pizzeria zum Essen.

Am letzten Abend rief Chiara an, dass sie wieder zu Hause sei. Außerdem verkündete sie, dass sie eine Ãœberraschung habe. Da hielt es Lilly nicht länger aus. Sie wollte zur Mama. Ergeben brachte Jonas das Kind zurück. Kaum hatte Chiara die Tür geöffnet, als Lilly fragte: „Und wo ist die Ãœberraschung?“

„Dann geh mal in die Küche,“ forderte ihre Mutter sie auf. Jonas war in der Tür stehen geblieben.

„Du kannst auch in die Küche gehen.“ Chiara schloss die Tür hinter ihm. Jonas war wirklich sehr überrascht.

„Oma,“ rief er: „Du hier? Dich habe ich schon ewig nicht mehr gesehen.“ Er begrüßte sie freudig. Sie umarmte ihn.

„Habt ihr schon etwas gegessen?“ Holte Chiara die Beiden auf den Boden zurück.

„Nein, ich musste sofort losfahren. Lilly war nicht mehr zu halten.“ Die Frauen hatten Leckereien aus Omas Küche mitgebracht. Sie aßen alle mit Appetit.

Lilly erzählte von dem Rodelausflug. So erfuhr Chiara genaueres von Jonas Verbindung zu den alleinerziehenden Männern. Er hat sich ganz schön gemausert, dachte sie. Niemand fragte nach dem Verbleib von Manon.

Diese würde erst am Neujahrstag nach Hause zurück kehren. Silvester wollte sie ungestört von jemandes Kind feiern.

„Warum kommst du an Silvester nicht zu uns?“ Fragte Oma unbeirrt.

„Ja, wenn ich darf,“ antwortete er. Chiara zierte sich nicht lange.

„Warum nicht. Lilly hat bestimmt ihre Freude.“

 

Jonas beschäftigte sich bis zu Silvester im Büro. Es gab einiges aufzuarbeiten. Er dachte lange nach. Dann griff er entschlossen zum Telefonhörer.

Bevor er nach Hause ging, kaufte er Knallerbsen, Tischraketen und Blei zum Gießen. Zu Hause packte er noch Champagner in die Tasche. Dann fuhr er nach Hause. Wieso nach Hause, dachte er? Das hier war sein zu Hause. Er fühlte sich nicht mehr wohl darin. Plötzlich sah er die Wohnung mit anderen Augen. Das war Manons Zuhause. Sie hatte es nach ihren Wünschen und Vorstellungen eingerichtet. Er hatte immer nur gezahlt. Von einem plötzlichen Impuls getrieben, räumte er die Wohnung um.

Dann setzte er sich ein letztes Mal in diesem Jahr an den Computer, um zwei Briefe zu schreiben. Er musste sie noch zur Post bringen, damit sie fristgerecht gestempelt wurden.

 

Sie hatten eine kleine Familienparty. Zuerst wurde gegessen. Dann wurde mit Lilly Blei gegossen. Das Tischfeuerwerk wurde gezündet. Auf dem Balkon durfte sie die Knallerbsen werfen. Dabei mussten die Erwachsenen helfen. Irgendwann war Lilly auf dem Sofa eingeschlafen. Ihr Vater trug sie ins Bett und Chiara zog sie um. Kurz vor Mitternacht betraten die drei den Balkon und erwarteten mit Spannung die Schläge der Turmuhr. Als es Mitternacht schlug, prosteten sie sich zu und wünschten ein gutes neues Jahr. Dabei umarmten sie sich frierend auf dem Balkon. Jonas küsste zart Chiaras Wange. Sie ließ es geschehen. Oma freute sich.

 

                                                                        ***

 

Neujahr spät nachmittags kam Manon nach Hause. Sie war noch etwas verkatert, denn sie hatte ausgiebig und lange gefeiert. Überrascht blieb sie im Wohnzimmer stehen. Jonas hatte ihre Sachen aus dem Schlafzimmer geräumt. Ihr Bettzeug lag als Haufen auf dem Sofa. Ihre Koffer waren gepackt. Sie schrie vor Wut. Eigentlich wollte sie Jonas sowieso verlassen. Aber dann, wenn ihr es passte. Ihre Vorbereitungen waren noch nicht beendet. Sie schwankte noch zwischen zwei Kandidaten. Der Rest war schon ausgesiebt. Außerdem hatte sie geplant Jonas mit der Arbeit sitzen zu lassen. Damit er ja genau wusste, was er mit ihr verlor.

Sollte er doch Lunte gerochen haben? Sie erinnerte sich an den Abend, als Jonas wach im Bett gelegen hatte, als sie nach Hause kam. Sollte er am Auto von José und ihr vorbei gekommen sein? Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihr.

Seit diesem Tag hatte er sich verändert. Das wurde ihr erst jetzt bewusst.

Ha, dachte sie, er hat versäumt mir fristgerecht zu kündigen. Das bedeutet, dass er mir noch ein halbes Jahr Gehalt zahlen muss. Die ich natürlich krank sein werde. Sie wanderte durch die Wohnung und packte noch alles ein, was ihr gefiel.

Sie war kaum fertig, als sie Jonas kommen hörte. Sofort stellte sie ihn zur Rede. Sie warfen sich gegenseitig alle Fehler an den Kopf.

„Du kannst mich mal,“ erwiderte Manon am Ende.

„Ich gehe jetzt in den Bayrischen Hof. Meine Sachen lasse ich abholen. Du musst mir noch ein halbes Jahr Gehalt zahlen, weil du mir nicht rechtzeitig gekündigt hast.“

„Aha! So ist das also. Soll ich dir deine Post nachsenden oder holst du sie ab?“ Mit der Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie war etwas irritiert.

„Sende sie nach. Hier werde ich nie wieder einen Schritt hinein setzten.“

„Gut, jetzt gib mir die Schlüssel zurück.“ Sie nahm den Schlüsselbund mit den Schlüsseln von der Wohnung und dem Büro und warf ihn Jonas vor die Füße. Hocherhobenen Hauptes rauschte sie davon. Nur ihre Reisetasche nahm sie mit. Jonas war froh, dass es so schnell zu Ende gegangen war. Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er öffnete sie und tat einen langen Zug aus der Flasche. Mit der Flasche in der Hand betrat er das Wohnzimmer.

 

Wie spät ist es denn, dachte er. Er schaute zur Kaminuhr. Sie war ein teures und ausnehmend schönes Stück. Nur, der Platz der Uhr war leer. Ein Verdacht keimte in ihm auf. Er schaute die Koffer von Manon durch. Hier fand er viele Wertgegenstände aus seinem Haushalt. Dieses Luder, dachte er wütend. Noch nicht einmal dazu ist sie sich zu schade. Zum Schluss fand er noch seine wertvollsten Schmuckstücke in ihrer Unterwäsche versteckt.

 

Manschettenknöpfe mit Brillanten, Krawattenhalter mit Edelsteinen besetzt. Eine schwere

Goldkette, die er nie trug. Den Universitätsring aus den USA von seinem verstorbenen Onkel. Dafür gibst du mir die Geschenke zurück, die ich dir gemacht habe. Eigentlich hatte er sie ihr überlassen wollen. Er holte den Ordner der Schmuckstücke heraus. Sie waren für die Versicherung gelistet und fotografiert worden. Habe ich ihr soviel geschenkt, dachte er erstaunt. Sofort setzte er sich an den Computer und verlangte schriftlich die Herausgabe des Schmucks. Er überlegte noch eine Weile. Er war Anwalt und kannte sich vom Studium noch etwas aus. Sie hatte ihm gedroht nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Sollte sie keine Krankmeldung nachschieben, konnte er sie fristlos entlassen. Er nahm den Mantel und ging noch mal aus dem Haus. Er fuhr in das Büro und holte sich die Gesetzesbücher über Arbeitsrecht hervor.

 

 

 

 

12

Oma fuhr wieder nach Hause. Nicht ohne Chiara das Versprechen abgenommen zu haben, sich jetzt häufiger zu sehen.

Lilly ging am nächsten Tag zum ersten Mal in ihren neuen Kindergarten. Jonas war es gelungen sie in einem privaten und sehr teuren Kindergarten unterzubringen. Ein iranischer Diplomat musste überraschend mit seiner Familie nach Teheran zurück. So konnte Lilly schnell unterkommen. Chiara und Jonas brachten sie das erste Mal gemeinsam hin. Es war ein weites, schönes Gebäude. Es lag in einer parkartigen Anlage mit großem Spielplatz. Spezialisierte Erzieherinnen und auch Erzieher, betreuten die Kinder in kleinen Gruppen. Es gab frühkindliche Erziehung und eine Fremdsprache wurde vermittelt. Die Eltern mussten nur wählen. Englisch, französisch oder chinesisch wurden angeboten. Chiara war von der Wahl ihres Mannes beeindruckt.

„Wie viel kostet mein Anteil daran?“ Fragte sie flüsternd.

„Gib mir soviel, wie du denkst.“ Solche Großmütigkeit war sie von ihm nicht gewohnt. Lilly fühlte sich gleich wohl in ihrer Gruppe. Jonas brachte Chiara anschließend nach Hause und fuhr dann in das Büro.

 

Kurz vor acht Uhr hatte Frau Maus die Empfangshalle betreten. Frau Holzer hatte Frühdienst. „Hallo,“ begrüßte sie Frau Maus freudig: „Sieht man sie auch mal wieder?“

„Ja, jetzt öfter.“

„Wieso das?“ Frau Maus beugte sich flüsternd über den Tresen. Frau Holzer beugte sich ihr entgegen.

„Jonas hat Manon gekündigt!“

„Was sie nicht sagen.“ Na, das war eine Neuigkeit! Das würde ganz schnell hier im Haus die Runde machen. Die Wenigsten konnten Manon leiden.

„Ja aber,“ begann Frau Holzer: „Manon hat doch eine Kündigungsfrist.“

„Ja, aber wir wissen nicht, ob sie arbeiten kommt oder nicht. Deshalb bin ich heute schon gekommen. Jonas will sich auch nicht die Kunden vergraulen lassen, wenn sie jetzt noch arbeitet. Wer weiß, was sie noch im Schilde führen könnte.“ Die Frauen schauten sich verständnisvoll an.

“Ich gehe dann mal hoch. Bis später“

„Arbeiten sie jetzt wieder voll hier?“ Rief ihr Frau Holzer fragend nach.

„Nur, bis wir eine neue Kraft haben. Und diesmal... ,“ Frau Maus zwinkerte ihr zu: „.. diesmal suche ich die Sekretärin aus.“

 

Jonas kam etwas später.

„Ist Frau Meier gekommen?“ Fragte er Frau Holzer.

„Nein, nur Frau Maus.“ Jonas sah ihr in die Augen. Aha, dachte er, sie weiß es auch schon.

Manon meldete sich erst zwei Wochen später mit einer neuen Adresse. Jonas sandte ihr die Koffer und Post nach. Den Aufschrei, als sie die Post öffnete konnte Jonas förmlich hören. Sie ließ durch einen Anwalt ihre Forderungen mitteilen. Allerdings hatte sie die Fristen versäumt.

Ihr Anwalt musste ihr die Schmuckstücke förmlich aus der Hand reißen, um sie Jonas zuzusenden.

Bald danach stabilisierte sich die Zahl der Klienten und nahm mit der Zeit noch zu. Frau Maus ließ sich Zeit mit der Suche nach einer neuen Kraft. Das Rentendasein hatte ihr gar nicht gefallen. Als die Arbeit immer mehr wurde, stellte sie noch eine zweite Kraft ein. Damit behelligte sie Jonas nicht. Als Jonas eines Morgens ins Büro kam, war die neue Sekretärin einfach da.

 

                                                                        ***

 

Nun fuhr, beziehungsweise flog, Chiara zum ersten Mal nach Mailand. Arturo Cellini

höchstpersönlich holte sie am Flughafen ab. Er machte eine kleine Stadtrundfahrt mit ihr, bevor er zum Modestudio fuhr. Chiara bewunderte die Stadt, die sie zum erstenmal sah. Vor allem der Dom war mächtig und prächtig.

Das Studio lag etwas außerhalb in einem Gewerbegebiet. Arturo führte Chiara durch alle Abteilungen und stellte sie dabei dem Personal vor. Einen besonderen Mann hob er sich bis zum Schluss auf: Enrico di Salti. Seine Stellung war Chiara zuerst nicht klar. Sie schätzte ihn auf frühe zwanzig. Vielleicht irrte sie sich auch, denn er hatte feminine Gesichtszüge. Dazu passte die kleine, filigrane Statur. Lange, schwarze Locken reichten bis zur Brust. Das erinnerte Chiara an eine Skizze von da Vinci. Einen nackten Jüngling mit steil erigiertem Penis. Er hier trug einen schwarzen, moirésierenden Anzug, wie Cellini einen auf der Messe getragen hatte. Darunter ein pinkfarbenes, enganliegendes  Hemd. Goldkettchen schmückten Hals und Hände. Seine Schuhe hatten Plateausohlen und Absätze. Er hatte eine bevorzugte Stellung im Hause. Plötzlich fiel bei Chiara der Groschen. Der Geck war der Geliebte von Arturo und seine Muse. Chiara war er nicht geheuer. Sie hielt die Kontakte zu ihm auf das Nötigste beschränkt.

Das Studio war sehr groß. Viele Menschen arbeiteten hier. Chiara brauchte einige Zeit, bis sie  alle kannte. Die Seele des Geschäftes war Maria Morena, die rechte Hand Arturos. Chiara lernte sie mit der Zeit immer besser kennen und schätzen. Maria Morena war über die vierzig hinaus und die Seele des Betriebs. Sie holte ihren Chef  immer wieder auf die Erde zurück. Denn er verstieg sich häufig in himmlische Modesphären. Meistens waren sie nicht umzusetzen und selten zu verkaufen. Damit hielt sie das Geschäft wirtschaftlich am Laufen. Sie war eine rassige, etwas mollige Italienerin. Verheiratet, mit Kindern. Sie war ein Muttertyp. Das brauchte Arturo. Für Enrico die Salti hatte sie nur Verachtung übrig. Ihre dunklen Augen waren dick mit Kajal umrandet. Seit einem Ägyptenurlaub war sie Ägyptenfan. Eine kurze gerade Nase residierte über vollen Lippen mit einem Anflug von Damenbart. Ein schmales Kinn wurde von kastanienbraunen Locken umrahmt. Mächtige, klirrende Kreolen blitzten unter dem vollen Haar hervor. Gekleidet war sie meistens in Kleider oder Blusen mit Panoramablick auf einen vollen Busen. Sie liebe Volants. Oben herum und an den Säumen. Ihre kurzen, kräftigen Beine betonte sie mit Pumps mit Blockabsatz.

 

Es wurde eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Chiaras Ideen und die Umsetzung in der Schneiderei waren sehr erfolgreich. Ihre Arbeit nahm überhand. Im Modehaus Rosenberg wurde eine neue Schneiderin angestellt. Sarah Rosenbergs Modehaus expandierte.

Eines Abends hatte sie ein Gespräch mit Chiara.

„Es wird mir alles zuviel,“ sagte sie. Sie dachte kurz nach.

„Ich möchte mich von dem Geschäft zurück ziehen. Zumindest von einem Teil. Es ist so gewachsen. Davon hätte ich nicht zu träumen gewagt.“ Sie sah Chiara in die Augen:

„Ich möchte, dass sie das Geschäft übernehmen.“ Chiara hatte damit schon gerechnet. War dann aber doch überrascht, dass es so schnell ging.

„Das muss gut überlegt sein,“ meinte sie.

„Wir werden noch viel besprechen müssen.“

„Es soll ja auch nicht sofort sein,“ lächelte Sarah Rosenberg.

 

                                                                        ***

 

Jonas hatte mit dem zweiten Brief den er an Silvester geschrieben hatte, die Wohnung gekündigt. Nichts sollte mehr an Manon erinnern. Er bezog eine kleine Zweizimmerwohnung.

Er hatte abends viel Zeit zum Nachdenken. Dabei analysierte er das Liebesverhältnis zu Manon. Wie er dazu gekommen war sich von dieser Harpie umgarnen zu lassen. Wie konnte er ein Klasseweib wie Chiara gegen dieses Biest eintauschen? Wie blind war er gewesen?

Er musste Chiara zurück erobern! Er spürte, dass er sie mehr liebte als zuvor. Er hatte nicht zu schätzen gewusst, was sie für ihn getan hatte. Was sie für ihn geopfert hatte. Wie egoistisch bin ich gewesen?, warf er sich vor. Wie leicht hatte er sich von Manon überzeugen lassen. Sie hatte seine Männlichkeit angestachelt. Jetzt wurde ihm klar, dass ein ganzer Mann etwas anderes war. Kein potenter Gockel, der seine Männlichkeit nach der Zahl der Hühner misst, die er gehabt hatte. Ein echter Mann stand zu seinen Überzeugungen. Zur Verantwortung, die er gegen andere hatte. Und gegen sich selbst. Schützen, er musste das schützen, war ihm lieb und teuer war.

Seine Liebe zu Chiara wuchs ins Unermessliche. Sie schmerzte körperlich.

 

Er begann sie neu zu umwerben. Lud sie zum Ausgehen ein. Brachte ihr Blumen und Geschenke mit.

Chiara genoss seine Aufmerksamkeit. Sie ließ ihn zappeln. Obwohl sie ihn immer geliebt hatte, wollte sie es ihm nicht zu leicht machen. Niemals war ihr der Gedanke gekommen sich nach einem neuen Partner umzusehen.

Ihre Liebe zu Jonas war wieder hell erblüht, als er sich so sehr  für Lilly und einen guten Kindergarten eingesetzt hatte.

Übereinstimmend mit Jonas hatte sie ein Au Pair genommen. Sie kam aus Chile und hieß Maria. Sie war vorher in einem anderen Haushalt gewesen. Dort hatte sie sich nicht wohl gefühlt. Sie war als Dienstmädchen missbraucht worden. Von früh bis spät hatte sie den Haushalt putzen müssen, kochen, bedienen und sich um die Kinder kümmern. Die Gesellschaft für au Pair suchte dringend eine neue Stelle für sie. So kam Chiara schnell an ein au Pair.

 

Lilly blieb jetzt wieder ganz bei Chiara. Allerdings kümmerte sich Jonas als ganzer Vater um die Kleine.

Seine Gruppe alleinerziehender Männer besuchten er und Lilly regelmäßig. Für Jonas war es immer eine Abwechslung in der Männergruppe zu sein. Lilly hatte eine Menge Spielgefährten. Jonas war eines Tages um juristische Hilfe gebeten worden. Seitdem beriet er „seine Männer“ hin und wieder.

 

Eines Morgens erwachte Chiara schon sehr früh. Sie hatte einen Traum gehabt. Darin sah sie Oma in dem Rock, den sie ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Seit dieser Zeit trug sie eine Idee in sich, die sie wegen der vielen Arbeit vernachlässigt hatte. Jetzt muss es werden, dachte sie, wenn mich schon mein Unterbewusstsein daran erinnert.

 

Es war noch dunkel. Ruhe herrschte im Haus und auf der Straße. Chiara setzte sich an ihren Schreibtisch. Ein Stapel Zeichenblätter, Stifte und Wasserfarben lagen hier immer bereit. Sie begann zu zeichnen. Verwarf es wieder. Zeichnete ein zweites, drittes... Die Blätter landeten auf dem Boden. Bald war der Boden um den Schreibtisch bedeckt. Nur wenige Zeichnungen landeten in einem Körbchen.

Chiara streckte und reckte die Glieder. Sie stand auf. In der Küche bereitete sie sich eine Kanne Tee. Mit einer Tasse in den Händen stellte sie sich an das Fenster. Sie stand im Dunkel und schaute auf die Straße. Am Horizont blaute der Tag. Es würde ein schöner Frühlingstag werden. Die Bäume waren zart belaubt. Frau Müller führte ihren Dackel zum ersten Spaziergang des Tages. Waldi verrichtete sein Geschäft. Derweil trat der Mann von gegenüber an sein Auto. Er blieb demonstrativ stehen und schaute zu Frau Müller. Diese nahm resigniert ein Tütchen aus der Jackentasche und entfernte das Stück des Anstoßes. Dann nickte der Mann zufrieden, stieg in sein Auto und fuhr davon. Chiara lächelte. So erwachte die Welt in dieser Straße der Großstadt.

Danach zeichnete Chiara weiter. Sie musste neues Papier aus ihrem Vorrat holen. Der Blätterbelag auf ihrem Boden wurde immer dichter. Die brauchbaren Ideen vermehrten sich ebenso. Diese würden später zusätzlich nach Brauchbarkeit ausgewählt.

In der Wohnung erklangen Geräusche. Maria war aufgestanden. Chiara hörte sie im Bad hantieren. Ich höre jetzt besser auf, dachte sie. Sie räumte den Schreibtisch auf. Die Blätter am Boden sammelte sie ein. Sie schob sie alle durch den Shredder. Eigentlich schade, die Kinder im Kindergarten könnten noch die Rückseiten bemalen, dacht sie. Aber es bestand die Gefahr, dass andere Menschen ihre Vorlagen für sich benutzen. Sie sagte niemandem etwas. Vorerst wollte sie es für sich behalten.

Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Lilly und Maria fuhr sie wieder zum Modegeschäft. Maria brachte Lilly in den Kindergarten. Maria kümmerte sich um den Haushalt. Das hatte sie freiwillig angeboten. Chiara zahlte ihr zusätzlich dafür.

Im Modesalon betrachtete Chiara jetzt die Stoffe und das Zubehör auf Tauglichkeit für ihre Pläne. In Katalogen und im Internet informierte sie sich. Während sie ihrer üblichen Arbeit nachging, lief im Hinterkopf ihre eigene Modenschau ab. Der Tag verging wie im Flug.

 

Jonas hatte Chiara für den Abend zum Essen eingeladen. Danach plante er, mit ihr tanzen zu gehen. Eigentlich hätte sie lieber an ihren Sachen weiter gearbeitet. Andererseits machte es  ihr Spaß sich verwöhnen zu lassen. Jonas bemühte sich sehr um ihre Gunst. Chiara erwartete, dass er ihr bald wieder einen Antrag machen würde. Sie wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Erst musste sie von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt sein. Obwohl sie ihn unendlich liebte, wollte sie nicht noch einmal benutzt werden. Das würde sie für immer verletzen. Für Jonas wäre es eine runde Sache sich wieder in das gemachte Nest zu setzen.

 

                                                                        ***

 

Chiara war wieder auf dem Weg nach Mailand.  Sie saß in der hintersten Reihe der Businessklasse am Fenster. Das Flugzeug musste jeden Moment starten. Chiara war in Arbeit am Laptop vertieft. Sie wollte noch schnell eine Aufgabe erledigen. Gleich würde sie das Gerät ausschalten müssen.

Plötzlich wurde die Tür noch einmal geöffnet. Chiara hörte die Stimmen von einem Mann und einer Frau.

Die Stimme der Frau kenne ich doch, dachte sie. Vorsichtig hob sie ihren Kopf über die Rückenlehne ihres Vordermanns. In der übernächsten Reihe vor ihr nahmen Manon und ein Mann Platz. Manons Stimme war so schrill, dass sie alles hören konnte. Chiara setzte sich wieder bequem in ihre Ecke. Sie schaltete das Gerät aus. Jetzt war es viel interessanter, der Konversation von Manon und ihrem Begleiter zuzuhören.

Manon erging sich darüber, dass sie sich schon lange auf die Modenschau in Mailand gefreut habe. Aha, dachte Chiara, da sieht man sich vielleicht wieder. Als die Flughöhe erreichtwurde, servierte die Stewardess Getränke. Chiara nahm einen Orangensaft ohne Eiswürfel. Manon und der Fremde tranken Champagner. Die beiden sprachen  Belangloses. Chiara nickte ein. Plötzlich drang der Name Jonas in ihr Ohr. Sie war noch nicht ganz wach, da hörte sie wieder den Namen. Das machte Chiara jetzt hellwach. Sie spitzte die Ohren. „...Da habe ich ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren. So ein Prolo! Lässt sich von seiner Exfrau niedermachen.  Wenn sie gesagt hat: “Springe,“ dann hat er nur noch gefragt: „Wie hoch?“ So was ist kein richtiger Mann.“

„Was ist für dich ein richtiger Mann?“ Fragte ihr Begleiter.  „Ach Winfried Darling, ein Mann wie du. Ein Mann zu dem ich aufschauen kann. Der mich beschützt. Der mir zeigt, dass er ein Mann ist.“

Ein leichtes Essen wurde serviert und die Unterhaltung verstummte. Vor der Landung verstaute Chiara ihre Sachen in der Tasche. Sie wartete mit Aussteigen, bis Manon und ihr Begleiter das Flugzeug verlassen hatten.

 

Mit großem „Hallo“ wurde sie im Modeatelier von Arturo Cellini empfangen. Diese Woche war die große Modenschau. Alles war aufgeregt. Die Mitarbeiter schwirrten durcheinander. Ãœberall wurde genäht, anprobiert, verbessert, verworfen, neu gemacht. Der einzige ruhige Mitarbeiter war Maria Morena. Sie hielt das Heft in der Hand und dirigierte. Lobte hier, machte Mut, brachte Kritik zur Verbesserung an. Chiara wurde von der Hektik angesteckt.

Abends saß man bei einer Flasche Rotwein zusammen und besprach das weitere Vorgehen. Neue Ideen wurden eingebracht.

Dann war es soweit. Der Saal, in dem die Schau stattfand, war brechend voll. Bis an den Laufsteg standen die Reporter. Ihre Kameras und Blitzgeräte einsatzbereit. In den Garderoben wurde letzte Hand angelegt. Dann ging es los. Chiara verbrachte bange Minuten. Sie lauschte auf die Stimmung im Saal. Dann hörte sie begeistertes Rufen. Sie atmete tief aus. Bei manchen Modellen wurde spontan geklatscht. Chiara stellte sich hinter den Vorhang und lugte hinaus. Plötzlich sah sie Manon mit einer großen Sonnenbrille und den Fremden in der ersten Reihe sitzen. Auf seiner anderen Seite saß eine sehr junge, wunderschöne rassige Frau. Er hatte den Arm um sie gelegt. Manon schaute böse zu den beiden hinüber.

 

Dann war die Modenschau zu Ende. Frenetischer Beifall tobte durch den Saal. Die Models präsentierten sich am Ende gemeinsam. Dann kam Arturo Cellini dazu. Bravo Rufe ertönten. Er verneigte sich huldvoll. Er ging den Laufsteg hinein ins Publikum. Die Models folgten. Hier nahm er wie ein König die ihm gebührenden Ovationen entgegen.

Später gab es einen Empfang mit Champagner und Canapés. Die VIPs standen mit ihren Gläsern herum und feierten sich selbst. Chiara schlängelte sich durch. Plötzlich sah sie Manon mit einem anderen Mann reden. Als er sich abwandte, um neue Gläser mit Champagner zu

holen, hob Manon verstohlen ihre Sonnenbrille. Chiara hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Manon hatte ein frisches, leuchtendes Veilchen! War Winfried Darling der richtige Mann nach ihrem Geschmack? Ãœberlegte Chiara.

Abends feierte die ganze Belegschaft das Ereignis. Arturo bedankte sich öffentlich dabei für die gute Arbeit von Chiara.

 

                                                                        ***

 

Erst einmal wollte Chiara nun ihre eigene Modeidee umsetzten.

Wieder zu Hause widmete sich Chiara jetzt ihren Plänen. Sie besprach sich mit Sarah Rosenbaum. Sie fand das eine gute Idee. Sie wollte ihr dafür ihr Modehaus zur Verfügung stellen. Gemeinsam arbeiteten sie alle an dem Projekt.

Mit Hilfe vom Team Rosenbaum wurden die ersten Stücke hergestellt. Nach langem Überlegen hatte Chiara den Namen für ihr eigenes Label gefunden: JeansAdel. Sie stellte hochklassige Nobelware auf Jeansbasis her. Die Schnitte waren extravagant. Die Stoffe wurden bestickt, bemalt oder mit Perlen, Edelsteinen und Pelzen  besetzt. Probeweise wurden die ersten Stücke im Schaufenster ausgestellt. Man wollte die Reaktion des Publikums testen. Das war ein Reinfall. Die Kunden des Hauses Rosenbaum waren eine andere Generation. So versuchte Chiara es über das Modehaus Cellini. Unter Mithilfe von Arturo wurden die Stücke der Renner. Chiara hatte sich aus eigener Kraft Wohlstand und Ansehen erworben.

 

 

Jonas hielt es nicht mehr aus. Chiara kam ihm kein bisschen entgegen. Er vernachlässigte seine Arbeit, war appetitlos und fahrig. Frau Maus sprach ihn darauf an:

„So geht das nicht weiter Herr Winkler. Sind sie krank?“ Da schüttete Jonas ihr sein Herz aus. „Da hilft nur eines,“ sagte sie bedeutungsvoll.

„Ja, was?“

„Fragen! Fragen sie Chiara ganz einfach. Wenn sie ja sagt, haben sie gewonnen.“

„Und wenn sie nein sagt?“ forschte er leise.

„Dann wissen sie wenigstens Bescheid.“ Das war der Rat einer erfahrenen Frau.

 

Jonas bereitete alles sorgfältig vor. Er besorgte Theaterkarten und bestellte einen Tisch in einem teuren Restaurant. Beim Juwelier suchte er einen schönen Brillantring aus.

Als der besagte Abend nahte, war er nervös wie ein Abiturient vor der letzten Prüfung.

Chiara bemerkte wohl seine Absicht. Sie hatte es erwartet und spielte das Spiel mit. Aber die Zeit verrann und Jonas schob es immer weiter vor sich her. Spät in der Nacht saßen sie auf einer Bank. Ruhig strömte die Isar. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in ihr. Chiara sah ihm in die Augen.

„Was ist los. Du hast doch etwas.“

„Ja,“ druckste er herum. „Die Sache ist die...“ Er fingerte nach der Schachtel mit dem Ring. „Ja?“ Fragte Chiara harmlos.

„Ich will...“ Fuhr er fort. Chiara spitzte die Ohren. Was er will, dachte sie. Es kommt doch darauf an, was ich will.

„Nein, andersherum,“ sagte er.

„Wir sind einen weiten Weg gegangen...“ Er wusste nicht weiter. Chiara streifte die Schuhe von den Füßen. Das wird eine längere Geschichte, überlegte sie. Jonas legte den Arm um Chiara.

„Frierst du?“

„Nein,“ sie schüttelte ihn ab. „Können wir nach Hause gehen?“ Störte sie die Stimmung. Jonas sah seine Felle davon schwimmen. Jetzt oder nie. Er nahm seinen Mut zusammen und fiel vor ihr in den Kies des Gehwegs auf das Knie. Die Steine, die ihm in das Knie drangen spürte er nicht.

„Chiara,“ er presste seine Hand aufs Herz.

„Chiara, willst du meine Frau werden?“ Jetzt war es heraus. Er senkte den Kopf um die Entscheidung ritterlich aufzunehmen.

„Das muss ich mir überlegen,“ tat Chiara überrascht. Plötzlich merkte Jonas die schmerzenden Steine unter dem Knie. Er erhob sich schnell.

„Ich weiß nicht, wie dauerhaft deine Entscheidungen sind. Das was ich erlebt habe, will ich nie wieder durchmachen. Du weißt gar nicht, wie sehr du mich verletzt hast.“

„Ach, Chiara, Liebe. Ich bereue so sehr, dass ich dich wegen dieser Hexe verlassen habe. Sie hat mich völlig in ihren Bann gezogen.“

„Aha, du bist ein unschuldiges Opfer?“ Fragte Chiara lauernd.

„Zu dieser Sache gehören immer zwei. Du warst alt genug, um deine Entscheidung zu treffen. Wie sagte Dichtervater Goethe so treffend in einem Gedicht?“ Sie machte eine Pause und schöpfte Atem:

„Halb zog sie ihn. Halb sank er hin.“

„Oh Chiara. Ja, ich bin selbst Schuld, dass ich ihr auf den Leim gegangen bin. So etwas wird nicht wieder vorkommen. Das habe ich gelernt.“ Er fasste ihre Hände:

„Auf immer und ewig,“ sagte er.

„Nie wieder soll uns etwas trennen!“

„Und wenn doch?“

„Für deine Sicherheit werde ich mein ganzes Hab und Gut auf dich überschreiben. Du sollst nie wieder darben.“

„Das werde ich auch nicht, denn ich kann Lilly und mich selbst ernähren.“ Er sah sie bittend an:

„Lass mich wieder ein Mitglied der Familie sein.“ Chiara lächelte:

„Ja,“ antwortete sie einfach.

„Wie bitte: ja?“

„Ich sagte ja. Du hast mir doch eine Frage gestellt.“ Erst war er völlig perplex.

„Juchhu,“ schrie er dann. Er riss sie in seine Arme und wirbelte sie herum, dass die Steine flogen. Dann stellte er sie behutsam ab. Sanft legte er seine Arme um sie und küsste sie sachte auf den Mund. Sie öffnete die Lippen und drängte sich an ihn. Der Kuss wurde immer fordernder. Sie küssten sich wild und gierig. Dann löste sie sich von ihm:

„Komm, fahren wir nach Hause, wir haben genug Zeit verplempert!“

 

                                                                  

 

                                                                       

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                                           

 

 

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NanaAG
Als Kind habe ich alles gelesen, was ich von Karl May kriegen konnte, denn mein Zuhause war ein Käfig. Ich wollte frei sein und Abenteuer erleben...
Ich hab´s bekommen.

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woltersche Bin zwar noch nicht fertig, aber was ich bisher gelesen habe, gefällt mir sehr gut. Echt Klasse!!!

LG woltersche
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baesta Re: Re: Gefällt mir gut, Deine -
Zitat: (Original von NanaAG am 05.07.2012 - 16:19 Uhr)
Zitat: (Original von baesta am 05.07.2012 - 01:14 Uhr) Geschichte.Konnte gar nicht aufhören zu lesen. Keine schwülstige Lovestory, bis auf den Schluß.
Ein kleiner Fehlerteufel hat dennoch seinen Schabernack getrieben, aber die Fehler findest Du beim Ãœberlesen sicher selbst.
Die fünf Sterne und auch die 5 Federchen hast Du Dir dennoch redlich verdient.

Liebe Grüße
Bärbel


Danke
ich bin für jede Kritik dankbar. Diese Art der Geschichte resultiert noch aus meinem Plan erstmal für Groschenromane zu schreiben. (siehe meine Seite). Auf den Fehler wurde ich schon aufmerksam gemacht und habe es verbessert, hat wohl nicht geklappt.
Liebe Grüße
Ursula



Schau mal Seite 122 7. Satz. Du hast geschrieben: ".....,dass ihre Frau in der Nähe ist und sich zu ihnen SETZTEN will.." Sicher wolltest Du schreiben:..."setzen wil.." Ich habe dies auch nochmal irgendwo gelesen, finde aber die Stelle nicht mehr. Mir geht es aber auch so, beim Überlesen der eigenen Texte fallen mir die Fehler erst sehr viel später auf.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
NanaAG Re: Gefällt mir gut, Deine -
Zitat: (Original von baesta am 05.07.2012 - 01:14 Uhr) Geschichte.Konnte gar nicht aufhören zu lesen. Keine schwülstige Lovestory, bis auf den Schluß.
Ein kleiner Fehlerteufel hat dennoch seinen Schabernack getrieben, aber die Fehler findest Du beim Ãœberlesen sicher selbst.
Die fünf Sterne und auch die 5 Federchen hast Du Dir dennoch redlich verdient.

Liebe Grüße
Bärbel


Danke
ich bin für jede Kritik dankbar. Diese Art der Geschichte resultiert noch aus meinem Plan erstmal für Groschenromane zu schreiben. (siehe meine Seite). Auf den Fehler wurde ich schon aufmerksam gemacht und habe es verbessert, hat wohl nicht geklappt.
Liebe Grüße
Ursula
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Gefällt mir gut, Deine - Geschichte.Konnte gar nicht aufhören zu lesen. Keine schwülstige Lovestory, bis auf den Schluß.
Ein kleiner Fehlerteufel hat dennoch seinen Schabernack getrieben, aber die Fehler findest Du beim Ãœberlesen sicher selbst.
Die fünf Sterne und auch die 5 Federchen hast Du Dir dennoch redlich verdient.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
NanaAG Re: freut mich LG Ursula -
Zitat: (Original von MarianneK am 15.06.2012 - 21:32 Uhr) Da ich nach meiner Scheidung als alleinerziehend, wieder neu anfangen musste und das Glück hatte 2 Monate danach wieder an meinen alten Arbeitsplatz zurück konnte, hat mich diese Geschichte interessiert. Zuerst wollte ich sie in Abschnitte lesen, aber dann habe ich sie doch in einem Rutsch fertig gelesen und sie hat mir sehr gut gefallen.

Liebe Grüße
Marianne

Vor langer Zeit - Antworten
NanaAG Re: gut beobachtet! Danke -
Zitat: (Original von Strigoia am 15.06.2012 - 21:46 Uhr) Ich bin zwar erst auf Seite 19 werde das Ganze aber später auf jeden Fall beenden. Eine sehr interessantes Thema, das ich gut von meiner Mutter kenne.
Für mich hat sie nie Unterhalt erhalten. Dadurch war es für uns auch nicht leicht.

Also bisher gefällt es mir sehr gut. Aber ich glaub auf Seite 18 ist ein Fehler. Bei der Stelle, wo Jakob sagt, dass das Au Pair Mädchen nur 2 Kinder nehmen darf, hast du einmal geschrieben, dass wenn es Chiara auch nehmen würde, könnte es sich beschweren. Da müsste es doch eigentlich Lilly heißen oder irre ich mich da?

Lg
Strigoia

Vor langer Zeit - Antworten
Strigoia Ich bin zwar erst auf Seite 19 werde das Ganze aber später auf jeden Fall beenden. Eine sehr interessantes Thema, das ich gut von meiner Mutter kenne.
Für mich hat sie nie Unterhalt erhalten. Dadurch war es für uns auch nicht leicht.

Also bisher gefällt es mir sehr gut. Aber ich glaub auf Seite 18 ist ein Fehler. Bei der Stelle, wo Jakob sagt, dass das Au Pair Mädchen nur 2 Kinder nehmen darf, hast du einmal geschrieben, dass wenn es Chiara auch nehmen würde, könnte es sich beschweren. Da müsste es doch eigentlich Lilly heißen oder irre ich mich da?

Lg
Strigoia
Vor langer Zeit - Antworten
MarianneK Da ich nach meiner Scheidung als alleinerziehend, wieder neu anfangen musste und das Glück hatte 2 Monate danach wieder an meinen alten Arbeitsplatz zurück konnte, hat mich diese Geschichte interessiert. Zuerst wollte ich sie in Abschnitte lesen, aber dann habe ich sie doch in einem Rutsch fertig gelesen und sie hat mir sehr gut gefallen.

Liebe Grüße
Marianne
Vor langer Zeit - Antworten
GerLINDE Eine sehr lange Geschichte, die ich aber gern in Etappen weiterlesen werde, weil es mich interessiert. Daher bewerte ich noch nicht, erst am Schluss.

Lieben Gruß
Gerlinde
Vor langer Zeit - Antworten
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