Romane & Erzählungen
Schmerzen der Vergangenheit

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"Schmerzen der Vergangenheit"
Veröffentlicht am 12. Juni 2012, 28 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Schmerzen der Vergangenheit

Schmerzen der Vergangenheit

Beschreibung

Es war alles normal gewesen, bis zu dem einen Tag, an dem Anna Jo blutverschmiert im Bad fand. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, sie ließ ihn nicht vergessen. Nun kam alles ans Licht. All die Schmerzen, die er und sein Bruder Kay ertragen mussten, all die Trauer, all das Leid. Gemeinsam begeben sie sich auf die Flucht, doch der Vergangenheit kann man nicht entkommen...

 

 

Sie sieht ihn an, sieht ihm in die blauen Augen. Sie wirken leer, kalt. Verlassen, so einsam.. Schon lange kennt sie ihn und doch kennt sie ihn nicht. Ihr Blick wandert an ihm herunter, herunter zu seinen Armen. Sie sind Blutverschmiert, alles ist Blutverschmiert. Ihm rollen die Tränen übers blasse Gesicht. Er hat große Schmerzen, doch er spürt sie nicht. Er spürt gar nichts. Wieso tut er das? Was ist der Grund? Sie dachte immer, er wäre glücklich. Doch genau das war es, was ihn immer weiter in den Abgrund zog. Er hatte sich nie jemanden anvertraut, niemandem außer seinem Bruder. Seinem Bruder, der einzige, der von seiner Familie übergeblieben war. Da kam er. Stürmte ins Bad herein.

Sie wäre geblieben, doch sie konnte nicht. Lange lag sie noch da und dachte nach. War sie es Schuld? Hatte sie, Anna, etwas getan? Etwas, was ihn so sehr verletzte? Vielleicht, aber sie wusste nicht was.

Am nächstem Tag war er bereits da, als sie die Eingangshalle der Schule betrat. Vertieft in einem Hefter. Wahrscheinlich wiederholte er den Stoff aus Deutsch. Alle wiederholten ihn. Heute wurde Klausur geschrieben. Es schellte. Sie guckte ihn nicht an, den ganzen Tag nicht. Sie stand alleine in den Pausen, nur damit sie ihn nicht angucken musste. Aus irgendeinem Grund schämte sie sich. Vielleicht weil sie gestern gegangen ist. Vielleicht, weil sie so hilflos war.

Den ganzen Nachmittag konnte sie nur an ihn denken. Immer wieder wiederholte sich das gestrige Ereignis. Immer wieder sah sie die Leere in seinen Augen. Immer wieder sah sie das Blut unaufhaltsam seine Arme herunter rinnen. Sie konnte nicht anders. Sie musste ihn sehen, jetzt. Es war ihr klar das sie keine Antworten auf ihre Fragen bekommen würde, aber sie musste es versuchen. Anna stieg auf ihr Rad. Der Weg war weit. Nach einiger Zeit kam sie an das kleine Wäldchen. Der Herbst hatte zugeschlagen. Er hatte den sonst so Märchenhaften Wald in endlose Trostlosigkeit getaucht. Alles wirkte so leer, so einsam. So wie seine Augen. Wieder spielte sich die Szene in ihren Gedanken ab. Sie kam an den kleinen See. An den See, wo er wohnte. An den See, wo sie einst so glücklich gewesen waren. Würde es jemals wieder so werden?

Ihr Blick schweifte hinüber zu der Insel in Mitten des Sees. Auf dieser Insel stand sein Haus. groß, alt, geheimnisvoll. Noch nie wirkte es so bedrohlich. Trotzdem betrat Anna den schmalen Steg, der jetzt endlos lang wirkte. Sie blieb stehen. Beinahe dachte sie, ihn dort oben am Fenster gesehen zu haben. Oder war er es wirklich? Etwas zögerlich ging sie weiter. Sollte sie ihn wirklich auf dieses Ereignis ansprechen? Nun war es zu spät. Ohne es zu merken hatte sie bereits auf den weißen, abgenutzten Knopf gedrückt. Ein leises Klingeln ertönte. Wenige Zeit päter stand Kay, sein Bruder, an der Türe. Er wollte sie gerade bitten zu gehen, als ER kam. "Lass sie!", sagte er. Kay guckte ihn irritiert an, gab dann aber nach und verschwand. Mit leiser Stimme bat er sie herein. Sein Blick war eisern und dennoch flehend.

Er ging die hölzener Treppe hinauf, sie folgte ihm. Es knarrte unter ihren Füßen. Als sie den Flur betraten wurde ihr kalt. Sie sah die Türe. Die Türe zum Badezimmer, wo sich alles abspielte. Sie blieb stehen, auch er hielt an. Nichts wollte sie in diesem Moment mehr, als von hier weg. Doch sie konnte nicht. Sie musste bei ihm bleiben. Sie konnte ihn jetzt nicht noch einmal alleine lassen. Da war etwas in seinem Blick, was es ihr verbat. Plötzlich schien es, als hätten seine Gedanken auch ihn eingeholt. Anna bemerkte, wie er anfing zu zittern. Er blickte ins Leere. Seine Kräfte verließen ihn. Vorsichtig lehnte er sich an der kargen Wand an. Tränen stiegen ihm in die Augen. Noch nie hatte sie ihn so hilflos gesehen. Sie nahm ihn in den Arm. Ganz fest. Es wurde still, so still, dass sie glaubte, die Wände schreien zu hören. Sie schrien um Hilfe.

"Jo?", flüsterte sie und löste sich aus der Umarmung. Er guckte sie nicht an. Sein Blick war dem Boden zugewand. "Jo, wieso hast du das getan?" Jetzt sah er sie an. Direkt in die Augen. Es traf sie wie ein Stich ins Herz. Diese Traurigkeit, diese unendliche Traurigkeit. Zögernd öffnete er den Mund um etwas zu sagen. Dann sagte er doch nichts. "Du musst es mir nicht sagen. Ich will dich zu nichts zwingen. Lass dir Zeit", sagte sie. Leise entgegnete er mit zitternder Stimme: "Lass uns irgendwo hinsetzen." Sie setzten sich auf sein Bett, in seinem Zimmer, in seinem bedrohlichen Haus. Das schweigen dauerte lange an und Anna fragte sich, ob es irgendwann gebrochen werden würde, oder ob sie bis in die Ewigkeit hier sitzen bleiben werden und schweigen. Schweigen für immer. Vielleicht wäre es besser, wenn keiner etwas sagen würde. Doch dann fand er Worte. Wenige Worte, die dennoch alles sagte:"Ich wollte mich nicht umbringen."

Wieder fielen sie ins Schweigen. Wieder kamen ihm die Tränen. Aber diesmal würde Anna ihn nicht trösten. Sie konnte nicht. Auch wenn sie nicht fragen wollte, auch wenn es das unsensibelste war, was man in dieser Situation hätte fragen können, fragte sie trotzdem:"Was wolltest du dann?" Er guckte wieder zu Boden. Mit Tränen erstickter Stimme flüsterte er leise, kaum hörbar:"Ich mache es oft. Es hilft mir." Immer noch war sein Blick auf den Boden gesenkt.

Auf dem Weg nach Hause fühlte sich Anna wie ausgebrannt. Alles schien so unrealistisch. "Ich mache es oft. Es hilft mir." Was heißt oft? Einmal im Monat? Einmal in der Woche? Einmal am Tag? Sie fand keine Antwort.

Die Tage vergingen, Tage ohne Worte, bis sie eines Nachts von dem Klingeln ihres Handys aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie nahm nicht ab. Das Klingeln hörte nicht auf. Jemand wollte sie unbedingt sprechen. Schließlich gab sie nach. Mit verschlafener Stimme ging sie dran. Es war Jo. "Kannst du bitte kommen, bitte! Ich....",er klang verzweifelt. Anna antwortete ihm ein wenig genervt:"Es ist ein Uhr nachts. Was ist denn so wichtig?" "Es ist so, dass...",seine Stimme versagte."Bitte komm Anna. Ich...Ich erkläre es dir, wenn du bei mir bist." Schon wieder gab sie nach:"Okay, ich komme."

Schnell zog sich Anna an und schlich unbemerkt aus dem Haus. Sie fragte sich, was so wichtig sei. Hoffentlich hatte er es nicht schon wieder getan. Draußen war es kalt, so kalt, dass sie ihre Finger nicht mehr spürte. Der eisige Wind peitschte ihr ins Gesicht. Nach etlichen Minuten kam sie an den See . In der Dunkelheit konnte sie den Steg fast nicht mehr erkennen. Nur der runde Mond spendete ihr wenig Licht. Das Haus sah jetzt noch gefährlicher aus. Gerade, als sie klingeln wollte, packte eine kalte Hand sie an der Schulter. Eine andere hielt ihr den Mund zu. Sie fuhr herum und schaute ihm direkt ins Gesicht."Nicht schreien!",sagte Jo.

Ohne etwas zu sagen schloss er die Haustüre auf, ohne etwas zu sagen ging er die alte Treppe hoch, ohne etwas zu sagen setzte er sich neben sie auf sein Bett. Erst jetzt im Licht sah sie, wie schrecklich er aussah. Seine Augen waren rot, so als hätte er Nächte lang nicht geschlafen, oder geweint...Sein Gesicht so blass, als hätte es die Sonne nie gesehen. Alles war wie an jenem Nachmittag gewesen, das Schweigen, seine leeren Blicke. Und doch war alles anders. Es war etwas passiert, etwas schlimmeres als zuvor. Er fing an zu erzählen:"Du weißt doch...dass wir, also Kay und ich, Probleme mit unseren Eltern hatten und wir deswegen von den Gröns adoptiert wurden." Anna entgegnete:"Ja, deswegen wohnt ihr auch hier. Gröns hatten keinen Platz und das war ihr Ferienhaus. Du hast mir das alles schon einmal erzählt. Deswegen sollte ich doch nicht hier her kommen. Sag schon, was ist passiert?" Jo fuhr fort:"Diese Probleme waren halt...ein wenig größer. Es war halt so, dass wir...Ach egal" Jetzt wurde sie sauer:"Du holst mich um ein Uhr Nachts zu dir, nur um mir dann zu sagen, dass es doch nicht wichtig ist?! Sag es mir jetzt! es muss doch wichtig sein." Sie bemerkte, wie er wieder zu Boden sah. "Kay und ich, wir...Das heißt, eigentlich war ich es. Jedenfalls habe ich etwas getan, was vielleicht nicht richtig war. Was auf jeden Fall nicht richtig war. Gestern habe ich einen Anruf bekommen. Einen Anruf von meinen Eltern. Sie sagten, dass sie sich rechen werden."

Sein Blick war immer noch auf den Boden gerichtet. "Ich habe Angst Anna. Ich habe Angst, dass sie uns finden." Anna wusste nicht, was sie hätte sagen können. Wieder wurde ihr klar, dass sie ihn nicht kannte. Die Neugier quälte sie. Sie musste wissen, was er getan hatte. Sie hätte ihn fragen können, doch das hätte nichts gebracht. Er hätte ihr nicht geantwortet. Aufeinmal hörten sie das knarren der alten Treppe. Jo zuckte zusammen. Ruckartig stand er auf. Waren es seine Eltern? Seine Eltern, die Rache nehmen wollten? Langsam schlich er den Flur entlang, sie hinterher. So leise wir nur möglich schloss er Türe zum Obergeschoss ab. Gerade noch rechtzeig. Die Klinke wurde herunter gedrückt. Sie hielten die Luft an. Ein Klopfen ertönte, dann eine Stimme. Die Stimme seines ältern Bruders. Die Stimme der Person, die aufgewacht war, als sie beide das Haus betraten.

Er schloss die Türe wieder auf. Vor ihm stand Kay, verschlafen und irritiert guckend. "Was...Wieso ist Anna hier?",fragte er verwundert."Wir haben mitten in der Nacht!" "Ich hab ihr gesagt, dass sie kommen soll.",flüsterte er. Immer noch sah Jo geschockt aus. "Ist etwas passiert?", in seiner Stimme lag Besorgnis. Jetzt müsste er es ihr sagen. Jetzt würde er sagen, was damals passiert war. Doch das tat er nicht.

Anna fuhr nach Hause. Sie wollte nicht, aber sie musste. Ansonsten würden ihre Eltern etwas mitbekommen. Unbemerkt, so dachte sie, schlich sie zurück ins Haus.

Der nächste Tag war von Wolken verhangen. Bald würde es Winter werden, bald würde es das erste mal schneien. Die Erde würde unter einer Schicht von weiße Flocken liegen. Alles würde friedlich sein. Die Welt würde schweigen, alles vergessen. Sie würde sein Blut vergessen, die Hoffnungslosigkeit, die schreienden Wände. Doch sie wusste es besser. Die Welt würde nichts von dem vergessen. Sie würde es nur so scheinen lassen. Und genau das war das gefährliche.

Es war klar. Es war klar, dass er heute nicht in die Schule kommen würde. Sie würde auch nicht gehen. Anna fuhr wieder zu ihm nach Hause. Noch nie zu vor war sie so oft bei ihm gewesen. Als sie klingelte ging niemand dran. Ob er doch gegangen war? Nein. Kaum erkennbar saß eine kleine Gestalt angelehnt an eine der großen Birken auf dem kalten Boden.

Sie ging auf die Gestalt zu. Sie rührte sich nicht. Langsam rutschte sie an dem Baumstamm zu Jo auf den Boden. Er guckte sie an und mit bemüht gefasster Stimme fragte er:"Was willst du hier? Schwänzt du die Schule?"Ein angestrengtes Lächeln huschte über sein Gesicht. "Ja, genau wie du.",so gerne wollte sie ihm all die Fragen stellen, die die letzte Nacht aufgeworfen hatte, aber sie tat es nicht. Sie brauchte es nicht, denn er erzählte von alleine:"Letzte Nacht...Du fragst dich bestimmt, was ich getan habe. Ich werde es dir erzählen, aber nicht hier." Nachdenklich schaute er zum Himmel."Gehen wir einen Kaffee trinken?" "Ja, okay.",antwortete Anna ein wenig überrascht über seine Aufgeschlossenheit.

Den ganzen Weg schwiegen sie. Den ganzen Weg gingen sie stumm neben einander her. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich am Cafe angekommen waren. Im Bistro nahmen sie einen Tisch an der großen Fensternfront, durch die man direkt auf den Wald gucken konnte. Hier saßen sie schon oft, schauten hinaus und erzählten. Jo umklammerte seine Tasse mit beiden Händen, dann fing er an zu erzählen:"Kay und ich, wir...wir hatten eine Schwester, Katja. Sie war drei Jahre jünger als ich. Vor einem Monat wäre 14 geworden..."Er machte eine Pause und guckte wieder zu Boden. Anna sagte nichts."Als sie neun war, da hat...Da hat mein Vater sie vergewaltigt. Sie ist an den Folgen gestorben."Seine Stimme versagte. Sie merkte, dass er mit den Tränen kämpfte. Als er sich wieder gefasst hatte fuhr er fort:"Ich liebte meine Schwester sehr. Meinen Vater konnte ich jedoch, genauso wie meine Mutter, nicht wirklich leiden. Das weißt du ja. Die beiden...sie...Egal. Darum geht's jetzt nicht. Jedenfalls wollte ich Rache nehmen. Also nahm ich das...das Jagtgewähr meines Vaters und...Ich habe geschossen. Er ist daran nicht umgekommen, leider nicht.Ich bereue es so, Anna. Auch wenn es sich vielleicht nicht so anhört, aber ich bereue es. Hätte ich das damals nicht getan, dann wären sie jetzt nicht hinter uns her. Und Katja sie...", er konnte nicht mehr weiter reden.

Sie nahm seine Hand, versuchte ihn zu trösten, vergeblich. Diese Traurigkeit war zu lange in ihm. Zu lange hatte er geschwiegen. Schließlich trockneten seine Tränen und er schaute aus dem Fenster. "Es schneit.", sagte er immer noch ein wenig benommen. Tatsächlich, es schneite. Wie lange waren sie dort im Cafe gewesen? Wie lange hatte sie da gesessen und seine Hand gehalten? Die beiden verließen das Bistro. Der Schnee ging ihr schon bis zu den Knöcheln und die dicken Flocken hörten nicht auf zu fallen. Sie wollten alles wieder gut machen, alles vergessen, doch die Welt war noch nicht bereit.

Gemeinsam bahnten sich Anna und Jo den Weg durch den immer stärker werdenen Sturm. Der Schnee tanzte um sie wie kleine Blüten aus Eis und der kalte Wind peitschte ihnen ins Gesicht. An dem See angekommen hielten sie inne. Anna schaute ihn an, wie er da stand, die Hände tief in die Taschen seiner dünnen Jacke gesteckt. Die weißen Schneeflocken glitzerten im Mondschein auf seinem tief schwarzem Haar, seine Augen blickten sehnsüchtig ins Weite, seine Gedanken gehütet hinter einer undurchdringbaren Fassade. Es war Zeit Abschied zu nehmen. Ohne ein Wort zu sagen nahm sie ihr Rad und verschwand. Ihr Kopf war leer. Keine Frage plagte sie, keine Neugier. Es war, wie es war. Irgendwann würde sie alles erfahren. Irgendwann.

 

Als sie die Haustür aufschloss und den Flur betrat, wartete ihre Mutter Ines bereits auf sie. "Wo warst du?", fragte sie mit einem strengen Unterton und dennoch besorgt. "Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben?" Geistesabwesend antwortete Anna:"Ich war bei Jo. Wir haben Mathe gelernt wegen der Klausur am Montag." "Aha. Und das soll ich dir glauben? Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du so spät nach Hause kommst. Beim nächsten mal möchte ich, dass du mich wenigstens anrufst und mir Bescheid sagst. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht! Hast du mich verstanden?" "Ja.", gab sie wieder, kehrte ihrer Mutter den Rücken zu und ging. In dieser Nacht träumte sie von Jo und seinen Eltern. Es war Sommer und sie saß zusammen mit ihm auf dem Steg und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Die Vögel zwitscherten und die Bäume bewegten sich sanft im Wind. Ein Paar Fische sprangen ab und zu in die Höhe und landete mit einem Platschen wieder im See, doch plötzliche waren sie da, seine Eltern. Unbemerkt hatten sie sich herangeschlichen. Ohne einen Ton von sich zu geben hatten sie sich angepürscht. Es war nur ein Schuss... Schweißgebadet wachte sie auf. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie auf den Wecker. Samstag morgen und gerade einmal halb sieben, doch sie konnte nicht weiter schlafen. Vorsichtig tapste sie Treppe hinunter. Sie war nicht die einzige, die so früh schon auf war. Joachim, ihr Vater, saß bereits draußen im Garten. Mit einer Zigarette in der einen, und einer Kaffeetasse in der anderen Hand hatte er es sich auf der alten Holzbank gemütlich gemacht und guckte, die von weißer Pracht bedeckten, Sträucher an. Wortlos setzte sie sich zu ihm. Anna redete noch nie viel mit ihm und ihr fiel auf, wie wenig sie in letzter generell geredet hatte. Zusammen mit Jo war sie ins Schweigen gefallen. Würde es je wieder anders werden? Wäre sie an dem einem Nachmittag nicht unerwartet zu ihm gegangen, hätte sie das alles dann nicht erfahren? Auch diesmal fiel ihr keine Antwort ein. Plötzlich fühlte sie die starke Hand ihres Vaters über ihren Oberschenkel streicheln. "Komm. Wir machen Frühstück."

Nach dem Früstück beschloss sie irgendwo hin zu fahren, einfach, um einige Zeit allein mit sich selbst zu sein. Sie stieg in den nächsten Bus, den sie kriegen konnte. Dort saß sie und sah die Landschaft an sich vorbei streifen. Es tat ihr gut alleine zu sein, nachdenken zu können. Anna dachte an ihren Traum. Was, wenn seine Eltern wirklich Rache wollen? Was, wenn sie ihn und Kay umbringen...? Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein! Man konnte ihr doch nicht einfach den Menschen wegnehmen, den sie am meisten liebte. Man konnte ihn doch nicht einfach aus dem Leben reißen! Plötzlich hörte sie eine Stimme: "Hallo?! Sie da! Hier ist Endstation. Ich fahre nicht mehr weiter." Der Busfahrer stand vor ihr. "Oh...", war das Einzige, was sie sagte. Benommen stieg sie aus. Als sie ihren Blick hob, sah sie ihn im Wartehäuschen der Haltestelle sitzen. Er guckte sie irritiert an. Auch sie wunderte sich über seine Anwesenheit. "Was machst du hier, Anna?", fragte er und nahm die Kopfhörer von den Ohren. "Ich...Ich weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich...Äh...gerade Lust...Bus zu fahren?!", stotterte sie. Wahrscheinlich dachte er, sie würde ihm folgen. "Und was tust du hier?" "Ich war mit Kay hier, aber der trifft sich jetzt mit Freunden. Ja, und jetzt warte ich eben auf den Bus.", entgegnete er. Ein wenig zögerlich setzte sie sich neben ihn. "Willst du mit hören?", er deutete auf die Kopfhörer. Anna zuckte mit den Schultern, nahm aber an. Jo hatte genau den gleichen Musikgeschmack wie sie: Je lauter, desto besser. Doch heute hörte nichts Lautes. Es war eine sanfte Melodie auf dem Klavier. Eine ganze Weile lang saßen sie einfach da und lauschten den Klängen des Stückes, während unzählige Autos an ihnen vorbei fuhren und den gestern noch so weißes Schnee in eine braune Pampe verwandelten. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, dann ein Hupen. Eine Autotür ging auf und aufgebrachte Stimmen waren zu hören. Erschrocken schaute er auf. Dann stand er hektisch auf und riss sich dabei den Stöpsel aus dem Ohr. Schnell rannte er auf die Unfall stelle zu. Anna erhob sich ebenfalls, blieb aber stehen und starrte einfach auf das zertrümmerte Auto. Sie konnte es nicht fassen, eben so wenig wie er. War es wirklich Kay, der da in dem Auto saß? Jo wählte den Notruf und innerhalb weniger Minuten, die wie Ewigkeiten schienen, war der Rettungshubschrauber eingetroffen.

Polizei- und Krankenwagen fuhren mit lauten Sirenen herbei und Feuerwehrmänner schnitten das Autodach auf. Heraus geholt wurde ein 17-Jähriger mittleren Größe mit dunkel blondem Haar. Es war wirklich Kay. Nun wurde er auf einer Liege in den Hubschrauber getragen. Die Propeller wirbelten den Schnee auf und schließlich war er nur noch ein Punkt am Wolken bedeckten Himmel. Anna blieb stehen und schaute auf die Straße. Sie konnte es nicht fassen. Wieso musste es gerade Kay sein, der bei dem Unfall verletzt wurde? Wieso musste es ausgerechnet sein Bruder sein, der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte, der einzige Mensch, der ihn verstand? Ihre Blick suchten Jo, doch sie fanden ihn nicht. Er war verschwunden. Wahrscheinlich konnte er das alles nicht aushalten, wahrscheinlich war es ihm alles zu viel, dachte sie. Auch Anna beschloss zu gehen. Zu Hause stand sie am Fenster und sah wie die Wolken brachen und sanft die Flocken vom Himmel fallen ließen. An der Fensterscheibe hatten sich Eiskristalle gebildet. Mit einer Hand berühte sie das kalt Glas und spürte den Schmerz in sich. "Nein Anna, du darfst nicht weinen. Es ist nicht dein Leid.", flüsterte sie sich zu und doch konnte sie ihre Tränen nicht unterdrücken. Unaufhaltsam flossen sie ihre Wangen hinunter, warm und salzig. Mit aller macht versuchte sie dagegen anzukämpfen, aber sie schaffte es nicht. Auf einmal stand Ines neben ihr. Anna hatte sie nicht kommen hören. Wie lange stand sie schon da? "Was ist passiert, meine Süße?", fragte ihre Mutter und nahm sie fest in den Arm. Kein einziges Wort brachte sie heraus, nichts als Schluchzen. Sie konnte es ihr nicht erzählen, sie durfte nicht. Es ging sie nichts an.

Sollte sie ihn anrufen? Benommen saß sie an ihrem Schreibtisch mit dem Handy in der Hand. Oder sollte sie ihn einfach alleine damit klar kommen lassen? Unentschlossen legte sie ihr Handy wieder bei Seite. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Sterne funkelten wie Diamanten vom klaren Himmel. Nächste Woche Sonntag würde es Weihnachten sein. Würde er dann alleine feiern, wenn Kay es nicht schaffen würde? "Nein, er wird durchkommen!", sagte sie sich. So hart konnte kein Schicksal sein. Er musste es einfach schaffen. Aber was, wenn doch nicht? Was, wenn...? Anna schlug sich diesen Gedanken aus. Morgen würde sie Jo anrufen und zusammen mit ihm ins Krankenhaus fahren. Sie würden ihn besuchen und ihm würde es schon fast wieder gut gehen.

Am nächsten Morgen wachte sie mit dem Kopf auf einem Mathebuch auf. Gestern hatte sie noch lange für die Klausur gelernt, doch wahrscheinlich hatte es sie nichts gebracht. Andere Dinge hatten in ihren Gedanken geschwebt. Sofort, nachdem sie sich fertig gemacht hatte, stieg sie auf ihr Rad und fuhr los. Noch nie war sie darüber so froh gewesen, ein Paar Handschuhe zu besitzen. Kein Wintertag an den sie sich entsinnen konnte, war bis jetzt so kalt gewesen. Auf dem Weg begegnete sie keinem. Es war so still, dass sie nichts hörte außer das Knirschen des Schnees. An dem kleinem See angekommen, stellte sie ihr Fahrrad ab und ging vorsichtig den gefrorenen Steg entlang. Gerade, als sie Klingeln wollte, hörte sie seine Stimme:"Was willst du hier Anna?" Erschrocken drehte sie sich um. Er stand am anderen Ende des Stegs. "Ich wollte nur zu dir...", gab sie als Antwort. "Naja, ich wollte eigentlich gerade zu Kay ins Krankenhaus.", sein Ton ließ annehmen, dass er nicht begeistert über Anna's Besuch war. "Kann ich mitkommen?", fragte sie dennoch. Jo schaute einen Moment die Straße hinauf, dann nickte er zögerlich: "Ja, okay. Wenn du meinst..." Bis sie im Bus saßen, sagte niemand etwas, bis er sich ein Herz nahm: "Ich war noch nicht bei ihm. Gestern konnte ich einfach nicht. Ich war einfach zu...Egal." Seinen Blick senkte er wieder zu Boden. "Das wird schon wieder.", entgegnete sie ohne jegliche überzeugung in der Stimmer und nahm seine Hand. Er zuckte nur mit den Schultern. Die ganze Busfahrt hatte sie seine Hand gehalten und lies sie auch im Krankenhaus nicht los. Normalerweise würde er sich wehren, doch das tat er nicht. Bei der Bürofrau erkundigte er sich nach Kay Sander. Zimmer 213, Intensivstation. Bei diesem Wort zuckte er leicht zusammen und sie drückte seine Hand noch fester. Gemeinsam stiegen sie die unzähligen Treppenstufen hinauf und klopften schließlich an seiner Zimmertür. Langsam ging diese auf und eine Frau trat heraus. "Hallo, Ich bin die zuständige Ärztin, Frau Dr. Rieden. Ich nehme an, Sie sind sein Bruder, Jo Sander, oder?", stellte sie sich vor schüttelte Jo's Hand, die nicht gerade von Anna fest gehalten wurden. "Ja. Können wir zu ihm?", gab er wieder. Wenige Sekunden überlegte Dr. Rieden, bis sie zustimmte: "Das können Sie tun. Allerdings muss ich sie warnen. Er liegt im Koma und ist deswegen nicht ansprechbar. Es steht nicht gerade gut um ihn..." Trotz der harten Wahrheit blieb er gefühlskalt und sagte einfach nur:"Okay. Dann werden wir jetzt gehen."

Lautlos öffnete er die Türe und sie sah ihm an, dass er am liebsten wieder gegangen wäre. Schließlich setzte er sich auf einen der blauen Stühle, ebenso wie Anna. "Als wir noch bei unseren Eltern wohnten, lebten wir nach einem einfachen Prinzip: Liebst du, redest du, zeigst du Gefühle, dann stirbst du. Wir mussten immer Angst haben, dass uns etwas angetan wird und das war auch häufig der Fall. Zum Glück wurden wir nicht umgebracht, aber sie hatten andere Strafen für uns. Nachdem mein Vater sich an Katja vergriffen hatte und sie starb, mussten wir die Leiche beseitigen. Wir mussten...Wir mussten ihren Körper mit einer Kettensäge zerteilen, zu einer Baustelle bringen und die Teile dann in den frischen Beton werfen. Niemand hat es bemerkt. Wahrscheinlich liegt sie da immernoch, von Beton bedeckt..." Sie wusste nicht, warum er ihr das gerade jetzt erzählte und was sie sagen sollte, zu grausam war es. Wie konnte man soetwas nur von seinem eigenen Sohn verlangen? Wie groß musste der Hass in dieser zerstörten Familie sein? All die Schmerzen seiner Vergangenheit schienen Stück für Stück offenbart zu werden. "Ich will so gern alles vergessen, aber es geht nicht. Der Vergangenheit kann man nicht entfliehen. Was einmal geschehen ist, ist geschehen, aber ich kann damit nicht leben. Es macht mich einfach total fertig. Ich habe zu viel schlechtes getan.", fügte er mit zitternder Stimme hinzu. Was hatte er noch tun müssen? Was wurde ihm noch angetan? In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen. Unsicher stand er auf und guckte sie mit flehendem Blick an: "Wieso haben sie uns das angetan? Wieso wollen SIE nach alldem noch Rache an UNS ausüben?" Auch sie erhob sich. Aufeinmal schien die Welt noch grauer, noch dunkler. Auf dem Rückweg herrschte wieder drückende Stille. An der nächsten Haltestelle stiegen sie beide aus. Anna holte ihr Rad und fuhr weg, ließ ihn alleine.

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FallenAngel Re: -
Zitat: (Original von sue91 am 13.06.2012 - 00:13 Uhr) Echt ein guter Text und ich freue mich auf die Fortsetzung.
Doch eine kleinigkeit ist zu bemängeln die vielen Rechtschreibfehler und Satzbau fehler.



Danke für dein Kommentar. Ich werde den Text nochmal überarbeiten.

Liebe Grüße!
Vor langer Zeit - Antworten
sue91 Echt ein guter Text und ich freue mich auf die Fortsetzung.
Doch eine kleinigkeit ist zu bemängeln die vielen Rechtschreibfehler und Satzbau fehler.

Vor langer Zeit - Antworten
FallenAngel Danke für dein Komentar :)

LG FallenAngel
Vor langer Zeit - Antworten
Montag Lesenswerte Story, guter Anfang, mal schauen wie es weiter geht.

Alles Gute
Montag
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