Kurzgeschichte
Menschenwesen - ***

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"Menschenwesen - ***"
Veröffentlicht am 11. Juni 2012, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Je älter ich werde, umso weniger gibt es über mich zu sagen :-)
Menschenwesen - ***

Menschenwesen - ***

Beschreibung

***

Die Endfünfzigerin, die ihr gegenüber stand hatte sie um Unterstützung und Begleitung gebeten. Sie wollte nicht geheilt werden, nein, sie wollte sich selbst heilen. Lory erstaunte dies. Während ihrer langjährigen Heiltätigkeit ist ihr dies bisher kein einziges Mal begegnet. Alle wollten ein Wunder von ihr. Alles Unangenehme, Schmerzvolle bitte schön wegzaubern und Wohlgefühl rund um natürlich. Es bedurfte klärender Worte, die die Verantwortung wieder dahin stellten, wo sie hingehörte. Nämlich zum Kranken, zum Leidenden, zum dem Menschen, der man ist.

Hier bei dieser interessanten Dame war das nicht notwendig. Sie war sich ihrer Eigenverantwortlichkeit bewusst. Das machte den Anfang erstaunlich einfach.

Lory fragte, welche Beschwerden sie plagen würden, was der Anlass ihres Besuches bei ihr sei.

Anna begann ihre augenblickliche Situation zu beschreiben.

Zuerst die körperlichen Empfindungen. Der linke Fersenballen würde schmerzen, außerdem das rechte Knie. Das ganze rechte Bein würde sich anfühlen, als hätte es an Kraft verloren. Sie fühle sich einseitig. Manchmal, wenn sie kaltes Wasser trinken würde, empfinde sie eine kurze Übelkeit. Sie bräuchte sehr viel Schlaf und oft fehle es ihr an Elan.

Ihr Gefühlsleben wäre mit Ausnahme von wenigen Ausschlägen eine gerade Linie.

Verstandesmäßig wisse sie, dass es im Leben nichts zu erreichen gäbe. Dass alles ist, wie es nun mal ist. Dennoch ist in ihr die Sehnsucht nach mehr Freude im Leben, nach Freude am Leben, nach Begeisterung.

Lory hatte ihr aufmerksam zugehört. Schwieg, weil sie eine eventuelle Fortführung der Schilderung nichts in den Weg stellen wollte. Gerade als sie etwas sagen wollte, ergänzte Anna, dass sie die Liebe fühlen möchte, strahlen und leuchten, lachen möchte.

Lory schwieg.

Anna spielte mit ihren beiden Daumennägeln auf die sie ihren Blick gerichtet hatte.

Nach kurzer Zeit blickte sie Lory mit klaren Augen an.

Lory lächelte und sagte, dass sie lohnenswerte Ziele hätte.

Ja, dies sah Anna auch so, nur der Weg dahin war ihr nicht klar. Wo beginnen, wie anfangen?

Lory fragte wann sie Freude empfinden würde. Anna konnte ihr nicht sofort antworten.

Lory fragte daraufhin, was ihr Wohlgefühl schenken würde. Da konnte Anna sofort antworten.

Ein warmes Bad schenkt mir Wohlgefühl. Nach der Sauna im kalten Wasser schwimmen schenkt mir Wohlgefühl. Ein Wärmflasche am unteren Rücken schenkt mir Wohlgefühl. Einen Kaffee trinken schenkt mir Wohlgefühl. Meditation schenkt mir Wohlgefühl.

Das ist doch wunderbar, da haben wir ja schon einige Punkte. Nun meine nächste Frage, tust du all dies regelmäßig, was dir Wohlgefühl schenkt? Mehr oder weniger, war die Antwort. Außer meditieren. Das tue ich schon längere Zeit nicht mehr. Warum tust du das nicht mehr? Gute Frage, ich kann es nicht genau beantworten. Vermutlich, weil ich verstand, dass es kein Ziel gibt, das es zu erreichen gäbe. Dann bräuchtest du auch nicht hier bei mir sein, gab Lory zu bedenken. Mag sein dass dies stimmt. Es kann aber auch sein, dass ich es gar nicht selbst bestimme, dass die Dinge einfach geschehen. Man hat des öfteren den Eindruck, stimmte ihr Lory zu. Die Frage ist, wie geht es dir mit der Erkenntnis, dass die Dinge einfach geschehen?

Nach dieser Erkenntnis bin ich ziellos, lethargisch geworden. Alle Wichtigkeit fand ein Ende. Es ist nur noch was ist. Und nicht immer gefällt mir was ist. Z. B. Die Schmerzen in Knie und Fußsohle. Die sind auch einfach, doch akzeptieren tue ich das nicht wirklich. Ich möchte die Schmerzen weg haben. Das ist sehr verständlich meinte Lory. Das Leben ist immer für das Leben und Schmerz ist ein Anzeiger für disharmonische Verhältnisse. Anna fragte nun direkt, wie sie die Schmerzen loswerden könne.

Lory nahm ihr alle Illusion, dass sie irgendetwas loswerden könne. Was jedoch möglich ist, ist die Rückkehr in die Einheit allen Seins. Im Moment wäre es so, dass Anna ihren Schmerz als etwas von ihr Getrenntes erkennt. In Wahrheit ist alles eins. Es gibt keinen Schmerz als eigenständiges Etwas. Es gibt nur die Einheit. Alles Getrennte fühlt den Schmerz. Im Moment der Einheit ist Schmerz nichts Bedrohliches mehr. Er ist eine Erscheinung, wie z. B. ein Wimpernschlag. Anna versuchte gedanklich zu folgen. Sie hatte Mühe das Gesagte zu akzeptieren und zu verstehen. Lory bemerkte dies und wurde still. Anna sollte für alles genügend Zeit haben. Auch für gedanklichen Widerstand. Für alles was sich da zeigen wollte an Überzeugungen und Glaubenssätzen. Jede Vorstellung sollte angeschaut und erkannt werden.

In die Stille hinein begann Anna wieder zu reden. Das mit den Schmerzen im Knie und in der Fußsohle bemerkte ich nach dem Tod meiner Mutter. Kann sein, dass es vorher schon da war, doch richtig aufgefallen ist es mir erst nach ihrem Tod. Sie hatte auch Schmerzen am Knie. Nicht nur dort, aber auch dort. Lory registrierte Annas Worte mit einem aha. Welche Zusammenhänge glaubst du zu erkennen Anna?

Altlasten, die ich übernommen habe?

Festhängen an Altem?

Vorstellungen vom Altern?

Was ich fühle ist, dass ich älter geworden bin, ja. Ich stehe nicht mehr so leicht auf, wenn ich lange gesessen habe. Ich fühle mich schneller überlastet, mag keine schweren Lasten mehr tragen. Habe ein großes Bedürfnis nach Ruhe. Möchte am liebsten alle Arbeiten, die ich noch für die Familie verrichte beenden. Ein Freund ist für Monate nach Skandinavien gereist. Er lebt alleine, hat keine Haustiere, keinen Garten, nur seine Wohnung. Die Pflanzen hat er bei mir zur Pflege vorbeigebracht. Er ist frei zu tun und zu lassen was er möchte. Nach dieser Freiheit sehne ich mich ebenfalls. Meine Kinder sind erwachsen, wohnen jedoch zumindest teilweise noch bei uns im Haus. Ich wasche noch ihre Wäsche, bügle und bekoche sie noch, wenn sie da sind. Es ist jedoch ein Widerwille in mir zu spüren, gegen diese Arbeit. Das liegt vermutlich daran, dass mir alles scheinbar schwerer fällt. Zudem sind wir noch am renovieren und umbauen, da kommt einiges zusammen.

Es ist möglich, dass ich Vorstellungen vom Altern habe. Ich habe erlebt, wie meine Mutter gealtert ist. Welche körperlichen Beeinträchtigungen sie hatte, wie es ihr immer schwerer fiel den Alltag zu bewältigen und letztendlich ihre letzten Tage im Pflegeheim verbrachte. Mit hohen Dosen Morphium ihre Tage verschlief. Das Essen schmeckte ihr auch nicht mehr. Sie wollte nur noch in Ruhe sterben. Was sie dann auch tat. Sie atmete einfach ein letztes Mal aus, das war es dann. Sie hatte ihren Frieden. War befreit von der Last des kranken Körpers.

Zu deiner Frage ob ich Altlasten übernommen habe kommt spontan die Antwort, ja. Ich habe Altlasten übernommen. Rein materiell alle Habseligkeiten meiner Mutter, die nun verkauft oder entsorgt werden müssen. Körperlich evtl. diese Beschwerden, doch habe ich keinerlei Erklärung warum.

Festhängen an Altem tue ich sicherlich auch. Ich beobachte mich, wie ich Gegenstände aus dem Elternhaus mit nach Hause nehme. Teddybären, Spieluhren, Kochbücher, Bettwäsche, Kerzen, allerlei Kleinkram. Tatsächlich brauche ich es nicht. Es muss dafür Platz geschaffen werden. Ich weiß auch nicht ob ich es behalten werde. Vorläufig möchte ich den Tand behalten.

Gleichzeitig ist da auch eine Freude darüber spürbar, dass die alten Bindungen lockerer werden.

Ich vermute, wenn alles verkauft ist und ich mich nicht mehr um diese geerbten Dinge kümmern muss wird es leichter für mich.

Lory schwieg immer noch.

Auch Anna war jetzt still und spielte wieder mit ihren Daumennägeln.

Sie ist noch in ihrer Geschichte gefangen dachte Lory. Einer Geschichte die so wirklich ist wie Geschichten eben sind. Eine Traumwelt aus der man erwachen muss um ihr zu entkommen.

Lory wusste, dass Anna ihre Anwesenheit braucht um sich aussprechen zu können. Sie braucht einen Menschen, der ihr zuhört und sein lässt was gerade ist. Die Menschenblume Anna bricht auf. Es ist ein Geschenk dieses Aufblühen miterleben zu dürfen. Es ist immer wieder ergreifend, wenn Menschen ihre Herzen öffnen und erkennen, dass Gedanken nur Gedanken sind und dass ihre Vorstellungen und Emotionen Produkte dieser Gedanken sind. Wird das Herz berührt, erinnert sich der Mensch seiner wahrhaftigen Essenz und geht in die Weite seines Seins, geschieht das was Neugeburt im Geiste genannt wird. Lory hatte keinen Zweifel, dass Anna kurz vor ihrer Neugeburt stand. Sie wird ein von allen Fesseln befreites Menschenwesen sein.

Sie schaut hin und nicht weg. Sie versucht nichts zu vertuschen. Beschönigt nichts. Leidet die letzten Leiden ihres Lebenstraumes. In dieser Phase erscheint alles sinnlos. Alle Illusionen werden als Illusionen erkannt. Desillusionierung ohne Rettung. Traurigkeit über den Verlust der Scheinwahrheit. Alles geht wie man so schön sagt den Bach runter. Was bleibt ist ein Wesen, das nicht mehr in die alten Kleider passt und noch keine neuen verfügbar hat. Es fühlt sich nackt, unbehaglich, orientierungslos. Daher kommt Annas Lethargie und ihre Traurigkeit. Ihr Gefäß ist allen Sinnes entleert und fühlt sich nutzlos. Dazu kommen die körperlichen Beschwerden, durch die sie sich belastet fühlt.

Sie wird erkennen, dass sie sich immer wieder füllen kann. Jeden Augenblick neu. Mit dem was ist. Dann wird sie sich selbst als Lebensfluss erkennen und sich eins mit allem fühlen.

Rein äußerlich wird sie sich kaum verändern. Aber in ihr ist alles neu geboren.

Anna weinte still. Große Tränen liefen ungehindert über ihre Wangen und tropften auf ihre weiße Hose. Anna weinte und lächelte dabei. Auf einer ihr nicht bewussten Ebene hatte sie die Gedanken Lorys verstanden. Von ganz tief in ihr stieg eine sanfte Freude in ihr auf. Eine Freude darüber, dass sie weinen konnte. Eine Freude darüber, dass sie mit ihren Daumennägeln spielen konnte. Eine Freude darüber, dass sie Schmerzen fühlen konnte. Eine Freude darüber dass sie am Leben war.

Anna signalisierte Lory, dass sie die Sitzung nun beenden wollte. Auch das war interessant für Lory, denn normalerweise war das ihr Part. Die beiden Frauen standen auf reichten sich die Hände und jede erkannte sich in der anderen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Mitmensch
Je älter ich werde, umso weniger gibt es über mich zu sagen :-)

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Mitmensch *Danke* - @ Bärbel und Sime
lieben herzlichen Dank für Eure Kommentare!
Ganz besonders Dir liebe Simone.
Dein Kommentar ergänzt in wundervoller Weise das oben Geschriebene.
Ich empfinde Deine Worte als Geschenk.
Danke dafür!
Johanna
Vor langer Zeit - Antworten
kullerchen Schwere Kost, - für den, der es liest und noch vor der Tür steht. Altern geht an keinem vorbei und glücklich ist der der nur Zipperlein hat.

Wenn dich aber früh deine Gesundheit verläßt, alterst du anders. Es beginnt mit Erstaunen, Wut, Uneinsicht und auch Selbstmitleid. Auf den Arzt bin ich angewiesen, hab es lange ohne versucht. Auch eine Erkenntnis.Wer sich selbst nicht mehr behelfen kann, muß die Hilfe anderer zulassen.

Man verliert seine Selbständigkeit und was einen oft peinlich war, nimmt man dann an. Ein Lernprozess, wie beim Kind. Diesmal aber anders herum.

Schmerzen, ja, davon hab ich genug, mehr als Geld. Nur eine sarkastische Feststellung. Angst? Ja, auch die ist da, nur nicht um mich. Ich habe ein Ziel, alt zu werden, mit meiner großen Liebe. Dass er einmal gehen muss in vielen Jahren, weiß ich und totzdem macht es Angst.

Ob ich vorm Sterben Angst hab? Ja durchaus. Vorm Sterben hab ich Angst und ich hoffe, es geht schnell. Dumm gedacht?! Irgendwo schon, denn ab dem Tag der Geburt rutscht man seinem Todestag regelrecht Jahr um Jahr entgegen. Illusionär also dieser Wunsch, da ich und jedes andere Lebewesen jeden Tag ein wenig sterbe und viel dabei lebe!

Vorm Tod, vor meinem Tod, hab ich aber keine Angst. Lory hat das deiner Anna klargemacht. Sie wusste es bereits. Manchmal schließt sich leise und unbemerkt eine Tür hinter dir und man steht im Rahmen der nächsten. Da stand Anna. Lory hat den Pförtner gespielt, ihr freundlich die Richtung gewiesen.

Erwartungen im Alter, Ziele und Wünsche sind ebenso wichtig, wie in jungen Jahren, nur da geht es oft nur um die eigenen Bedürfnisse und die des Partners. Aus einem "Wirwesen" wird langsam ein Ich. Anna sind deshalb diese Momarbeiten so zuwider. Sie hat dann gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Auch wieder ein Prozess, in dem man sich selbst findet. Mutterpflichten dieser Art sind vorbei, die"Brut" ist groß und sollte selbstständig sein. Liebe geben ist ansonsten kein Problem.

Früher hat sich dann das Jungvolk um einen gekümmert. Heute muss man, wenns hart, auf hart kommt, in ein Heim.

Ein Bewusstsein dafür muss man erst entwickeln.

Sagenhaft, wie einfühlsam du das beschrieben hast. Ich denke, es läuft bei jedem so ab, nur die Zeitpunkte sind verschieden. Man kann sich das Altern erleichtern, indem man es annimmt.

Ich ziehe meinen Hut und denke, ich werde darüber auch meine Gedanken sammeln. Ich merke, es tut gut, auch wenn ich bereits den Türrahmen passierte! :0)

Danke!, Simone
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Wundervoll beschrieben - hast Du den inneren Konflikt einer alternden Frau (mir geht es übrigens ebenso) und doch gleichzeitig neue Perspektiven eröffnet. Ich bin auch der Meinung, dass im Prinzip jeder selbst sein bester Arzt ist...

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
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