Yasin war guter Dinge, als er abends aus der Bibliothek nach Hause kam. Endlich hatte er etwas Entscheidendes in Mathematik verstanden. Schnell jedoch wurde er wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurück geschleudert. Seine Mutter saß auf dem gammeligen Sofa im Wohnzimmer und weinte leise vor sich hin. Der Vater stampfte wütend immer wieder mit den Füßen auf, während er eine kleine Runde nach der anderen um das Sofa lief. Ohne das Yasin seinen kleinen Bruder trotzig auf dem Küchenstuhl hocken sah, dass dies alles mit ihm zu tun haben musste. Hassan hatte wieder etwas angestellt. Und er war nicht da gewesen um es zu verhindern. Die Schuldgefühle schlugen ihm bis zum Hals.
„Was hat er gemacht?“, fragte Yasin, während er sich mit bedrohlichem Schritt Hassan zu wandte.
„Die Polizei hat ihn vor einer Stunde hier abgeliefert. Er soll eine ätere Dame mit dem Messer bedroht haben.“ Mohammad hielt ein kleines Klappmesser hoch, was Yasin nur eines kurzen Blickes würdigte und sich sofort wieder auf seinen Bruder konzentrierte. „Doch sie hatte Glück und ein anderer Jugendlicher zeigte Courage und ging dazwischen. Hassan wurde das Messer abgenommen und dann solange festgehalten bis die Polizei kam. Allerdings hatte der Andere auch ein paar Verletzungen.“
Wütend zischte Yasin durch seine zusammengebissen Zähne: „Das hast du nicht wirklich getan!“
Hassan stand auf und nun sahen sich die so unterschiedlichen Brüder direkt in die Augen. „Was musste sich dieser piç (Bastard) einmischen? Der kann froh sein, dass er noch lebt.“
Da konnte sich Yasin nur noch schwer beherrschen nicht zuzuschlagen. „Du bist so ein armer Wixer, weißt du das? Du hast nicht zufällig mal darüber nachgedacht, wie sich das auf das Leben deiner Schwestern auswirkt, oder? Was jetzt die Arbeitskollegen von Papa denken, he? Aber nein, Hauptsache die Leute sprechen über dich und haben Angst. Du bist kein großer Gangster, weist du das? Du bist eine kleine, dreckige hamamböcegi (Kakerlake)!“ Verächtlich drehte sich Yasin um und schaute nur traurig seinen Vater an: „Es tut mir Leid. Nächstes Mal passe ich auf ihn besser auf.“
Mohammad sah ihn liebevoll an. Er schüttelte den Kopf. „Hassan ist selber ein Mann. Du kümmere dich um deine Schwestern und um die Schule. Um Hassan werde ich mich kümmern.“ Mit diesen Worten hatte ihn sein Vater ins Zimmer geschickt und sich Hassan gewidmet, der sich in dieser Nacht wünschte, nie geboren worden zu sein.
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Vor lauter Frust hatte Yasin kaum geschlafen und man sah es ihm an. Seine Verachtung für den eigenen Bruder brodelte in ihm. Sollte ihm heute irgendjemand krumm kommen, würde er Yasin nicht von der besten Seite kennen lernen.
Heute gab es in den ersten zwei Stunden Englisch. Wieder war der einzige Platz neben diesem Blauauge von gestern frei. Sie sah mit voller Konzentration nach vorne. Er merkte es ihr an, wie sehr sie sich anstrengte ihn nicht anzuschauen und in einer gewissen Art und Weise war er ihr dankbar dafür, sich um dieses kleine bisschen Normalität zu bemühen. Er sah ihr Profil und wusste, dass sie sehr schön war. Passend zu ihren strahlend blauen Augen trug sie heute einen Himmelblauen engen Pullover und normale Bluejeans. Naja, jetzt war Englisch dran und nicht Sexualkunde.
Genauso wie am Vortag, hatte er seine Sachen bereits zusammen gepackt, bevor die Schulglocke läutete. Er bemerkte nicht wie Frau Reimer auf seinen Tisch zu kam. Erst als es zu spät war, sah er ihren marineblauen Rock vor sich. Langsam sah er an ihr hoch und, wie er sich gut vorstellen konnte, machte er nicht gerade ein kluges Gesicht dabei.
„Was machen Sie da, Herr Özmir?“
„Meine Sachen packen?“ Was sonst?
„Der Unterricht ist noch nicht beendet.“
„Es klingelt gleich.“
„Normalerweise beendete die pädagogische Fachkraft den Unterricht Herr Özmir. Nicht die Schulglocke.“
Fachkraft, dass er nicht lachte. Wenn die Fachkraft war, dann nur in dumm herumstehen.
„Entschuldigen Sie bitte, Frau Reimer, es war mir kurzfristig entfallen.“
„Damit Sie es nicht so schnell wieder vergessen, werden Sie jetzt bitte feinsäuberlich alle Bücher, Hefte und sonstiges aus Ihrer Tasche nehmen und auf Ihren Tisch stapeln. Und zwar sofort!“
Gegenrede brachte sowieso nichts und so tat er, wie ihm geheißen. Sein ganzer Körper war unter Spannung, jeder Muskel in Alarmbereitschaft. 'Allah steh mir bei, nicht unpassend zu reagieren', schoss es durch seinen Kopf. Frau Reimer musterte ihn die ganze Zeit. Dann klingelte die Schulglocke. Yasin wollte wieder seine Sachen einpacken, doch Frau Reimer sah ihn strafend an. „Sie können einpacken.“, sagt sie zu der Klasse, „Sie nicht, Herr Özmir.“
Seine Schultern spannten sich zum Angriff und sein übermüdeter Verstand richtete jegliche Wut auf diesen ausgestopften Hasen vor sich, der es sich erdreistete ihn vor aller Welt bloß zu stellen. Nur aus dem Augenwinkel merkte er wie sich das Blauauge an der Tür kurz umdrehte und zu zögern schien. ‚Geh ruhig, dumme Kuh, hier kannst du auch nichts mehr machen.‘, dachte er bei sich.
„Was ist denn, Frau Filbur?“
„Ich warte auf Yasin, ich wollte noch etwas mit ihm wegen Geschichte durchsprechen, wo ich gestern nicht ganz mitgekommen bin. Er ist doch so gut in Geschichte.“
Das saß. Wie viele war Frau Reimer alles andere als, naja… ihr wisst schon… Das dieser ausgewachsene, auch noch gut aussehende Türke da vor ihr, hier auf das Gymnasium gehörte, wollte nicht in ihren engstirnigen Kopf hinein. Und das er jetzt auch noch gut sein sollte, passte ihr überhaupt nicht.
„Sie können gehen, Herr Özmir.“
Jetzt war Yasin völlig verblüfft. Woher nahm dieses kleine, zierliche Ding diesen Mut? Nachdem er aber seine Sachen gepackt hatte und Judith immer näher kam, merkte er auf einmal, wie sehr sie zitterte. Als die beiden aus der Tür gingen und ein Stückchen gemeinsam den Flur entlang gewandert waren, schielte ihnen immer noch ungläubig Frau Reimer hinterher.
Am Ende des Flures blieben sie stehen. Er sah ihr direkt in die Augen. „Danke.“ Mehr wusste er nicht zu sagen. Das Mädchen lächelte. „Kein Problem.“ Ihr zittern hatte nachgelassen, doch sie schaute ihm nicht mehr in die Augen. Yasin merkte, wie sie sich innerlich wand. „Bis gleich?“, fragte er. Blauauge sah nun doch wieder hoch und nickte erkennbar. Ein schüchternes Lächeln zog um ihre Mundwinkel. Ermunternd lächelte er zurück und verschwand im getümmel der Schüler.
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Als er endlich draußen ankam, musste er sich erst mal setzen. So etwas hätte er der Kleinen gar nicht zugetraut. Aber warum hatte sich das getan? Vielleicht, weil sie einfach anders war. Auf jeden Fall war sie etwas Besonderes für ihn, das wusste Yasin jetzt schon, egal wie das hier in dieser Stadt enden würde. Blaugauge blieb etwas Besonderes unter all den Menschen die er je kennenlernen würde. Da war er sich ganz sicher.
Obwohl er sich innerlich zu Vorsicht ermahnte, konnte er nicht umhin sich ein kleines bisschen auf Mathe zu freuen.
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Doch es kam anders. Anstatt ihn freudig anzulächeln, wenn er den Raum beträte, sah ihn das Mädchen nicht mal an. Für ihn war es wie ein heftiger Schlag in die Magengrube. Erst als er neben ihr saß und schon seinen Block heraus geholt hatte, nahm er eine Bewegung neben sich wahr. Seine Nachbarin hatte sich kurz bevor der Unterricht begann zu ihm umgedreht und ihm verschwörerisch zugezwinkert. Ihm fiel auf, dass er ihren Namen gar nicht kannte. ‚Aber es ist auch besser so, sonst komme ich noch auf dumme Gedanken!‘, schalt er sich selber im Geiste und versuchte sich den restlichen Tag voll auf den Unterricht zu konzentrieren.
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Auf dem Weg nach Hause, was auch immer das Bedeuten für ihn mag, aber heißen tut es nun einmal so, dachte er nicht mehr an das Mädchen. Hassan machte sich in ihm breit. Die Wut von dem Morgen kam zurück. Warum war Yasin so und Hassan so? Woran lag es, dass die beiden so unterschiedlich waren, wie Tag und Nacht? Und warum gab es so viele Hassans in Deutschland, sodass keiner mehr den wahren Türken kannte? Überall starrten sie oder wechselten die Straßenseite. Unbewusst hatten sie doch alle Angst. Selbst die kleinen Kinder bekamen manchmal schon Panik, wenn ein brauner Mensch daher gelaufen kam und nicht deutsch aussah. Wie Yasin das hasste! Immer rechtfertigen für das, was er war, aufpassen, dass er nicht anfing, sich dafür zu schämen ein Türke zu sein.
Alle waren zu Hause, bis auf Hassan. Besser so. Nevin kam auf ihn zu, seine kleinste Schwester. Sie war wirklich sehr schön, fand Yasin. Nicht so aufgetakelt, wie die meisten. Jedoch ging es ganz ohne Make-up auch nicht. „Abi (Bruder), wie geht’s?“ Ohne es wirklich zu wollen musste er lächeln. Wie sehr er doch seine Schwestern liebte. Beide hatten einen unglaublichen Optimismus und eine fröhliche Art alles durch eine kunterbunte Regenbogen-Brille zu sehen. Nur zu gerne ließ er sich davon anstecken. „Soweit alles klar, und bei dir, wie war dein Tag?“ Hinten, in der Küche, sah er auch seine Mutter und seine andere Schwester Sükran.
Der Abend war wie ein Traum, eine Illusion. Jeder war friedlich miteinander. Familie Özmir war eine glückliche Familie an diesem Abend. Man lachte, aß und hatte Spaß. So ein Abend tat ihnen allen gut.