Das tierische Waisenkind
Was ist ein Waisenkind? Ein Mädchen, deren Familie sie für eine gewisse Zeit verlassen hat.
Ich bin ein solches Waisenkind. Mein Frauchen und mein Herrchen haben mich für über eine Woche verlassen.
Doch bevor ich mein Leid klage gebietet es mein Anstand mich vorzustellen: Mein Name ist Kimba. Ich bin ein braunes Labradormädel und liebe meine Familie über Alles. Zweifellos lieben sie auch mich. Aber dennoch brachten sie es über ihr Herz mich für 8 Tage bei sehr zweifelhaften Genossen unterzubringen: Einem Ersatzfrauchen namens Elke, ihrem männlichen Anhängsel Bernd und meiner besten Freundin Gretchen - ebenfalls ein Labradormädel, nur etwas älter und eine Retriveroma mit Namen Frida.. Von Gretchen sollte ich in dieser Zeit viel lernen.
Ich kannte dieses Rudel schon länger und wusste, dass ich dort sehr willkommen war und sie auch nur mein Bestes wollten. Also beschloss ich mich meiner guten Erziehung zu erinnern und keine Schande zu bereiten. Ich wollte alles richtig machen und einfach nur lieb sein.
Bereits bei meiner Ankunft – Frauchen hatte mich an einem Sonntagabend abgeliefert und mich mit einer Träne im Auge verlassen – wollte ich beweisen, was für ein toller Hund ich bin. Ich wollte in meinem neuen Übergangsheim niemanden zur Last fallen und ständig fragen, wo sich hier in dieser Wohnung alles befindet. Also untersuchte ich die neue Umgebung sehr gründlich.
Zuerst begab ich mich ins Wohnzimmer. Ist die Couch auch weich genug für meinen wohlgeformten Körper? Ein Sprung mit ausreichend Anlauf lieferte mir sofort den Beweis für deren Standhaftigkeit. Dass mein neues Herrchen Bernd gerade zu jenem Zeitpunkt auch dort Platz genommen hatte, erkannte ich leider etwas spät und landete mit vollem Kampfgewicht auf dessen Unterleib Ein kurzes schmerzhaftes Aufstöhnen des Herrn ließ mich erkennen in welcher Körperregion meine Landung erfolgt war. Dies war mir zwar etwas peinlich, aber in diesem Alter zeugt ein Mann sowieso keine Kinder mehr.
Kann man mit einem Sprung von der Lehne dieser Couch ohne den Fußboden zu betreten – ich wollte möglichst wenig Schmutz machen – den Balkon erreichen? Dies sollte ein Versuch wert sein.
Der Versuch glückte und 6 verdutzte Augen beobachteten meinen Flug und die nahezu perfekte Landung. Dies also war der Balkon.
Auf dem Balkon sah ich mich umringt von Stöckchen. Liebevoll und dankbar schaute ich auf meine neue Übergangsfamilie. Selbst an ausreichend Stöckchen haben sie gedacht. Sogar geschmückt waren diese Stöckchen. Blumen umrankten sie. Und dies alles für mich. Hierfür wollte ich mich besonders dankbar zeigen. Sofort zog ich eines meiner hölzernen Willkommensgeschenke aus dem Erdreich, entsorgte die doch etwas störenden Blumen und trug es umgehend ins Wohnzimmer um Elke und Bernd zu demonstrieren, dass ich meine Geschenke sofort gefunden habe.
Frauchen Elke schaute mich an, als hätte ich einen Fehler begangen.
Dann entdeckte ich Gretchens Spielzeug. Ein ganzer Korb voller Bälle, Gummischweinen und anderen quietschenden Spielsachen. Ich wusste, dass ich größer und kräftiger war als Gretchen. Würde dieses Spielzeug meinem Kiefer standhalten. Ich wollte Gretchens Sachen nicht zerstören und bevor ich mich meinem Spieltrieb hingab diese erst auf Haltbarkeit untersuchen. Leider stellte ich fest, dass diese ihren Preis nicht wert waren und keinem ordentlichen Biss standhielten. Also legte ich die verbliebenen Reste des Spielzeugs wieder weg. Ordnung muss sein.
Diesmal schaute mich Gretchen an, als hätte ich einen Fehler begangen.
Nun untersuchte ich das Schlafzimmer. Meine feine Nase erkannte sofort, dass in diesem Bett 3 Personen nächtigen: Elke, Bernd und Gretchen. Wie gesagt: Ich wollte nicht lästig sein und andauernd nachfragen. So machte ich mir meinen eigenen Reim. Nach einiger Zeit ging Elke zu Bett, während Bernd noch im Wohnzimmer saß. Wenig später folgte ihr Gretchen und legte sich zu ihr ins Bett. Frida schlief vor dem Bett. Wahrscheinlich vertrug ihr altes Kreuz die weiche Matratze nicht. Durch die Aufregung wurde ich auch langsam schläfrig und begab mich zu den Beiden ins Bett. Elke schlief bereits. Ein Bett war noch völlig leer und so reckte ich dort meinen Körper wohlig aus. Tat das gut!
Als Bernd schlaftrunken zu Bett wollte schaute er mich diesmal an, als hätte ich einen Fehler begangen.
Als die Sache mit den Schlafstätten nach einer unerfreulichen Diskussion geklärt war, schlossen wir alle unsere Augen. Zumindest für eine Weile. Mitten in der Nacht hörte ich Geräusche im Haus. Dies war ich von meinem Zuhause nicht gewohnt. Einbrecher!
Oder wollte meine neue Familie mich testen? Wollten sie wissen, ob ich ein guter Wachhund sei?
Ich bewies dies, indem ich zuerst ein tiefes Knurren und anschließend ein lautes Bellen verlauten ließ. Binnen Sekunden war nicht nur die Familie, sondern das ganze Haus hellwach. Ich bellte noch ein wenig lauter und gefährlicher. Egal ob Einbrecher oder Test – jeder sollten wissen, dass eine Kimba sich vor nichts und niemanden fürchtet.
Am nächsten Tag schauten mich die Nachbarn an, als hätte ich einen Fehler gemacht.
Der Rest der Nacht verlief angenehm ruhig. Der Morgen graute und ich bemerkte, dass Gretchen pünktlich um 6 Uhr ihr Frauchen durch ein liebevolles Anstupsen mit der Nase in deren Gesicht weckte. Ich fand diese Geste von Gretchen sehr nett und wollte es ihr gleichtun. Nein – ich wollte es besser machen – ich wollte noch liebevoller sein. Beherzt sprang ich zu Elke ins Bett und schaute in ihr schlafendes Gesicht. Sollte ich sie auf die Nase oder auf die Augen küssen? Was wäre Elke wohl lieber? Ich entschied mich für Beides und schleckte mit meiner breiten Zungen über Nase und Augen gleichzeitig. Sie war sofort hellwach. Es hat ihr wohl gefallen. Also schleckte ich noch über die Ohren bis sie mich unter Beschimpfungen aus dem Bett warf.
Diesmal schaute ich selbst, als hätte ich einen Fehler gemacht.
Am nächsten Tag kochte Elke lecker Essen für die Menschen. Es duftete köstlich. Ich kannte die Kochkünste meines Frauchens. Kochte Elke besser? Dies galt es für einen gewissenhaften Hund zu überprüfen. Mein Frauchen würde sich wohl sehr freuen, wenn ich ihr mitteilen könnte, dass sie besser kochte als diese Elke. Doch dies galt es zuerst herauszufinden. Also stieg ich mit meinen Vorderfüßen auf die Küchenplatte um nachzuschauen, was hier gekocht wurde. Zuerst versuchte ich das Brot, ob dies auch frisch war. Danach untersuchte ich die Mohrrüben auf deren Frische und letztendlich wollte ich das Fleisch testen als Bernd mich mit – meiner Meinung nach mit unangebracht lauter Stimme – der Küche verwies. Ich war beleidigt. Auf diese Art lässt sich keine wissenschaftliche Studie über die Essgewohnheiten dieser Familie erarbeiten.
Diesmal schaute ich Bernd grimmig an: Er hatte einen Fehler gemacht.
Dennoch wollte ich ihm nicht gram sein. Ich merkte aus seinem Verhalten, dass er mich richtig mochte. Abends saß er wie meist auf der Couch und trank an einem Glas Wein. Ich als vielseitig interessiertes Tier war natürlich neugierig, ob er einen edlen Tropfen bevorzuge oder nur dem Alkohol zuliebe sich Hochprozentiges einverleibe. Ich musste dies wissen, um den Herrn richtig einzuschätzen. Also wartete ich kurz bis das Glas in Reichweite meiner Zunge war und verkostete den – zugegebenermaßen – edlen Tropfen. Bernd lachte herzhaft und schüttete den Rest des Glas aus.
Ich verstehe manchmal die Menschen nicht. Warum tat er das? Ich lasse ihn ja auch aus meinem Napf trinken, wenn er es mag.
Übrigens trinken: Es war ein seltsames Haus mit seltsamen Sitten, in welchem ich mich hier befand.
3 Futternäpfe für 3 Tiere. Dies konnte ich verstehen. Jedem Tier seinen Napf. Aber warum hatte Frida 3 Wasserschüsseln für sich allein? Denn die Labradore mussten stets aus der Toilette trinken. Dies hatte Gretchen mich gelehrt. Vielleicht war das Wasser in den Schüsseln spezielles Retriverwasser? Wäre immerhin möglich. Aber das Wasser aus der Toilette ist lecker und ich werde mich zuhause gerne daran erinnern.
Eines Tages waren wir vierfüßigen Rudelmitglieder alleine. Elke und Bernd hatten das Haus für kurze Zeit verlassen. Wie sollte ich ihre Rückkehr zelebrieren? Wie sollte ich ihnen zeigen, wie sehr ich mich über ihre Heimkehr freue? Ich entscheide mich für ein freundliches Hochspringen an den Beiden, verbunden mit lautem Bellen. Jeder im Haus und auch auf der Straße sollte an meiner Freude teilhaben. Die Beiden erschienen. Die Tür öffnete sich. Ein freudiges Bellen erschallte durch ganz Heddesheim. Zuerst sprang ich an Herrchen Bernd hoch, wodurch er ins Straucheln geriet und
beinahe auf dem Fußboden landete. Dies hätte den Vorteil, dass ich ihn besser ablecken könnte. Doch zuvor musste ich Frauchen Elke begrüßen. Ich sprang an ihr hoch, als sie sich gleichzeitig nach mir bückte um mich zu Streicheln.
Zuerst verspürte ich einen stechenden Schmerz an meiner empfindlichen Nase. Roch die Frau so schlecht, dass es meiner Nase körperliche Schmerzen verursachte. Nein sie roch sehr gut. Unmittelbar danach hörte ich Elke aufschreien. Dieses Schreien wandelten sich kurz später in ein leises Wimmern. Ich zog mich vorsichtig zurück um herauszufinden was geschehen war. Wir waren einfach zusammengestoßen und sie hat mir mit ihrem linken Auge direkt auf meine Nase getroffen. Warum konnte sie auch nicht aufpassen? Das daraus resultierende blaue Auge war wohl die Strafe des großen Hundegottes hierfür. Trotzdem tat sie mir leid.
Gestern waren wir wieder spazieren. Ich mag es mit Gretchen und Frida über die Heddesheimer Felder zu toben. Nur der Weg zum Feld unter Leinenzwang missfällt mir etwas. Elke schaut immer, dass ich bei Fuß laufe. Manchmal tue ich ihr den Gefallen. So auch gestern. Doch erspähte mein Auge einen Kater auf der anderen Straßenseite. Einen dicken, fetten Kater. Den Feind!
Ich kannte diese Art boshafter, intriganter und hässlicher Viecher. Sicher würde er eines Tages, wenn ich nicht schützend anwesend bin Frauchen Elke angreifen und fressen. Dem musste ich zuvorkommen. Ich musste den alten Kater vertreiben.
So rannte ich unvermittelt los das Vieh zu jagen und zum Kampf zu stellen. Leider hatte ich vergessen, dass ich angeleint war. Elkes Schultergelenk unterbrach durch ein gemeines Knacken meinen Jagdtrieb. Der Schrei aus Elkes Mund hatte den Kater sowieso vertrieben. Auf diese Art hatte ich mir einen Katerkampf erspart. Jeder Hund sollte es so machen.
Nun werde ich bald wieder von meinem wirklichen Frauchen abgeholt. Ich freue mich sehr, freue mich aber auch wenn ich diese Chaotenfamilie, bei der ich eine Woche lieb sein durfte bald wiedersehe. Was hat Bernd zu Elke gesagt? Was musste ich gerade eben noch hören?
Ein blaues Auge, ein fast ausgekugeltes Schultergelenk, schmerzhafte Hoden und zerstörtes Spielzeug. Aber geliebt haben wir die Kimba trotzdem. Was will ein Hund mehr?