Kurzgeschichte
Todesstollen - Ein Besuch im KZ

Es ist furchtbar still. Totenstill. Ich habe meine Gruppe verloren, ausgerechnet hier. Panisch krame ich mein Handy aus meiner Tasche, halte es hoch und drehe mich ein paar Male im Kreis. Kein Empfang. Das habe ich erwartet. Dennoch lasse ich das Handy in meiner Hand, es fühlt sich besser an. Zögerlich gehe ich den schmalen Gang hinunter, der zu meiner Rechten liegt. Ich glaube, Stimmen von dort zu hören. Die alte Holzbrücke knarrt bedrohlich unter meinen Schritten, und plötzlich erlöschen die Lampen, die die Stollenwände schwach erleuchtet haben, alle gleichzeitig. Ich schreie vor Schreck. Meine Stimme hallt von den Wänden wieder. Es ist so kalt hier, so unglaublich kalt. Ich erinnere mich, ich habe eine Taschenlampenfunktion auf dem Handy, die ich schnellstens aktiviere. Jetzt kann ich alles sehen, was rechts und links von mir ist. Die Trümmer der Bomben und Waffen, die die Häftlinge früher hatten herstellen müssen, sehen aus wie dunkle Skelette, sind teilweise unter Steinen und Holz begraben. Ich sehe die Kammern in den Steinwänden, für mich wirken sie nicht größer als mein eigenes Zimmer, daheim. Da wäre ich jetzt gern. Schließlich komme ich am Ende des Wegs an. Vor mir ist ein Schacht im Boden, der sich über die Jahre mit Grundwasser gefüllt haben muss. Kein Weiterkommen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, in panischer Angst. Ich will nicht wieder zurück. Ich will raus hier. Plötzlich höre ich einen Schrei. So etwas Furchtbares habe ich vorher noch nie gehört. Da ist etwas passiert! Ich nehme all meinen Mut zusammen und renne den Gang zurück, ich ignoriere meine eigene Angst und die Kälte, die schwarze Dunkelheit. Das hätte ich vielleicht lassen sollen, denn ich stolpere über etwas und stürze in die Trümmer, auf harten Stein. Als ich die Augen wieder öffne, zerrt mich jemand auf die Füße. Mein Handy habe ich nicht mehr. „Weitermachen, sofort aufstehen!“ Jemand schubst mich nach vorne, ich falle gegen eine ausgemergelte, totenbleiche Gestalt. Ich kann mein Gleichgewicht noch halten, sie fällt einfach um und bewegt sich nicht. Der Stollen ist jetzt von winzigen Lampen erleuchtet. Ich sehe die Menschen. Wie im Horrorfilm sehen sie aus, wie wandelnde Skelette, in Lumpen gewickelt. Ich beginne zu zittern. Was passiert hier? Der Mann, der mich gestoßen hat, merkt, wie ich taumele. Er packt mich und schleift mich den Gang entlang, der eben noch still gewesen war wie ein Friedhof. Die Menschen arbeiten jetzt, es ist ein unglaublicher Lärm und es stinkt furchtbar. Ich komme an den Kammern vorbei. Menschen liegen dort, übereinander gestapelt, so viele habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Ich kann sehen, dass auch Jugendliche dabei sind. Einer liegt auf dem Boden. Ein Stein ist auf ihn gefallen und begräbt seine Beine unter sich, der Junge heult und schreit vor Schmerz, aber niemand hilft. Mir tut es so weh, ihn zu sehen. „Der Junge! Sehen Sie, er braucht einen Arzt!“ rufe ich verzweifelt. Der Mann schlägt mir ins Gesicht, sodass ich neben ihm auf dem Boden lande. Dann geht er einfach weg, ich sehe, wie er ein paar andere anschreit. Verzweifelt versuche ich, den Stein hochzuheben. Irgendwas gibt mir die Kraft dazu. Für einen Moment hört er auf zu schreien. Ich nehme ihn auf den Rücken und trage ihn durch die Stollen, am Elend vorbei, durch den Gestank. Er klammert sich an mich und weint leise. Mir ist auch zum Weinen. Ich trage ihn vorbei an provisorischen Toiletten, halbe Benzinfässer und ein Brett darüber. Ich sehe einen Kran. Daran hängt ein Balken, fünf Schlingen, fünf Männer darin. Abgemagert, halb vermodert, erhängt, tot. Ich kann nicht hinsehen. „Warum?“ frage ich den Jungen mit schwacher Stimme. „Man hat ihnen vorgeworfen, sie hätten Waffen sabotiert. Es ist eine Warnung“, schluchzt er. Langsam wird mir klar, wo ich hier bin. Das ist die Vergangenheit. Das sind die grausamen Verbrechen des zweiten Weltkriegs, die Verbrechen der Nazis. Und ich bin mittendrin. Wir werden aufgehalten. Es ist wieder so ein Mann wie vorhin. Vielleicht der Gleiche? Er hat das Gleiche an. „Wo wollt ihr hin, Abschaum?“ schreit er. „Er muss zum Arzt!“ schreie ich zurück, mutig durch die Wut und die Unerfahrenheit. Ich denke, er will mir helfen, denn er nimmt mir den Jungen ab. Dann lässt er ihn fallen. In den Schacht, in dem jetzt kein Wasser ist. Ich schreie wie am Spieß, ich weine, ich kann nicht mehr. Ich renne zum Rand der Grube. Sie ist nicht tief, aber es hat gereicht. Er lebt noch. Ich strecke meinen Arm hinein, schaffe es, ihn herauszuziehen. „Danke.“ Murmelt er und stirbt in meinen Armen. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, kommen zwei andere Häftlinge zu mir, nehmen die Leiche des Jungen und tragen sie weg. Sie legen sie vor eine Wand. Sein Mörder geht zu ihnen und befiehlt: „Einmauern!“ „Nein!“ brülle ich. „Nein! Ihr Schweine, ihr verdammten Schweine!“

Durchgeschwitzt, weinend und völlig am Ende wache ich auf, in meinem Bett, mitten in der Nacht. Noch immer verfolgen mich die Bilder meines Traumes, Bilder, die ich so ähnlich wirklich kenne, aus einem Film, den wir gestern in der KZ-Gedenkstätte gesehen haben. Ich bin auch in dem Stollen gewesen, mit meiner Klasse. Alles, was ich im Traum erlebt habe, hat der Gruppenleiter beim Gang durch die unterirdischen Gänge beschrieben. Immer noch zitternd stehe ich auf, gehe ans Fenster, und sehe die Sterne an. Ich denke an den Jungen aus meinem Traum. Ob es ihn wirklich gegeben hat? Ob er jetzt glücklich ist, dort, wo er jetzt ist, wo es keine grausamen, irren Menschen gibt? Ich will beten, für alle, die durch Gewalt, Willkür und fanatische Ideologien leiden und sterben mussten und müssen, und ich tue es. Lange. Dann nehme ich mein Geschichtsbuch aus meiner Tasche. Darin ist ein Bild. Ein Bild vom Führer. Und das erste Mal im Leben spüre ich für einen Menschen richtigen, bedingungslosen Hass.