Erster Akt, Szene 2 - Jorges Monster
Wie in Zeitlupe feuerte Raphael seine Armbrust los und ließ sie fallen, während er bereits nach seinem Bogen griff. Der starke Schnappmechanismus schleuderte bereits beim Ausklappen einen Pfeil in Richtung des Vampirs. Eine weitere Spielerei des Deutschen. Wenn man Rasputin eins lassen musste, dann dass er clevere Ideen hatte. Kaum war der Bogen mit einem lauten Klicken eingerastet, legte er schon einen neuen Pfeil an, den er einen Sekundenbruchteil zuvor aus seinem Köcher gezogen hatte. Er spannte seinen muskelbepackten Arm an und hielt den schlanken Pfeil gerade auf den Kopf des Anderen gerichtet. Er erstarrte in der Bewegung. Der Pfeil, den er beim Ausklappen losgeschleudert hatte, steckte nun genau zwischen den Augen Igors, aber diesem schien das nichts auszumachen.
Rasputin neben ihm keuchte plötzlich. Ein Schweißtropfen Raphaels flog durch die Luft.
Wo ist er hin?, schoss es ihm durch den Kopf.
Vor ihm saß nur noch der Vampir in einem melierten, blauen Chefsessel hinter einem geborstenen Schreibtisch. Zwei Zimmerpalmen standen in geschmacklosen Töpfen rechts und links von ihm und zierten das nach Blut stinkende Zimmer mit der zweifelhaften Schönheit von versifften Toiletten in billigen Raststätten aus dem Amerika der späten sechziger Jahre.
Panisch keimt plötzlich ein Gedanke in dem Italiener auf und er folgte der Flugbahn der Schweißperle, die eben an ihm vorbeigeflogen war.
Hinter ihm stand Igor, der mit seiner gewaltigen Faust Johannes an die Wand presste.
Ein Zucken in den Muskeln des Ungeheuers verriet Raphael, dass er wohl in den nächsten paar Sekunden an der Wand landen würde. Mit zusammengebissenen Zähnen bereitete er sich auf den Aufprall vor und lies das Ende seines Pfeilschaftes los, bevor er einen harten Schlag in die Magengrube bekam und ohnmächtig zu Boden sank.
"Du bist also ein Mary Shelle Fan, Vladimir?" presste Rasputin von seinem durchaus unangenehmen Platz an der Wand aus hervor.
"In der Tat, 1818 war ein wundervollen Jahr" antwortete der Mann mit dem weißen Haar.
Mit einem sarkastischen Gesichtsausdruck tätschelte der Deutsche den Arm des Monstrums.
"Darum Igor, ja? Du hast dir wie Frankenstein dein Monster erschaffen, aber es stellt deinen Diener dar?"
Mit einem angewiderten Gefühl sah er mit an, wie Igor seine Zunge gewaltsam aus dem angenähten Maul schieben wollte und dabei einige seiner morschen Zähne herauspresste. Sie landeten in einer grünschwarzen Sabberpfütze.
"Jaja, genau, das soll es sein! Schön, einen gleichgesinnten zu treffen. So wenige wissen, dass Frankenstein der Wissenschaftler war und nicht das Monster. Ich würde so gerne etwas mit dir über diesen gelungenen Schmöker reden, aber... Naja, du musst noch sterben denke ich?" fragte der Vampir mit fast ehrlichem Mitleid in der Stimme.
"Ähm", räusperte sich Johannes, "Eigentlich sind wir nur hier um dich nach einem bestimmten Buch zu fragen. Ironischer weise... hat es mit deinem Hobby hier zu tun" er klopfte angeekelt auf den Pfeil, der in Igors Schädel steckte.
"So?" fragte Vladimir.
"Ja. Wir sind auf der Suche nach einem Aufschrieb von Frankenstein in dem er seine Erkenntnisse im Bezug auf die Werke des Alchemisten Cornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus dokumentiert"
"Und ihr hättet nicht einfach klingeln können? Und mich nett bitten?"
Der Deutsche räusperte sich.
"Nun, wir dachten, dass es einfacher wäre dich heimlich in der Nacht zu bedrohen, aber im Nachhinein würde ich sagen, dass klingeln wohl die bessere Option gewesen wäre"
"In der Tat. Aber nun ja, ich würde dir ja gern mein fundiertes Wissen über das Thema geben, aber diesen Aufschrieb hüte ich wie einen Schatz"
"Oh, er ist also in deinem Besitz?"
Der Vampir zog zischend Luft ein.
"Igor zerquetsch ihn! Mach, dass er leidet!"
"Oh?!" raunte Johannes.
Die riesenhafte Axt hob sich langsam und zielte mit einer unerwarteten Präzision auf Rasputins linken Rippenansatz. Dann zog sich ein breites Lächeln über das grob proportionierte Gesicht des Deutschen.
Ein Klirren ertönte.
"I... Igor? Lass ihn los. Jetzt!" wimmerte Vladimir plötzlich.
Zuckend kam die mittelalterliche Waffe vor Johannes Nase zum stehen und dann abgesenkt.
"Hugh?" grunzte das Wesen und drehte sich um.
Vladimir stand mit zitternden Knien und erhobenen Händen am Schreibtisch. An seiner Bleichen Kehle zeichnete sich ein schwarzes Rinnsal gestockten Blutes ab, dass aus einer kleinen Wunde an seinem Kehlkopf tropfte. Obwohl sich Johannes nicht ganz sicher war, könnte diese Wunde an dem Pfeil liegen, den Raphael dem Vampir flach an den Hals drückte.
Der Italiener grinste seinem Partner zu.
"Siehst du Vladimir?", fragte der Deutsche, "Darum gewinne ich immer; Meine Rückendeckung war mal Preisboxer, er ist höchstens neun Sekunden KO" lachte er und ging zu dem Stuhl auf dem der Vampir kurz zuvor noch gesessen hatte. Er ließ aus seiner Hand Funken sprühen und fuhr über den Kunststoffsitz und die Lehne. Schließlich sprang mit dem Geräusch einer sich entspannenden Messingfeder ein kleines Versteck an der linken Armlehne auf.
"Jackpot" murmelte Johannes.
Er drückte den Knopf und ein lautes Surren ertönte. Fragend sahen die beiden Männer den Vampir an. Dieser ließ mit einem grantigen Gesichtsausdruck als Antwort jedoch nur zwischen seinen spitzen Zähnen eine dünne, gespaltene Zunge hervorschnellen.
Plötzlich brach Igor zusammen, klatschte an die Wand und knallte der Länge nach auf den Boden. Sein rechtes Ohr brach auf und eine grünlich, stinkende Bracke floss aus dem Loch in seinem Kopf.
"Mein Baby!" kreischte der Vampir.
Rasputin packte den Mann am Kragen und knallte ihn gegen einen staubigen Aktenschrank.
"Ich hab mir gleich gedacht, dass dieses Ding keine echte Schöpfung ist. Das war ein Golem aus Leichenteilen. Graf Jorge, ich bitte euch ein letztes Mal im Guten; Wo-ist-der-Aufschrieb-von-Frankenstein?"
Zitternd deutete der Mann mit den weißen Haaren auf einen kleinen Safe in Reisegröße.
"Danke" sagte der Deutsche freundlich und knallte dem Rumänen den vergoldeten Totenkopf an seinem Gehstock gegen das Jochbein. Ein Knacken ertönte und der Körper des Vampirs erschlaffte.
Johannes ließ erneut die Funken um seine linke Hand aufstoben und legte sie auf den Metallkasten. Als nichts geschah zog er eine Augenbraue hoch und setzte vorsichtig seinen Stab auf den Tresor wo er einige Male schaukelte, sich dann auffing und mit erwartungsvollen Augenhöhlen zu seinem Besitzer aufsah.
"Krytal, bitte mach die Tür auf, das ist keine Elektronik, das kann ich nicht knacken"
Zustimmend hüpfte der Stock und seine polierte Metallspitze klackte leise auf der verstärkten Stahlwand.
"Rasputin wird das lange dauern?" fragte Raphael.
"Kommt drauf an. Was ist Angel?"
"Mein Stab ist angeknackst"
"WAS?"
"Es ist passiert als Igor mich gegen die Wand geschleudert hat"
Der Italiener reichte Johannes seinen Bogen über den Schreibtisch. Vorsichtig legte ihn dieser hin und schaffte sich Platz in dem er leicht illegal aussehende Dokumente vom Tisch fegte. Der Deutsche zog sich eine eckige Drahtbrille auf und untersuchte den Bogen eingehend.
"Er ist nur leicht lädiert. Das Kernmaterial ist noch erhalten und das wichtige Holz auch. Gott sei Danke, ist nur das Metall und Plastik verbogen. Benutz ihn nicht und ich repariere ihn nachher" sagte Rasputin mit Expertenmine.
"Hat was einen Zauberstabhersteller im Team zu haben" grinste Raphael.
Der Andere schnaubte.
"Jaja, sei ruhig und steck den Bogen ein. Überlaste das Gelenk aber nicht!"
Plötzlich ertönte ein lautes Klicken. Der Stab hüpfte vom Safe und mit einem quietschenden Geräusch schwang dessen Tür auf.
"Viktor Frankensteins Abhandlung zu den Werken der Alchemisten..." staunte Raphael.
Er grabschte nach dem Manuskript und stecke es unter seine Jacke.
"Raus hier"