Derweil saß Ray oben in seinem Büro an seinem Schreibtisch und beobachtete seinen Bruder, der nervös auf und ab ging. „Nun rück schon raus mit der Sprache”, forderte er ihn dann auf.
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„Na gut, es hat ja keinen Zweck.” Eugene blieb stehen. „Bruderherz, ich habe hier einen Brief unserer Eltern für dich.”
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Mit diesen Worten streckte er Ray einen Umschlag entgegen, der ihn mit leicht klopfendem Herzen in Empfang nahm. Feinstes Büttenpapier mit personalisierter Prägung. Einen Moment lang drehte er das Corpus delicti in seinen Händen hin und her.
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„Ich glaube, ich werde das besser nicht lesen.”
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Eugene lachte. „Ich habe ihnen prophezeit, dass du das sagen würdest.”
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„Schön, wenn wenigstens einer in der Familie mich ein wenig kennt. Und ich bin mir sicher, auch schon zu wissen, was in diesem Brief steht.”
In der Geste eines bekannten Late-Night-Talkers hielt er den Brief mit geschlossenen Augen an seine Stirn.
„'Komm zurück, heirate ein nettes Mädel aus der Nachbarschaft, Eugene und Hugh brauchen Hilfe in der Firma...' Hab ich was vergessen? Ach ja, der größte Trumpf: 'Vater ist krank'.”
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Prüfend sah er seinen älteren Bruder an. „Aber das letzte ist nicht ganz wahr. Als ich zuletzt zuhause war, habe ich mit seinem Leibarzt gesprochen. Vater ist im Grunde total gut in Form für sein Alter. Er hat nichts, was wirklich lebensbedrohlich ist, nichts außer den üblichen Unpässlichkeiten, die man in seinem Alter nun mal hat. Darüber hinaus wüsste ich nicht, was ich anderenfalls auf Dauer zuhause sollte. Händchen halten? Krankenschwester spielen? Vater sollte statt dessen froh sein, wenn seine Kinder glücklich sind.”
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Ray holte tief Luft. Das war ein ziemlicher Monolog gewesen und Eugene hatte schweigend zugehört.
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„Deshalb kommen wir jetzt zum entscheidenden Punkt: Der einzige Grund, aus dem ich nach Hause kommen würde, wäre, wenn ich wirklich gebraucht würde. Also, Eugene, beantworte mir diese eine Frage: Brauchst du tatsächlich meine Hilfe?!?”
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Als erste Reaktion ließ sein Bruder einmal heftig Luft aus seinen Lungen entweichen, entschloss sich dann, sich ebenfalls zu setzen. „Ich will ganz ehrlich sein.”
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„Und ich bitte darum!!”
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„Rayleigh”, setzte Eugene an, dann wurde sein Gesicht weicher, „Ray, du bist mein kleiner Bruder. Der jüngste von uns Dreien, das Nesthäkchen sozusagen.”
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Ray schnaubte, doch sein Bruder hob abwehrend die Hände. „Nein, warte. Normalerweise hat man es als letzter leichter, aber ich gebe zu, dass Mutter auf eine seltsame Art und Weise auf dich fixiert ist.”
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„Soll das heißen, ihr seid froh, dass ich weg bin? Oder soll ich zurück kommen, damit sie Ruhe gibt?”
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„Reg dich nicht auf, Brüderchen. Damit wollte ich sagen, dass Mutter nun mal alle Fäden zieht, um dich in ihren, nun ja, Bannkreis zurück zu bekommen. Dazu gehört eben auch, dass du angeblich in der Firma benötigt wirst.”
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Entnervt stöhnte Ray auf. „Ja, und?”
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„Die Wahrheit ist, dass ich sehr gut alleine zurecht komme. Ich hätte aber auch keine Probleme damit, wenn du zurück kehrst. Nur Hugh...”
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„Was ist mit ihm?” Hugh war Hollys Ehemann, tatsächlich eine Liebesheirat, wie es hieß, aber doch ein Mann aus gehobenen Kreisen, der seit kurzem in der Firma der Schwiegereltern mit wirken 'durfte'. Würde ER in Ray eine Gefahr sehen?
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„Hugh macht sich in der Firma für mein Verständnis sehr gut, aber er hat einen kleinen Fehler: Er ist nicht du. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass er sehr wertvoll für uns ist und seinen Weg dort machen wird. Allerdings nur, wenn er nicht wieder ins Hintertreffen gerät...”
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„...und das würde er, wenn ich wieder da wäre!”, rief Ray regelrecht erfreut aus.
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Eugene sah ihn seltsam an. „Bitte versteh das nicht falsch, Ray. Du musst wissen...” Er räusperte sich, denn solche Dinge wurden in der Familie selten laut ausgesprochen. „Also, Holly und ich, wir lieben dich, kleiner Bruder. Und um ehrlich zu sein, wir sind ein wenig stolz auf dich, dass du das hier durch ziehst.”
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Gerührt starrte Ray seinen großen Bruder an. „Wirklich? Das würde mir eine Menge bedeuten..”
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„Wirklich! Nicht”, fügte er mit einem maliziösen Lächeln hinzu, „dass ich das auch unter Folter jemals vor Mutter und Vater zugeben würde.”
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„Natürlich nicht!”, grinste Ray zurück.”Schließlich seid ihr hier, um mich zurück zu beordern.”
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„Naja, so mehr oder weniger. Aber Kendra scheint da noch viel mehr Interesse dran zu haben. Die Reise war im Grunde sogar ihre Idee.”
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Nachdenklich schüttelte Ray den Kopf. „Verrat mir, was ist mit ihr los? Klar, wir kennen uns schon lange, haben in der High School mal geknutscht-”
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„Aha! Also doch!”
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Er verdrehte die Augen. „Jaa, aber es war nix dolles. Und danach war nie wieder was. Warum ist sie jetzt so, naja, aufdringlich? Als ob ich ihr etwas versprochen hätte... Macht sie sich wirklich Hoffnungen auf mich?!”
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Eugene hob seine Hände in die Höhe. „Frag mich was Leichteres. Vielleicht hat Mutter ihr da ein paar Hoffnungen gemacht, sie und die Pendergast verbringen einiges an Zeit zusammen. Deswegen konnten wir vorhin am Tisch nicht so richtig aus uns raus gehen, obwohl uns dein Laden gut gefällt. Aber Dominique und Simon sind nun mal ganz auf der Seite unserer Eltern.”
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Mit einem bitteren Auflachen meinte Ray: „Aber ein so guter Geschäftsmann ist der alte Pendergast dann anscheinend doch nicht. Wenn ich nur daran denke, dass ER mir diesen Crunner empfohlen hat!”
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„Ich weiß nicht alle Details, aber der ist abgehauen, oder?”
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„Nachdem er meinen Namen beinahe ruiniert und hier alles dafür angelegt hat, es auch mit dem Sunset zu tun, ja. Und mit einer kompletten Tageseinnahme. Ich weiß gar nicht, ob ich Onkel Simon darauf ansprechen sollte. Zum Glück hat er bisher nicht nach ihm gefragt! Mein Gott, wenn Cassie nicht gewesen wäre...”
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„Die junge Frau vom Empfang?”
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„Ja, aber das ist eigentlich nicht ihr Hauptgebiet, das hat sich eher zufällig ergeben. Eigentlich hat sie einen Harvard-Abschluss in BWL.”
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„Hm, nicht schlecht. Kennen wir sie?”
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Innerlich musste Ray schmunzeln über die selbstverständliche Annahme seines Bruders, Harvard bedeute automatisch 'Bostoner' Upperclass. „Nicht, wenn du nicht in den letzten Jahren im Zirkus warst”, rutschte ihm heraus und er hätte sich ohrfeigen mögen.
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