Dieser Kuss war nicht mit dem von gestern zu vergleichen. War es gestern noch ein zärtliches, versuchendes Tasten gewesen, war es heute eine stürmische Flut voller Leidenschaft, gepaart mit einem Hauch der Verzweiflung.
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Verzweiflung darüber, dass sie alle guten Vorsätze so schnell in den Wind geschossen hatte. Dass die Gefühle aber trotzdem keine Zukunft haben würden.
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Verzweiflung darüber, dass er seine Familie im Nacken hatte und sich hin- und her gerissen fühlte. Dass die Situation so vertrackt war.
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Und doch fühlte es sich so gut an! Lebendig, heiß, sexy und - richtig...
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Cassie war froh, an der Wand zu lehnen, denn ihre Knie wurden regelrecht weich bei diesem heißen Kuss. Sie fühlte Rays Körper dicht an ihrem, die angespannten Muskeln an seinen Armen, mit denen er ihre Taille fest umfasste. Mit den Händen fuhr sie in seine Haare, genoss es, sie voller Leidenschaft zu zerwühlen.
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Keiner von ihnen konnte sagen, wie viel Zeit vergangen war, als sie diesen Kuss endlich doch beendeten, um Atem zu schöpfen.
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Mit beiden Händen umfasste Ray dann ihr Gesicht und sah sie ernst an. Seine grauen Augen waren dunkel und noch einmal fanden sich ihre beider Lippen zum Kuss. Cassie hätte weinen können wegen dem, was sie in seinen Augen sah. Aber dennoch....
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„Cassie, wie kannst du nur einen Moment lang denken, ich hätte etwas mit dieser Frau!?”
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„Ray, so wie sie tut...”
Sie brach ab, dachte einen Augenblick nach. Was ihr schwer fiel, denn er war ihr immer noch gefährlich nahe. Um so wichtiger, die Dinge klar zu stellen. Vorsichtig schob sie Ray ein Stück von sich fort.
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„Ich weiß, du bist ein wenig anders als sie. Als deine Familie. Aber du gehörst letztendlich zu ihnen! Wer sagt mit denn, dass du ihr nicht schon lange versprochen bist? Und dir vorher noch eine Zeitlang die Hörner abstoßen darfst?!”
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Ein gekränkter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und sie fuhr hastig fort: „Bitte, ich kann das verstehen. Es muss ja nicht jeder von unserer kleinen Liebelei wissen!”
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„Liebelei?”
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„Was ist es denn sonst?”
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Rays Miene verhärtete sich. „Gut zu wissen. Und da wirfst du ausgerechnet MIR vor, ein Produkt meiner Familie zu sein!?”
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Sie schnappte nach Luft. „Ray!”
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„Cassie, ich-”
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Die Tür neben ihnen knarrte plötzlich und schlug wie in einem Windzug gegen den Rahmen. Die Atmosphäre brach auf und beiden wurde bewusst, wo sie waren und dass draußen noch Gäste auf sie warteten.
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„Also gut, darüber reden wir später, okay?”, knurrte Ray, doch Cassie war schon fast aus dem Raum geflohen und antwortete nicht mehr.
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Ray schnappte sich eine Weinflasche und schwenkte sie wie eine Trophäe, als er zum Tisch zurück kehrte.
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Kendra beäugte ihn misstrauisch und er fuhr sich durch die Haare, wie Cassie noch vor ein paar Minuten. Da musste er einen harten Seufzer unterdrücken und versuchte, wieder auf fröhlich um zu schalten.
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Die Pendergasts waren tatsächlich schon so alte Freunde der Familie, dass sie für ihn wie Onkel und Tante waren. Mit Kendra war er wie mit einer zweiten Schwester aufgewachsen, hatte sie auf ihre ersten Bälle begleitet und hatte so ihre Entwicklung vom Zahnspange tragenden Teenie in einen mondänen Vamp mit erlebt.
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Und irgendwo auf dieser Strecke hatten sie als Teenager tatsächlich einmal geknutscht, mehr ein Ausprobieren als wirkliche Zuneigung von seiner Seite. Seit einiger Zeit aber zeigte Kendra ein deutliches Interesse daran, diese Beziehung, die gar keine gewesen war, wieder aufleben zu lassen.
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Genauer, sie benahm sich teilweise so, als wären Ray und sie tatsächlich ein Paar, wahrscheinlich von beiden Elternpaaren darin bestärkt. Das wäre für jene natürlich das höchste aller Ziele, endlich die komplette, weil dann auch geschäftliche Fusion...
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Kendras Gurren riss ihn aus seinen Gedanken. „Schatz, du bist heute so abwesend! Oder fast schon abweisend...” Dabei fuhr sie mit der Hand abwärts über seine Brust und vor dort aus beinahe über seinen Schritt. Eine fast schon vulgäre Anmache, die er verabscheute.
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Rasch fing er ihre Hand ab und da ihre Eltern sie gespannt beobachtete, gab er ihr einen flüchtigen kleinen Handkuss, zischte dabei jedoch leise „Kendra, ich hab dir schon so oft gesagt, dass du das lassen sollst! Wir sind kein Paar und werden es auch nie sein!!”
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Da stahl sich plötzlich ein triumphierendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Oh Rayray, sei dir da mal nicht so sicher. Was die Pendergasts wollen, haben sie bis jetzt noch immer bekommen!”
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„Ja, wie zum Beispiel eine neue Nase, was?”, gab er zurück, doch sie schien die Spitze nicht zu merken, drehte statt dessen das Gesicht hin und her.
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„Oh, du hast es bemerkt, schön, nicht wahr?”
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Trüb schüttelte Ray den Kopf. „Nein, ich mag es lieber natürlich.”
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Ihr Kopf ruckte näher und sie fauchte leise „Ach, so wie bei der kleinen Schlampe vom Empfang, was? Rasiert die sich überhaupt die Beine?!!?”
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„Kendra! Du vergisst dich.”
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Er lehnte sich von ihr fort, hörte aber noch ihr gezischtes „Das werden wir ja sehen, wer hier was vergisst!”
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Innerlich kopfschüttelnd teilte Ray den Wein aus und verfiel in einen kleinen Smalltalk, erkundigte sich ausführlicher nach gemeinsamen Bekannten. Seine Geschwister taten ihm den Gefallen, nicht wieder an seine Rückkehr zu appellieren, so dass er sich für einen Moment entspannen konnte.
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