"Durch Gitterstäbe sieht der Himmel irgendwie blauer aus, größer. So viel weiter und ferner und schöner.", sinnierte der Verbrecher in seiner Zelle, während er an seinem gestreiften Hosensaum zupfte. Es war der sechzehnte lose Faden an einem Tag, den er herauszog, während er auf seiner Pritsche saß und aus dem Fenster starrte. Er hätte seine Gedanken aufgeschrieben, aber man gab ihm kein Papier, sooft er auch danach fragte. Also sprach er und seine Zellnachbarn hörten andächtig zu, denn sonst sprach keiner mehr. Schon lange nicht mehr. Sie hatten oft nach einer Stimme gefragt, aber niemand hatte ihnen eine geben wollen und irgendwie waren sie dann vergessen worden. Aus den Augen aus dem Sinn. Wer interessierte sich schon für die Bösen hinter Gittern, die Verurteilten, die Schuldigen? Es war, als wären sie nur Schatten und keine Menschen mehr. Nur noch durchsichtige Spiegelungen auf trüben Seelenteichen.
Stumme Schemen. Nur dieser eine, der sprach, auch wenn seine Stimme ganz abgenutzt und an den Ecken angestoßen war und vermutlich auch bald kaputt gehen würde.
"Hundert Scherben Himmel und dazwischen das Metall. Hundert Scherben Vergangenheit."
Die Schuldigen und Verurteilten scharrten unruhig, denn von Vergangenheit dachte im Gefängnis niemand mehr.
"Und die Wolken. Die durch die Gitter gleiten, ganz leicht. Die niemand hält. Wie Träume."
Von Träumen dachte auch niemand mehr. Nachts kamen manchmal ein paar in die Zellen und streiften herum, berührten die stimmlosen Vergessenen. Aber die Träume wollten erzählt werden, sie wollten erinnert werden. Sie wollten nicht einstauben zwischen muffigen Mauern und Türen, die von außen verriegelt waren.
Der siebzehnte Faden rutschte aus dem zerschlissenen Stoff. Er legte ihn sorgfältig neben die anderen.
"Und dieses Blau. Wie es sich verändert. In der
" Bei Dämmerung leuchtet es so tief und tags schimmert es wie Seide. Und bei Gewitter ist es manchmal eher violett. Wie Ligeias Augen."
Jemand stöhnte. Namen dachte man schon gar nicht. Vergessene hatten keine Namen. Höchstens eine Nummer. Oder eine Eigenart, die man zu einer Art Namen gemacht hatte. "Der mit den Worten" oder "Der mit der Zahnlücke". Doch dann hauchte eine eingerostet Stimme "Li...gei...a" und der Bann brach. Der Name fuhr wie ein Wind durch den Zelltrakt 109b und "Der mit den Worten" lächelte fast. Aber nur fast. Er nickte und sagte: "Ligeia."
Darauf fuhr er fort zu sinnieren: "Wie nur ein Name, ihr Name, den Wind rufen kann. Wie ein Name so viel Kraft hat. Hätten wir Namen, hätten wir Kraft."
Und die Stimme, die den Wind begonnen hatte, antwortete durch die Gitter: "Vergessen."
Der Philosoph sank zurück. Er war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er sich vor Spannung vorgebeugt hatte. Vergessen. Er hatte es mit den Fäden aus seiner dünnen gestreiften Hose geformt, das Wort lag ordentlich auf seiner Pritsche, wie ein firsch gebügeltes Kleidungsstück, das bereit ist, wieder übergestreift zu werden für den nächsten Tag.
Ja, das war ihr Name. Denn wer interessierte sich schon für die Bösen hinter Gittern, die Schuldigen, die Verurteilten?
Er wischte das Fadenwort auf den Betonboden und begann von neuem, am ausgefransten Hosensaum zu zupfen. Ein Faden glitt heraus wie ein Fisch aus einem Abflussrohr.
"Durch die Gitterstäbe", dachte er laut, "sieht der Himmel irgendwie blauer aus, größer. So viel weiter und ferner und schöner."