Darf ich dir eine Frage stellen?
Überrascht schaute sie der Fragestellerin in die Augen. Seit wann fragst du, ob du mir eine Frage stellen darfst? Schmunzelnd antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Joyce lächelte. Ein Hauch Verlegenheit war erkennbar, sie wartete einen kurzen Augenblick bevor sie weitersprach.
Ich kenne Dich schon seit deiner Geburt. Deine persönliche Entwicklung, dein Werdegang, deine Hochs und Tiefs, deine angestrebten Ziele, deine Enttäuschungen sind mir bekannt. Das Mädchen, das Du einmal warst, die Jugendliche, die verschiedenen Phasen des Erwachsenwerdens. Ich weiß, dass du außergewöhnliche Lebensphasen durchlebt hast. Du warst sehr krank, du bist wieder gesund geworden. Danach hast du dich ausbilden lassen in verschiedenen Heilpraktiken, vor allem spiritueller Natur. Du hast Menschen geholfen gesund zu werden. Wurdest sogar von manchen als eine Art Wunderheilerin gesehen. Damals hatte ich den Eindruck, dass du glücklich bist, mit dem was du tust. Doch dann hast du dich gewandelt, du schienst enttäuscht zu sein. Nach und nach stelltest du dieses Tun ein. Heute machst du nur noch deinen Bürojob und interessierst dich nicht mehr für diese Dinge. Ich frage mich, warum das so ist. Ich verstehe es nicht. Aus meiner Perspektive siehst du nicht sehr glücklich aus. Bist du frustriert? Enttäuscht? Hast du alles aufgegeben was dir mal wichtig war? Sorry, es sind gleich mehrere Fragen geworden.
Lory schaute Joyce tief in die Augen und es vergingen Sekunden bevor sie antwortete.
Weißt du Joyce, diese Veränderungen, die du sehr gut beobachtet hast, gingen mit grundlegenden Erkenntnissen einher. Ich will versuchen in Worte zu fassen, was ich erkannt habe. Falls diese Worte, die ich dir sagen werde, dich zu sehr verwirren, oder belasten, so lasse es mich bitte wissen. Dann ist es besser wir reden zu einem späteren Zeitpunkt. Doch da du mir diese Fragen gestellt hast, möchtest du Antworten haben.
Jede einen Menschen verändernde Erkenntnis geht mit einer Enttäuschung einher. Insofern lautet die Antwort auf deine Frage, ob ich enttäuscht bin, ja!
Ich bin völlig und total enttäuscht. Ich bin so sehr enttäuscht, dass ich glaube keinerlei Enttäuschungen mehr zu erleben. Doch warten wir es ab. Es könnte ja sein, dass ich mich täusche.
Lory lachte aus vollem Herzen. Ja, Joyce, ich bin enttäuscht. Deine nächste Frage, ob ich frustriert bin kann ich mit einem Nein beantworten. Durch die zwangsläufig mit umfassender Enttäuschung einhergehende Frustration bin ich hindurch gewandert. Diese Phase meines Lebens war in keiner Weise angenehm, doch sie liegt in der Vergangenheit.
Auf deine Frage, ob ich alles aufgegeben habe, was mir einmal wichtig war, muss ich dir etwas ausführlicher antworten.
Es gibt nur eines was wichtig ist. Wichtig ist, dass ich bin. Dass ich am Leben bin. Alles was ich während dieser meiner Lebenszeit erfahre und erfahren habe ist Leben, das ich erfahre und erfahren habe. Wenn ich von mir spreche, so meine ich auch jeden anderen.
Alles andere was ein Mensch als wichtig annehmen kann, Auto, Beruf, Geld, Familie ist nur wichtig, weil er glaubt, dass es wichtig wäre. So glaubte ich, dass kranke Menschen geheilt werden müssten. Ich lehnte jede Art von Krankheit ab und lehnte somit das Leben, das sich auch durch Krankheit zum Ausdruck bringt ab. Mit meiner Heilertätigkeit arbeitete ich nach meinem heutigen Verständnis gegen das Leben, das ich ja bin. Erkannt habe ich auch mit der Zeit, dass ich nur eine Art Schauspiel aufführte, damit die Menschen, die zu mir kamen glauben konnten, dass sie geheilt werden oder wurden. Manche wurden gesund, andere nicht. Es ist weder meiner Person anzurechnen, dass welche gesund wurden, noch, dass welche nicht geheilt wurden. Es geschah einfach. Nur ein Mensch kann so dumm sein und glauben, dass er dieses bewirken kann. Alles was wirkt ist das Leben, das ich bin, das alles ist. Da Leben ist eins, der Mensch macht mit seiner Fähigkeit zu denken aus dem Einen eine Unzahl an Geschichten. Aus dem einfachen ich bin wird dann ….ich bin krank....ich bin gesund...ich bin reich...ich bin arm....ich bin glücklich...ich bin traurig usw. Nur eines davon ist wahr...ich bin. Alles weitere, das hinzugefügt wird ist eine menschengemachte Geschichte. Ein Märchen. Eine Illusion.
Joyce kaute auf ihrer Unterlippe. Lory bemerkte es und schwieg.
Habe ich dich enttäuscht fragte sie nach einer Zeit der Stille.
Joyce antwortete, ja, so fühlt es sich an. Macht Enttäuschung traurig?
Oh ja, antwortete Lory sanft.
Dann bin ich nun sehr enttäuscht. So enttäuscht, dass ich erst mal traurig sein möchte.
Joyce erhob sich vom Sessel ging langsam zur Couch auf der Lory lag, legte ihren Kopf auf ihren Bauch und weinte. Lory strich ihr sanft über das Haar und weinte ebenfalls.