Kurzgeschichte
Herbst - Alles was bleibt, ist die Erinnerung

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"Herbst - Alles was bleibt, ist die Erinnerung"
Veröffentlicht am 29. Mai 2012, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Herbst - Alles was bleibt, ist die Erinnerung

Herbst - Alles was bleibt, ist die Erinnerung

Schon beim ersten Schritt vor die Haustüre wird sie von einem Windhauch gestreift; ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter, doch sie schließt die Türe hinter sich und verlässt das Grundstück. Als sie die Straße entlanggeht, schnellen Schrittes und mit entschlossenem Blick, fällt ihr auf, dass es jetzt deutlich dunkler ist als noch vor einer Stunde, als sie genau diese Strecke gegangen ist, allerdings in die andere Richtung.

Vorhin hat es sich falsch angefühlt, als ließe sie eine Verpflichtung einfach links liegen, doch auch jetzt, wo sie davon überzeugt ist, das Richtige zu tun, fällt ihr der Weg nicht leicht.

In ihrem grauen Mantel aus der Herbstkollektion eines bekannten Modehauses hebt sie sich kaum von ihrer Umgebung ab; der Nebel wabert durchs Tal und die kühle Feuchtigkeit kriecht langsam unter ihre Kleidung und lässt sie frieren – der Mantel genügt nicht, um ihr an diesem Tag Wärme zu geben. Genauso wenig können ihr die Menschen, die jetzt in ihrem Wohnzimmer sitzen und eine, zumindest von außen betrachtet, recht heitere Kaffeegesellschaft abgeben, Wärme geben.

Irgendwann müsse es einfach einmal genug sein, das Leben gehe doch weiter; all diese Plattitüden hat sie satt und deswegen ist sie lieber hier draußen in der Kälte als im warmen Haus. Sie verlangsamt ihren Schritt und sieht sich um. Rechts, nur durch einen niedrigen Holzzaun von ihr getrennt, liegt inmitten eines großen Gartens eine alte Villa.

Sie kennt die Menschen, die dort leben, nicht. Es muss auch ein Kind darunter sein, denn mitten auf der zu dieser Zeit des Jahres graubraunen Wiese liegt ein Drachen, nass und schlapp, seine Farben sind verblasst. Er ist dort wohl vergessen worden; die schönen Tage, an denen man in einer lauen Brise Drachen steigen lassen konnte und die Bezeichnung „goldener Herbst“ treffend war, sind vorbei.

Auch das wenige Laub unter ihren Füßen, das zurückgeblieben und keiner Reinigungsaktion zum Opfer gefallen ist, raschelt nicht mehr und hat an Farbe eingebüßt. Schade, denn durchs knisternde und knackende Laub zu gehen bereitet ihr immer eine fast kindliche Freude.

Auch wenn sie – wie sie jetzt bemerkt wohl deswegen, weil ihr Ziel immer näher gekommen ist – nicht mehr so schnell geht, sieht sie den Ort, an den ihr Spaziergang sie führen soll, schon vor sich liegen. Obwohl in diesem Moment kein Wind zu bemerken ist, läuft ihr wieder ein unangenehmer Schauer den Rücken hinunter und die Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf. Als sei die drückende Allerseelenstimmung noch nicht vollkommen genug, beginnt es jetzt auch noch leicht zu regnen. Über das Schicksal und seinen einzigartig makabren Sinn für Humor, den es so wieder einmal unter Beweis stellt, muss sie kurz schmunzeln, doch dann verfinstert sich ihr Gesichtsausdruck gleich wieder.

Damit wird auch ihr Schritt wieder schneller, entschlossener – wenn sie sich jetzt nicht zusammenreißt, wird sie es irgendwann bereuen. Ihr Schmerz ist ein tieferer als der der anderen Menschen, davon ist sie überzeugt, und deswegen hat auch einzig sie die Berechtigung dazu, jetzt hier zu sein und ihre Trauer auszuleben, während diejenigen, die sich Familie schimpfen, schon wieder zum Alltäglichen übergegangen sind. Soll heißen, Nachbarn ausrichten und über die Treibstoffpreise klagen; zumindest waren das beim letzten Mal, als sie zugehört hat, die Themen. Sie hat mittlerweile aber aufgehört, den Inhalt dieser doch so leeren Worte verstehen zu wollen, wozu auch?

Sie muss nun an sein Grab treten, alleine und völlig bei sich, damit sie ihren Schmerz spürt. Nicht so wie vorhin, als sie nach dem Gottesdienst noch kurz in Begleitung aller Familienmitglieder, die nach seinem Tod nur wenig Interesse daran gehabt haben, wie es ihr geht, neben dem Grabstein gestanden ist und den Segen vom Pfarrer entgegengenommen hat. Ihre Füße finden den Weg von selbst, sie muss gar nicht darüber nachdenken, schließlich ist sie oft genug hier gewesen. Warum es an diesem Tag so anders, so viel wichtiger ist, kann sie zwar erklären, aber nicht verstehen. Die anderen Menschen müssen sich beweisen, dass sie  mindestens so ehrenwert sind wie alle hier im Ort; an diesem Tag wird der Verstorbenen gedacht, alle tun das. Doch ihr geht es darum, sich von diesem „alle“ abzuheben; sie weiß an jedem anderen Tag, dass ihre Gefühle echt sind, wenn sie am Friedhof steht und immer wieder seinen Namen liest, manchmal macht sie das stumm und manchmal sagt sie ihn sich laut vor. Heute ist das anders gewesen, und das beunruhigt sie zutiefst.

Kann es sein, dass der Schmerz langsam abebbt und sie wirklich (wieder) zu einer von ihnen wird; kann es sein, dass sie sich irgendwann wieder für das Leben ihrer Nachbarn und dafür, wie viel ein Liter Diesel kostet, interessieren wird? Wird sie vielleicht schon im nächsten Jahr wieder ihr Dirndl anziehen und sich auf den Bauernherbst-Festen amüsieren, wird ihr Mantel dann nicht mehr grau sein (müssen)?

Wie eine Statue steht sie nun da, holt noch einmal tief Luft und senkt ihren Blick auf die Höhe des Schriftzuges. „Michael“, sagt, liest sie nur, dann schließt sie die Augen und spürt, wie ihr schon die erste Träne über die Wange hinunterrollt. Als sie in ihrem Kopf seine Stimme, oder das, woran sie sich erinnert, hört, kann sie die Augen wieder öffnen und alles Störende verschwindet aus ihren Gedanken. Zurück bleibt nur er. Hier, jetzt, immer – irgendwie.

Es ist ihr erster Herbst ohne ihn.

© Sarah F., 2012



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Eine sehr gefühlvolle Erzählung, nah, echt und mitreissend.
Sehr gern gelesen.
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