In "Icerose" geht es hauptsächlich um die zwei Geschwister Milena, genannt Miley und Jason Lange. Nach dem tragischen Verkehrsunfall ihrer Mutter ziehen beide zusammen mit ihrem Vater von Berlin nach Rügen, in ein schnuckeliges Haus direkt am Strand. Die beiden Kinder sind anfangs nicht gerade vom Umzug begeistert, hängen beide doch noch zu sehr an dem Verlust der Mutter. Wird es ihnen gelingen sich Auf Rügen einzuleben oder zerbricht die Familie an ihrer Trauer.............
Wisst ihr was Leute? Ich hasse Autofahrten und vor allem, wenn sie so langweilig und unnötig sind wie diese hier. Ich will nicht weg aus Berlin. Hier habe ich alle meine Freunde, hier bin ich aufgewachsen, hier schlägt mein Herz. Zumindest hat es das mal getan, jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt noch lebe, nach allem, was passiert ist.
Okay, ihr versteht sicher nur Bahnhof. Deswegen werde ich jetzt mal etwas in der Zeit zurückspringen.......
Alles begann an diesem einen Abend, naja eigentlich schon eher, aber an diesem einen Abend verkündete mir mein Dad, dass wir umziehen würden.
Wir saßen alle zusammen am Tisch und nahem gerade unser Abendessen ein. Mein Vater saß vor dem End, mein älterer Bruder Jason links von ihm und ich zu seiner Rechten. Ein Stuhl war leer und das nun schon seit vier Wochen, vier Wochen, in denen ich jeden Tag ihre Stimme hörte, ihren Duft roch und jedes Mal dachte, sie müsse doch in irgendeinem Zimmer aufzufinden sein. So oft hatte ich das Haus nach ihr abgesucht, gehofft ich könne sie finden, doch vergebens, sie war nirgends, sie war fort, für immer.
Mein Vater räusperte sich und ich schreckte unwillkürlich zusammen.
„Ich... ich muss euch etwas wichtiges mitteilen Kinder.“, seine Stimme zitterte und er sprach unangenehm förmlich. Es schien ihn etwas sehr zu belasten, doch was war es? Jason und ich warteten gespannt darauf, dass er weitersprach, niemand traute sich etwas zu sagen, eine unbehagliche Stille lag im Raum.
Plötzlich durchfuhr die Stimme meines Dads die Stille: „Wir ihr ja wisst, sind es nun vier Wochen, seit... uns eure Mum verlassen hat. Vier harte Wochen liegen hinter uns, vier Wochen, in denen keiner von uns schlafen konnte. Wir alle sind am Ende und ich weiß, dass es schwer ist und sich die Situation nicht von einem auf den anderen Tag ändern wird, aber ich denke, dass es wichtig ist, dass wir jetzt weiter nach vorne sehen. Eure Mutter hätte nicht gewollt, dass wir uns verkriechen.“ In diesem Moment sah ich ihr Gesicht wieder vor mir. Sie lächelte mich an. Tränen stiegen in mir hoch ich spürte diesen Kloß im Hals, diesen Schmerz, dieses Gefühl, dass ich ersticken werde.
Mein Vater fuhr fort: „Wir werden nach Rügen ziehen, eure Mutter und ich haben vor vielen Jahren dort ein Haus gekauft. Dort werden wir wohnen. Der „Tapetenwechsel“ wird euch gut tun, ebenso das Klima, wir brauchen einen Neuanfang!“ Er tätschelte uns aufmunternd die Hand und versuchte zu lächeln. Wutentbrannt riss ich meine Hand los. „Spinnst du? Wie kannst du so etwas sagen? Mum ist gerade einmal vier Wochen tot und du willst einen Neuanfang, hast du Mum etwa schon vergessen? Du bist so herzlos!“ Ich war bis in die Haarspitzen geladen und sprang so heftig auf, dass mein Stuhl umstürzte. „Sie hat Recht!“, flichtete mir jetzt auch mein Bruder bei. „Wir können nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen und einfach wegziehen, das löscht auch nicht die Tatsache, dass Mum gestorben ist. Meinst du auf Rügen können wir einfach ganz normal weiter machen? Wenn du das denkst, dann bist du nicht länger mein Vater!“ Jason war genauso wutentbrannt, wie ich. „Jetzt beruhigt euch doch, so war das gar nicht gemeint. Es ist nur so, dass wir nicht so weiter machen können, wie bisher, so funktioniert unsere Familie nicht. So schwer es euch auch fällt, wir werden einen Neuanfang brauchen, um über ihren Tod hinweg zu kommen, da ist Rügen genau das Richtige.“ „Und was ist mit unseren Freunden hier, was mit der Schule. Dad, unser Leben ist hier. In zwei Jahren mache ich Abitur, wir können nicht einfach so mir nichts dir nichts von heute auf morgen verschwinden, das geht so nicht. Berlin ist unsere Heimat, hier hast du deine Arbeit“, Jason schien die Idee unseres Vaters genauso zu hassen, wie ich. Dieses mal untermauerte ich seine Argumente: „Mum ist hier begraben, hier habe ich die Erinnerungen an sie, ist dir das alles egal?“. „Nein natürlich nicht, aber die Erinnerungen verlierst du ja auch gar nicht. Sie bleiben für immer in deinem Herzen, mein Schatz. Es ist nur so, dass sie hier zu nah sind. Glaubst du nicht, dass ich jeden Abend höre, wie du dich in den Schlaf weinst. Mir geht es doch nicht anders. Ich sehe sie hier auch fast jeden Moment vor mir. Aber es geht so nicht weiter, wir können nicht weiter nur in der Vergangenheit leben, wir müssen in die Zukunft sehen. Deshalb ziehen wir in drei Wochen um. Ich werde das mit der Schule regeln und wir können Mum dort ein zweites Grab anlegen, wenn du willst Miley.“
Genug war genug: „Deine Pseudoweisheiten, die du aus irgendwelchen Ratgebern wie „Trauerverarbeitung bei Jugendlichen“ oder wie auch immer hast, kannst du dir sonstwo hinstecken!“, damit stürmte ich in mein Zimmer und der Abend war gelaufen.
Doch all das Querstellen, gepaart mit der Unterstützung meines Bruders, ich muss schon sagen, wir waren uns noch nie so einig, halfen nichts. Drei Wochen später setzte Dad seinen Plan in die Tat um. Er packte unseren gesamten Haushalt in einen LKW und verfrachtete ihn nach Rügen und zerrte uns gegen unseren Willen ins Auto.
Tja... und genau da sitze ich jetzt auch, hinten auf der Rückbank unseres alten Golfs. Ich fasse es nicht, dass mein Vater das wirklich mit uns macht.
Habe ich schon erwähnt wie sehr ich Autofahrten hasse? Das liegt auch nicht daran, dass Mum in einem ums Leben gekommen ist, ich hasste es schon immer. Alleine schon diese abgestandene Luft sorgt dafür, dass mir übel wird. Ich frage mich allen ernstes, wie Leute sich hier wohl fühlen oder sogar schlafen können.
Jason gehört offenbar auch zu diesen Leuten. Wir sind noch keine halbe Stunde unterwegs und er pennt schon neben mir. Toll, manchmal frage ich mich echt, ob wir wirklich verwandt sind. Dann bleibt mir ja nur übrig stumm aus dem Fenster zu sehen und meinen Vater mit Nichtbeachten zu strafen. Ha, es regnet, passt ja perfekt zu meiner Stimmung. Zeus scheint auch kein Freund von Rügen zu sein, kann ich verstehen.
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Irgendwann gelangen wir auf die Rügenbrücke, die zusammen mit dem Rügendamm die einzige Verbindung zum Festland ist, was schon allein die Tatsache unterstreicht, dass Gügen wie ein Gefängnis ist. Bist du einmal auf dieser Insel gefangen, kommt du nur schwer wieder weg. Ich vermisse Berlin jetzt schon. Wo sind hier all die schäbigen Hochhäuser, die ich in Berlin zwar nie richtig mochte, aber dennoch gehörten sie einfach zum Stadtbild. Sogar der miefige Benzinduft wäre mir jetzt lieber als diese Einöde. Was soll man hier denn den ganzen Tag über anstellen. Hier gibt es nur grün. Grüne Büsche, grüne Gräser, grüne Bäume, grüne Bushaltestellen, grüne Mülleimer, fehlt nur noch, dass die Häuser und Straßen auch noch Grün sind. Hier ist doch echt der Hund begraben. Ich habe noch nicht einen Menschen gesehen, überall stehen nur Kühe oder Pferde herum und glotzen doof zu mir ins Auto. Die Leute dir hier leben verkaufen bestimmt alle ihre Biomarmelade und ihren Biohonig auf ihren Bauernhöfen. Wo bin ich hier nur gelandet? Hoffentlich ist unser Haus nicht so eine Bruchbude, wie die meisten anderen die hier stehen.
„So, da wären wir! Alles aussteigen!“, rief mein Vater plötzlich, nachdem er über drei Stunden geschwiegen hatte und tat dabei auch noch extra freundlich. Das Haus war... „Wow, wir wohnen direkt am Strand?“. Jetzt hatte er meinen dummen Bruder auch schon um den Finger gewickelt. Jungs lassen sich echt schnell beeindrucken. Aber er hatte Recht, es war direkt am Strand. Zugegeben, es hätte schlimmer kommen können, das Häuschen sah wirklich ganz schnuckelig aus. Eindeutig ein Zeichen für den wunderbaren Geschmack den meine Mutter hatte. Ich ließ mir jedoch meinem Vater gegenüber keine Begeisterung anmerken und grummelte nur: „Seit wann stehst du so auf öko?“ „Ach Miley, du wirst dich hier auch noch zurechtfinden und jetzt wird erstmal ausgepackt, der LKW mit unseren restlichen Sachen müsste auch bald ankommen. Los rein mit euch, sucht euch schon mal ein hübsches Zimmer aus!“ Ich fasse einfach nicht, wie schlecht Dad schauspielern kann. Dieses aufgesetzte Lächeln wirkt so unecht wie Michael Jacksons Nase.
Im Haus war es zwar leer, aber dennoch lag eine eigenartige Atmosphäre in der Luft. Zum ersten Mal seit vier Wochen spürte ich wieder eine angenehme Wärme und ein Wohlgefühl erfüllte mich.
Vielleicht lag mein Vater ja doch richtig damit, dass wir einen Neuanfang gebrauchen konnten.
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Nachdem wir den ganzen Abend damit verbracht hatten das Haus mit unseren Möbeln einzurichten, fiel ich um 3 Uhr endlich todmüde ins Bett und schlief sofort ein. Seit einem Monat hatte ich schon nicht mehr so gut geschlafen. Ich wachte erst um halb 12 am nächsten Morgen auf und fühlte mich wie neugeboren. Mit zerzausten Haaren und in meinem gemütlichen Hasenschlafanzug stieg ich die Treppe zum Wohnzimmer, ich hatte mir mein zimmer in der ersten Etage direkt über dem Wohnzimmer mit Blick auf das Meer eingerichtet, hinab und ging in die Küche. Dort warteten mein Bruder und mein Vater bereits auf mich. Ein Duft von frischen Croissants lag in der Luft und ich setzte mich an den reich gedeckten Tisch. „Hast du gut geschlafen mein Kind?“, fragte mein Dad. Ich nickte nur und griff nach einem der Croissants. „Du siehst auch schon gleich viel besser aus.“ „Ich habe auch wie ein Stein geschlafen, das wurde auch mal wieder Zeit nach der ganzen Zeit.“, meldete sich nun auch Jason zu Wort und Streckte sich genüsslich. „Wie wäre es, wenn ihr Kinder gleich nach dem Frühstück ein wenig die Gegend erkundet, hm?“, schlug mein Vater zwischen zwei Brötchenhälften vor. „Keine schlechte Idee, kommst du mit Miley?“ „Ja, warum nicht.“, antwortete ich meinem Bruder.
Nach dem Essen machten wir uns dann auch gleich auf den Weg in die Stadt, wenn man das hier überhaupt Stadt nennen kann. Das einzige Zentrum besteht hier aus ein paar Straßen mit Geschäften und einer Wirklich wunderschönen Seebrücke, auf der man quasi direkt über das Meer gehen kann.
Da stehe ich nun zusammen mit Jason alleine auf dieser Brücke direkt über dem Wasser. Ein kühler Wind streift meine Haare und ich atme tief ein, so tief, dass ich das Salz auf den Lippen förmlich spüren kann. Ich fühle mich mit einem Mal so lebendig, so vollkommen wie in einer anderen Welt und ganz mit mir im Reinen. „Ist es nicht wunderschön hier?“, fragt mich plötzlich Jason und ich kann nur stumm Nicken, so überwältigt bin ich von der Schönheit um mich herum. Vielleicht hat mein Vater doch Recht, vielleicht ist Rügen doch gar nicht so furchtbar, wie ich dachte.
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