Der Brief
Meine Hand eilt über das Papier. Schnell schreibe ich die Worte aus meinem Kopf, bevor ich sie vergesse. Die Feder meines Füllers quietscht dabei hin und wieder leise auf dem Papier auf. Leise kreischt sie schief bei dem Wort, das ich schreibe. Ansonsten ist es still. Nur das Kratzen der Feder ist im Raum zu hören.
Gedanken rasen durch meinen Kopf. Worte, die ich sagen will. Alles, was mir wichtig erscheint.
Ich sitze an meinem alten Schreibtisch und schreibe. Mit der Hand. Mit einem Füller auf Papier.
Warum? Weil der Empfänger es so am Liebsten hat.
Erinnerst du dich, waren die ersten Worte auf meinem Blatt vor mir. Ich schreibe schnell weiter.
Erinnerst du dich an meinen letzten Brief?
Was hatte ich dir geschrieben? Genau. Man kann nicht jeden Kampf gewinnen, nur Mut, es wird alles gut. Niemand hat immer nur gewonnen. So ist das Leben, wir alle kämpfen, jeden Tag. Dies waren sogar deine eigenen Worte, genau wie ''trage den Kopf am Höchsten'' und ''sei stolz und ohne Reue''.
Deine Antwort auf meinen Brief war schlicht,
aber sie gab mir Mut.
Erinnerst du dich, wie du mir beigebracht hast stark zu sein, niemals aufzugeben und einfach immer wieder von vorne anfangen, wenn es nicht glückte?
Was habe ich viel von dir gelernt. Habe ich dir jemals dafür gedankt? Ich weiß es nicht mehr. Vereinzelt sicher, aber habe ich dir einmal im Gesamten gesagt, wie dankbar ich für alles bin? Weißt du noch, wie ihr beide mir beigebracht habt zu singen? So schief es auch war, ihr habt zugehört und mich ermutigt. Zu tanzen, so oft ich auch auf seine Füße trat. Zu schreiben, obwohl die Worte keinen Sinn ergaben. Und immer genau das
tun, was mir eben gefällt. Das tue ich noch heute. Jeden Tag. Dank euch beiden.
Wie lange ist es her, seit deiner Antwort auf meinen letzten Brief. Sieben, vielleicht Acht Monate? Eine lange Zeit. Viel ist geschehen. Vieles zu erzählen.
Erinnerst du dich an unseren Urlaub in der Türkei? Eure alte Bruchbude, die wir als Wohnung hatten und du wirklich davon überzeugt warst, dass dies ein guter Platz zum Leben wäre. Eingebaut von so vielen Häusern ohne Sicht auf das Meer?
»Aber zumindest im Warmen und mit viel Sonne«, hattest du darauf erwidert und laut
gelacht.
Die Zeit, die wir dort verbrachten, war wirklich schön. Täglich mit dem Taxi zum Strand und wie wir dann dem Fahrer versucht haben ein wenig Deutsch beizubringen. Unser Türkisch aber selbst bis auf ''Milch'' und ''Wasser'' sehr beschränkt ausfiel. Jedes Wort hast du trotzdem im Wörterbuch nachgesehen. Zwar nicht gemerkt, aber probiert es auszusprechen und wieder gelacht. »Wichtig ist das«, hast du gesagt, »man muss sich heutzutage einfach überall anpassen.«
Jeden Tag waren wir am Strand. Haben uns von der Sonne bräunen lassen, im 30 Minuten Takt gleichzeitig gedreht wie zwei heiße Hähnchen auf dem Grill. Jeder ein Buch
in der Hand.
Du und deine Romane. Diese Geschichten von Afrika und Safari, ständig diese starken Frauen, die ihren Weg gingen und so viele Schicksalsschläge erdulden mussten. Das hat dich immer fasziniert. Interessiert hast du sowieso immer alles verfolgt was mit Afrika, Elefanten und Safari zu tun hatte.
Meine historischen Romane, die ich so gerne lese, die hast du komischerweise schneller verschlungen als deine Safarigeschichten.
Wie viele Stunden haben wir uns dann darüber unterhalten, Abends, wenn wir vom Strand zurück kamen und uns überlegten was wir uns zu essen machen sollten.
Dabei war die Wahl immer ganz einfach. Wir gingen einfach außerhalb Essen. Ganz
unkompliziert haben wir uns ein Taxi gerufen und die Restaurants der kleinen Stadt durchprobiert.
Und jeden Abend hast du gesagt, du hast keinen Hunger. Aber zumindest das Brot, den türkische Fladen mit dem Quark, der hat dir wohl geschmeckt.
Ich weiß noch, wie du einmal so müde warst, dass du kurz die Augen geschlossen hattest und auf einmal dein Kopf wieder ruckartig hoch fuhr. Du warst kurzzeitig eingeschlafen. Mitten im Restaurant am Tisch. Darauf hin sind wir dann schnell nach Hause in unsere Bruchbude.
Gut, das es dort auch die deutschen Fernsehsender gab. Vorher noch etwas draußen auf dem Balkon sitzen, den Tag
ausklingen lassen und dann gemeinsam einen Film schauen. Mit dir war gerade dies ein hoch amüsierendes Erlebnis. So, wie du dich mit dem Fernseher unterhalten hast.
»Nein, siehst du das nicht? Da steht einer an der Ecke!«, hast du gerufen und dich dann eine Weile darüber ausgelassen, wie dumm doch die Person in dem Film war. Ich musste dabei verhalten lachen.
Es war schön dich so zu sehen. Schön, wie du dich völlig Frei über solche Banalitäten aufregen konntest. Immer stark sein hat seinen Preis, dachte ich mir damals.
Weißt du, ich habe viel von dir gelernt. Ich habe viel über dich gelernt. Vieles was ich vorher nicht wusste oder aus anderer Sicht
gesehen habe.
Schön war es alle von dir selbst zu hören. Die Geschichte deines bisherigen Lebens. Deine Gedanken, Bedenken, Sorgen, die glücklichen Erlebnisse, genau wie die Unschönen, die es manchmal gab. Eben all deine Erinnerungen, was dir einfiel.
Ich konnte stundenlang zuhören. Wie fasziniert war und bin ich von deinem Leben. Du hast viel erlebt, viel gesehen.
Oder auch die anderen Gespräche die wir führten. Über alles und jeden. Über dich, mich, unsere Familie und Freunde. Das Leben und wie wir über die weitverbreitete Zahl über den Sinn des Lebens gelacht haben.
Deine Antwort war das Schönste was ich je
gehört habe. »Der einzige Sinn im Leben bestehe daraus zu Lieben und geliebt zu werden«, waren deine Worte.
Zu Anfang hatten wir jeden Tag Sonne und es war warm in der Türkei. Aber nach einer Woche wurde es frischer. Der Sommer war ja schon lange offiziell zu Ende. Es war Herbst und selbst hier wurde es langsam frisch, abends auf dem Balkon.
An zwei Tagen wolltest du einfach nicht aus der Wohnung. »Viel zu kalt«, sagtest du. Dabei waren es doch noch 22 Grad draußen, nur etwas bewölkt.
Aber gut, wir waren gemeinsam im Urlaub. Also, gegen dich Kartenspielen als Ablenkung. Natürlich Shanghai, dein
Lieblingsspiel und ich habe immer verloren. Ich hatte wirklich immer schlechte Karten oder habe sie falsch genutzt. Es machte mir nichts aus. Ich hab dich ja nie mit Absicht gewinnen lassen, aber dein Glück war wirklich manchmal zum Verzweifeln!
Aber auch das hast du mir schon als Kind beigebracht. Eben auch ein guter Verlierer zu sein, denn im Leben kann man nicht immer nur gewinnen.
Oh, die Nächte waren das einzig Unschöne. Leise bist du auf dem Gang zum Bad geschlichen, erst nach einer viertel Stunde wieder heraus gekommen und ebenso leise wieder zu Bett gegangen. Ja, ich habe es oft bemerkt. Da dachte ich mir erneut: Stark sein
hat seinen Preis.
Zurück in Deutschland, erinnerst du dich an unseren letzten gemeinsamen Tag bevor ich wieder nach Hause fuhr?
Du hast mich angelächelt und gesagt: »Weihnachten wird schön wenn wir uns wieder sehen.«
Voller Energie hast du mich umarmt und mich aus der Tür geschoben. »Bis in 7 Wochen!«, waren deine letzten Worte als ich nach Hause fuhr.
Weihnachten, möchte ich dir sagen, war nicht so schön gewesen. Auch mein Geburtstag davor nicht, denn du warst nicht da. Du kannst dies nicht wissen, deswegen schreibe
ich dir diesen Brief.
Ich war bei dir. Ein letztes Mal, doch du warst schon fort. Ich kam an, da warst du gerade gegangen. Wortlos, fast unbemerkt.
Das Fenster stand offen und ich strich dir durchs Haar. Du hast so friedlich ausgesehen.
Dein Kampf war vorbei. Du hast ihn nicht gewinnen können und du wusstest es. Du hast mir am Anfang gesagt, ich müsse stark sein. Du hast es mir beigebracht, seitdem ich laufen konnte. Mein ganzes Leben lang hast du mich unterstützt, warst immer bei mir und ich fragte mich, ob dieser Moment einer war für den du mich stark machen wolltest.
Ich möchte dir
sagen:
Ich war stark. Ich war glücklich für dich, dass es so schnell ging. Ich war dankbar, dass ich dich noch sehen durfte. Ich bin froh, dass ich diese Zeit mit dir noch erleben durfte.
Ich bin befreit.
Trauer, ja, aber mit dem Wissen, dass es dir nun gut geht. Der Verlust schmerzt, aber die Erinnerungen bleiben. Ich halte sie fest und trage sie mit Stolz und ohne Reue. Keinen Tag Reue.
Fragen sind in meinen Kopf. So viele auf die ich nie eine Antwort erhalten werde. Bist du bei ihm? Seit ihr Sterne oder Engel? Schaut ihr auf uns herab? Ich wünschte es, denn das würde bedeuten das Ody, dein kleiner
treuer Dackel, jetzt ebenfalls an deiner Seite ist. Wir haben ihn aufgenommen - Mama und ich - aber er folgte dir treu, nicht einmal 6 Wochen nachdem du gegangen warst. Auch sein Kampf war vorbei. Schon komisch. Er hat den selben wie du geführt. Genau wie du war er stark bis zum Schluss und ging fast unbemerkt.
Erinnerst du dich, kritzelt die Feder in meiner Hand ein letztes Mal über das Papier. Es sind die letzten Worte, die ich noch sauber in meiner Handschrift auf das Papier setzen kann. Die Tinte auf dem Blatt verläuft langsam. Tränen, die ich vorher nicht geweint hatte fielen darauf und vermengten sich mit den Worten aus blauer Schrift. Die folgenden
Zeilen spreche ich leise mit während meine Hand über den Brief fliegt.
Erinnerst du dich, wie du mich immer in den Arm genommen und mir die Stirn geküsst hast, dabei mit leisen Worten in dem sanften Ton deiner Stimme zu mir sagtest:
»Das Glück, dich im Arm zu halten, ist unbezahlbar. Ich hab dich lieb, mein Schatz.«
Lass mich ein Letztes mal in diesem Brief darauf antworten:
»Das Glück, dich als Oma gehabt zu haben, ist noch viel wertvoller. Ich habe dich auch lieb.«
Ich vermisse dich jeden Tag, aber ich bin stark und halte alles was du mich gelehrt hast
in Erinnerung. Dies sind die letzten Worte, die auf dem Papier vor mir geschrieben werden, bevor ich meinen Namen darunter setze.
Mein Brief endet hier. Es ist alles gesagt was ich noch sagen wollte. Ich lege den Füller zur Seite und fahre mir mit dem Ärmel über die Augen.
Ich falte das Papier sorgsam und lege ihn in einen Umschlag. Dann erst nehmen ich den Füller erneut zur Hand und schreibe ihren Namen darauf. Den Namen meiner Großmutter: Eveline.
Mit dem Brief in meiner Hand stehe ich von meinem Schreibtisch auf, packe eilig meine Sachen, ziehe mir die Schuhe an und setzte mich auf mein Fahrrad.
An einem Ort der Ruhe halte ich. Keine Autos
zu hören. Strahlend blauer Himmel, nur ein paar Wolken ziehen vorbei. Ich setze mich an einen der Bäume, an dem Waldstück an dem ich hielt, nieder und überblicke die Umgebung. Vor mir eine Wiese und ein See mit Sicht auf eine Brücke in der Ferne. Mein Lieblingsplatz. Ich mache mir erneut Gedanken. Stundenlang sitze ich hier und denke an dich.
Dann erst ziehe den Umschlag hervor und drehe ihn in den Händen. Ich krause die Stirn und frage mich innerlich:
Was braucht man um einen Brief in den Himmel zu schicken?
Papier und Stift? Eine E-mail oder doch nur Gedanken?
Egal.
Ich ziehe ein Feuerzeug hervor und verbrenne ihn. Das Papier knistert unter dem Feuer. Die Flammen lecken daran und in weniger als einem Augenblick ist der Brief nur noch Asche. Asche, die zur Erde fällt und sich mit ihr und dem Wind vermischt, weiter getragen wird, wieder ein Teil von ihr wird. So wie du.
»Ich habe dir einen Brief geschickt«, flüstere ich leise in den Wind. Doch ich erwarte keine Antwort.