Kurzgeschichte
Früher

0
"Früher"
Veröffentlicht am 12. April 2008, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Früher

Früher

Mein Großvater war tot. Nach so langer Zeit des langsamen Dahinsiechens, hatte ihn die Krankheit schlussendlich besiegt. Jedenfalls haben sie mir das gesagt, als sie in ihren weißen Kitteln vor mir standen und versuchten mir ihr Beileid auszudrücken, dabei wusste ich jedoch genau, dass sie mich – kaum dass ich ihnen meinen Rücken zugewandt hatte - schon wieder vergessen haben würden. Sie waren Heuchler, aber das machte keinen Unterschied; so war das Leben, so war die schöne neue Welt. Ich hatte ihn gemocht, doch vermutlich war es besser so wie es jetzt war. Er war alt geworden, zu alt vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich nun über den Eintritt seines Todes glücklich sein sollte, dass er nun endlich wieder mit Großmutter vereint sein würde, oder traurig über den Verlust seines irdischen Daseins. Doch ich wusste auch, dass diese Frage im Endeffekt keinen Unterschied für mein frisch definiertes Ziel machen würde; ich fühlte mich in meiner kürzlich gefallenen Entscheidung nur noch einmal bekräftigt.

Damals, als ich noch jünger war und im Schneidersitz vor dem Schaukelstuhl meines Großvaters saß, ihm an den Lippen hing und gebannt seinen Geschichten von früher lauschte, waren die guten alten Zeiten, an die ich mich gerne zurückerinnerte. Schon damals war unsere Welt eine trostlose gewesen, aber er hatte stets gewusst, wie er sie mir mit etwas Fantasie verschönern konnte. Er erzählte oft von vergangenen Zeiten, als es noch Wälder gab und man den Duft von Gräsern hatte riechen können wenn man in einer lauen Frühlingsnacht mit seiner Liebsten ein Candle Night Dinner im Freien veranstaltet hatte, wie man das Salz vom Meer nach dem Baden am ganzen Körper hatte fühlen können und wie Pferde durch die endlosen Steppen der Wildnis galoppiert waren. Pferde... ich hatte noch nie eines hier gesehen und ich wusste, dass ich das auch nie würde. Aber auf den alten vergilbten Fotografien, die er mir manchmal zeigte, da hatte ich eines gesehen das so unvorstellbar schön war, dass ich gar nicht fassen konnte, dass es einmal so etwas Wunderbares gegeben hatte.
"So weiß wie Schnee", hatte mir mein Großvater beim Zeigen verträumt zugeflüstert.
"Was ist Schnee", hatte ich ihn darauf in meinem kindlichen Eifer, dürstend nach Wissen und neuen Erkenntnissen gefragt. Er hatte mir auch gesagt, dass es früher vier unterschiedliche Jahreszeiten gegeben hatte, jede für sich speziell und eigen, „aber das ist lange her, als man da noch Unterschiede gemacht hatte“.
Als ich älter wurde, war mein Durst nach Wissen noch immer nicht gestillt, immer noch erzählte mir mein Großvater von früher, von der guten alten Zeit. Meine Großmutter sah unserem Treiben nie gerne zu, aber sie machte auch nichts dagegen. Auch von ihr konnte ich vieles lernen, sie zeigte mir die praktischen Dinge, die ich für mein späteres Leben hatte gebrauchen können. Doch keine Stunden waren so schön wie diese, wenn ich und mein Großvater beisammen waren und er mir von früher erzählte.

Mit dem Alter und der Pubertät wurden meine Besuche bei meinem Großvater immer seltener, ich verliebte mich in ein Mädchen namens Bettina. Sie war eine hübsche schlanke Frau und ich konnte mein Glück kaum fassen, dass sie an einem Träumer wie mir - so wurde ich von den Anderen in meiner Siedlung genannt - solch ein Interesse fand. Wir verbrachten mitunter die schönsten Nächte meines Lebens zusammen, sie waren fast so schön wie die Stunden in dem kleinen Kämmerchen bei meinem Großvater. Ich war hin und her gerissen, zwischen der Liebe zu ihr und der Zuneigung zu meinem Großvater, verbunden mit seinem gewaltigen Wissen von früher. Ich habe ihr vieles von dem was mir mein Großvater über die Vergangenheit geschildert hatte, weitererzählt. Mit einem Lächeln sah ich dann jeweils in ihre leuchtenden Augen, die mich an mich selbst erinnerten als ich früher bei Großvater gewesen war.

Wir waren schon länger der Pubertät entwachsen und meine Besuche bei meinen Grosseltern wurden immer seltener, als Bettina mir den Vorschlag unterbreitete, die alten Zeiten wieder zu beleben. Wir beide würden den Eifelturm in Paris erklimmen, die Tower Bridge in London besichtigen und das Kolosseum in Rom besuchen. Auch sie hatte genug von dem tristen Leben hier unten, war gewillt die Gefahr einzugehen, den dieser Schritt erfordern würde. Ihr Traum war auch immer mein Traum gewesen, ich hatte mich aber nie getraut mein Vorhaben durchzuziehen. Nun aber waren wir beide zu fest in dieser Idee gefangen, in diesem Traum verstrickt. Wir waren schon am aufbrechen, die Rucksäcke waren gepackt, als die Nachricht kam, dass mein Großvater in dieser Nacht verstorben sei. Ich empfand eine große Trauer, er war mir der Vater den ich nie gehabt hatte. Mein Vater sei ein toller Mann gewesen - ich erinnerte mich in diesem Moment an die Worte meines Großvaters - und meine Mutter eine Schönheit, wie man sie in den heutigen Tagen nicht mehr oft sieht. Sie sei immer fröhlich und gut gelaunt gewesen, bis zu dem Zeitpunkt an dem mein Vater im Krieg gefallen war. Danach habe sie mich in seine (des Großvaters) Obhut gegeben und hätte noch vor dem Super Gau den Freitod gewählt. Mein Großvater nahm ihr das, im Gegensatz zu meiner Großmuter, nie übel. Wahrscheinlich wäre sie so oder so gestorben, wenn nicht durch Selbstmord, dann durch die nuklearen Dämpfe der biochemischen Waffen. Zumindest hatte mir das mein Großvater gesagt.
Die Nachricht über seinen Tod brachte uns in Verzug, festigte in mir aber nur den Entschluss, schon um seinetwillen, den letzten Schritt zu wagen, den Schritt zurück in die Zivilisation.

Niemand hielt uns von dem Weg an die Luke zurück. Die Leute waren es sich gewöhnt, dass es immer wieder mutige Träumer und falsche Helden gab. Leute wie wir, die glaubten, dass da mehr war, dass die Welt wieder sicher sein würde. Keiner von denen, zugegeben wenigen, die diesen Weg gewählt hatten, kamen je zurück. Ich sah meine Freundin noch einmal mit unheimlicher Zuneigung an, küsste sie, bevor sich meine Hand um den Lukengriff schloss und daran drehte.

Es war hell und für einen kurzen Moment war ich geblendet. Ich weiß nicht ob das früher der Normalzustand gewesen war, ich hatte die Welt schließlich nie gesehen, meine Welt war der Atombunker gewesen und die Geschichten meines Großvaters. Ich sah Bettina an, sie hatte diese ambivalente Miene aufgesetzt, die auch ich haben musste, dieses Gefühl zwischen Angst und vollkommener Glücklichkeit. Es war totenstill, mein Großvater hatte mir damals, gesagt, dass die Vögel gezwitschert und der Wind geheult hatte. Doch da war nichts, nicht mal ein Echo. Ich sah meine Freundin noch einmal an, sie war schon auf den Boden gesunken, keuchend. Ich beugte mich zärtlich über sie, nahm sie in den Arm und legte ihr die Hand an die Wange. Sie starb noch vor mir, doch auch ich würde nicht zurückkehren. Lieber ich hatte die richtige Welt nur einmal gesehen, als dass ich ein tristes und langes Leben an einem eingekerkerten Ort führte. Ich sah nichts, aber es war immer noch tausendmal besser als die langweiligen, immer gleichen grauen Betonmauern. Ich war glücklich.
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32263.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32264.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32265.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32266.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32267.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32268.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32269.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_32270.png
0

Hörbuch

Über den Autor

qed

Leser-Statistik
196

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
qed vielen - Dank für eure netten Kommentare. So was tut natürlich gut ;)
Vor langer Zeit - Antworten
MarianneK Früher - Sehr realistisch gechrieben und stelle mir diese Zeit furchtbar vor. Es macht ein wenig Angst daran zu denken. *****

Lieben Gruß Marianne
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur ein Mal nur die Welt gesehen.. - Spannend hast du die Endzeit beschrieben und ein bisschen ängstlich bleibe ich zurück..
*****
LG, Erna
Vor langer Zeit - Antworten
FSBlaireau Das ist eine - sehr starke und bewegende Geschichte, auch ich habe meinen Großvater geliebt und zu früh verloren! *****
Viele Grüße FSBlaireau
Vor langer Zeit - Antworten
qed Re: Hallo Du :) - Hallo Conny
Vielen Dank auch für deinen Kommentar, werde mir Mühe geben, auch in Zukunft gut zu schreiben.
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Hallo Du :) - Mir hat Deine Geschichte auch sehr gefallen! Packend geschrieben und berührend, vermischt mit der zarten Melancholie, die den Leser sofort überfällt und auch in Erinnerungen schwelgen lässt! *****
liebe Grüsse, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
qed Re: ***** - Hey Franzi

Vielen Dank für deinen netten Kommentar ;). Ja, leider ein Szenario wie es vielleicht einmal eintreten könnte.

Zitat: (Original von franziw2000 am 13.04.2008 - 09:18 Uhr) Tolle Endzeitgeschichte!!! Macht mir zwar ein bisschn Angst aber das ist nicht unbedingt schlimm, da sie für mich sehr realistisch geschrieben ist. Gut gemacht. LG Franzi
Vor langer Zeit - Antworten
franziw2000 ***** - Tolle Endzeitgeschichte!!! Macht mir zwar ein bisschn Angst aber das ist nicht unbedingt schlimm, da sie für mich sehr realistisch geschrieben ist. Gut gemacht. LG Franzi
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
8
0
Senden

7210
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung