Kapitel 1Â Â Â
Ein leiser Wind streicht um die Blätter, hebt sie hoch und lässt sie langsam wieder sinken. Graue Wolken versperren den Blick zum Himmelsblau. Sie wollten eigentlich regnen, hatten aber Angst, ich könnte nass werden und belassen es bei dumpfem Grollen. Ich sitze mal wieder allein auf meiner selbstgebauten Schaukel in meinem Wald. Na ja, eigentlich ist es nicht wirklich mein Wald. Aber ich bin so oft in ihm unterwegs und weil er genau vor unserem Haus steht, nenne ich ihn mein eigen. Die Schaukel besteht eigentlich nur aus einem alten Brett, in das ich zwei Kerben geschnitten hatte und dann mit zwei starken Nylonseilen an den unterste Ast, der sich etwa vier Meter über dem Boden erhebt, meiner lieben, alten Buche befestigte. Hier träume ich gerne in den Tag hinein. Meist fliegen meine Träume mit mir in eine Welt, die
ich mit meinen Gedanken steuern konnte. Jeder verehrte mich und ich war die Heldin der Nation, aber im Grunde nur ein armes Bauernmädchen! Es machte mir heimlich Spaß den König des Landes immer wieder wegen seiner Fehler zurechtzuweisen. Doch heute war es anders. Ich träumte von der nahen Zukunft. Von meiner Freundin und ihrem Freund.
Ein plötzlicher Pfiff stört mich auf, wie einen kleinen Vogel und ich lauschte gespannt. Tatsächlich, der Pfiff wiederholt sich nach einiger Zeit. Ich sprinte los. Mein Vater Pfiff nämlich immer nach mir, wenn ich die Zeit vergaß und nach Hause kommen sollte. Aber heute war ich überrascht, denn weder dämmerte es schon noch erwarteten wir Besuch. Doch als treue, folgsame Tochter, und übrigens auch die einzige, hatte ich natürlich zu gehorchen. Das soll jetzt nicht abwertend klingen oder so, als würde ich es nicht gerne machen. Ich liebe meinen Vater über alles und ich würde für ihn
durchs Feuer gehen. Es liegt an mir selber. Manchmal verwünsche ich meine eigene Demut und den Gehorsam, der mir scheinbar angeboren war. Gegen ihn bin ich so gut wie Machtlos.
Egal.
Also ich sprinte die 500 Meter nach Hause und sehe meinen Vater schon warten. Aber halt! Wer stand da neben ihm? Panik! Ich hasse es neue Leute kennen zu lernen. Für mich ist das purer Horror und eine einziger Spießrutenlauf!! Panik!
Panik ende. Nur eine Freundin, die Freundin von der ich gerade geträumt hatte. Ihr Name war Linh. Ein schöner Name, wie ich finde. Was wollte sie hier? Ich würde es bestimmt erfahren. Aber wenn es nach mir ginge, dann würde ich Gedanke lesen können. Was Neuigkeiten angeht, bin ich, glaub´ ich, der neugierigste Mensch auf der Erde. Aber darum geh es jetzt nicht.
Die kleine Linh sieht traurig aus. Irgendwie verletzlich. Genau das Gegenteil von sonst.
Unbeschreiblich klein. Normalerweise ist sie fröhlich, heiter, ausgelassen, ein Blickfang eben. Und wunderschön. Ich weiß nicht warum wir überhaupt befreundet sind, denn ich bin eher… nicht so. Irgendwann hat sie mich mal in einer Pause in der Schule angesprochen und seitdem hat sie mir immer alles erzählt. Aber heute wird es nichts angenehmes sein, was ich zu hören kriege.
Ich lade sie ein sie ein reinzukommen und biete ihr eine Tasse Tee an, den sie lächelnd annimmt.
„Du weißt immer was ich brauche.“, sagt sie und ich nicke und lächel auch. Zu mindestens versuche ich es. Während ich den Tee mache, denkt sie nach. Als wir beide unsere Tassen mit Tee in den Händen halten, nur um uns irgendwo festzuhalten und einige Kekse schon verspeist sind, fange ich an und frage was los ist. Ihr erbarmungsloser Blick bohrt sich in meinen Magen. Sie fängt mir dumpfe Stimme an: „Du
kennst doch Mel? Den süßen Barkeeper aus dem Funny?“
Ja. Er hat mir mal ein Bier ausgegeben. Es war warm. Ich nicke nur.
„Ich hab´ dir doch erzählt, wie süß ich ihn finde und das ich was mit ihm anfangen würde, wäre da nicht Marco!“
Ja. Das hast du erzählt. Immer wieder und immer wieder. Ich nicke.
„Ich liebe Marco, sonst wäre´ ich ja nicht schon drei Jahre mit ihm zusammen. Es hat nie Streit gegeben, nie! Und wir beide waren immer treu.“
Nein. Du nicht, will ich sagen, doch wie immer nicke ich nur und höre zu.
„Und jetzt kommt die Tragik! Mel geht seit heute in meine Klasse. Er ist ganz neu hier in die nähere Umgebung gezogen. Oh man, der sieht so gut aus! Egal, auf jeden Fall kann ich mich auf nichts mehr konzentrieren. Immerzu spukt er in meinem Kopf herum. Weißt du was ich meine? Außerdem sitzt er genau vor mir. Es
ist einfach zum Verzweifeln. “
Nein. Ich war noch nie so verliebt, das sich mein Verstand und meine Konzentration ausgeschaltet haben. Nein. Ich weiß auch nicht was jetzt in dir vorgeht. Nein. Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Aber ich lächle mitleidig, lege meine Hand auf ihre und nicke verständnisvoll.
Meistens bin ich eine gute Schauspielerin. Manchmal regt sich Linh beim Fern sehen irrsinnig über schlechte Schauspieler auf. Doch mir hat sie bis jetzt alles geglaubt. Auch jetzt.
Und so erzählt sie immer weiter, immer weiter, bis sie drei Tassen Tee getrunken hat, alle Kekse weg sind und noch einige Tränen über ihre Wange runter rollen.Â
Während dieser langen Stunden betrachte ich meine beste Freundin. Sie sieht fast überirdisch schön aus. Habe ich schon erwähnt, dass sie halbe Vietnamesin ist? Ihre Nussbraunen, leicht lockigen Haare fallen in ausnahmslosem Glanz,
mit unnachahmlicher Würde über ihre Schulter und den Rücken bis fast zu ihrer Hüfte. Dazu passende, dunkelbraune, leicht nach oben gezogene Augen, sowie feingeschwungene Augenbrauen, die sie kaum zupfen muss. Ihre Wimpern spotten jeder Beschreibung, genau wie ihre sinnlichen Lippen. Diese waren nicht blutrot, sondern genau wie der Rest der Haut brouncefarbend angehaucht. Ach ja, ihr Körper. Der gleicht dem einer Göttin. Die Rundungen waren genau richtig. Nichts war zu groß oder zu klein. Linh war Perfekt. Jedoch nicht im Charakter. Er war der einer Schlange sehr ähnlich und hinzu kam ein Schuss Cleverness und Verschlagenheit. Wenn sie aber mit mir zusammen war, ließ sie manchmal ihre Maske aus Perfektion und Hinterhältigkeit fallen und ich bekam kleine Einsichten in ihr verwirrtes Ich.
Und dann kommt die Frage auf die ich schon den ganzen Abend warte, leider aber keine
Antwort habe.
 „Was soll ich nur machen?“, fragt Linh verzweifelt.
Keine Ahnung. Wirklich nicht. Mein Gesicht legt sich in nachdenkliche Falten und meine Augen suchen einen helfenden Schriftzug an der Decke. Das Kinn bewegt sich nach links, meine Hand legt sich darum, damit mein Kopf nicht nach rechts abfällt. Doch sie hat schon eine Idee parat.
„Ich werde eine Zeit zweigleisig fahren und dann entscheiden. Wie sind sechs Monate?“
„Entschieden zu lange!“, werfe ich endlich auch mal was ein. „Nicht länger als einen.“, weil ich nicht mehr aushalte, füge ich in Gedanken hinzu. Bei solchen Sachen habe ich nämlich schnell ein schlechtes Gewissen, das mich dann nicht zur Ruhe kommen lässt.Â
„Also abgemacht. Einen Monat probiere ich beide Jungs aus. Der bessere Gewinnt.“
Ihre Stöckelpumps machen einen Heidenkrach
als sie unsere Einfahrt runter tippelt. Selbst nachdem ich sie nicht mehr sehen kann, kann ich sie immer noch hören. Das bringt mich zum Kichern. Wie verschieden wir beide doch sind. Ich habe nämlich immer flache, weiche Schuhe an, damit mich keiner hört und ich nicht auffalle. Doch sie, sie geht wie ein aufgeblasener, stolzer Pfau die Einkaufspassage entlang, als gehöre die ganze Welt ihr und freut sich über jeden Blick, der ihr gilt. Deswegen gehe ich nicht gerne mit ihr Shoppen. Außerdem will sie mir dann die gleichen Tuntensachen andrehen, die sie auch trägt. Ich kaufe sie dann auch, allerdings in einer wesentlich schlichteren Ausgabe, dass heißt ich gehe mit Papa noch mal los und schaue dann was mir gefällt und nicht ihr.
Ich sagte vorhin, sie wäre Clever und Verschlagen. Es stimmt auch. Sicher. Aber an mich kommt sie nicht ran. Das soll nicht bedeuten, ich denke ich bin schlauer oder
gerissener als sie. Nein, bestimmt nicht. Jedoch machen mir Hausaufgaben, im Gegensatz zu ihr, keine Probleme. Und wenn sie mal wieder zu schnell fuhr, dann fielen mir tausende Ausreden ein. Ich meine, irgendwie … vielleicht sind wir uns doch nur ebenbürtig.
Egal.
Ich stehe noch immer der Tür und lausche ihren Schritten.
„Komm, mach endlich die Türe zu, Emilie!“ Mein Vater steht lächelnd hinter mir. „Worum ging es?“, fragt er mit seiner, mir vererbten, Neugier, während wir den Abendbrottisch für uns beide decken.
„Sie wollte sich nur wieder ausheulen.“, weiche ich aus.
„Neuer Typ, he?“
„Vielleicht.“
„Der Barkeeper?“
„Du kannst wie immer Gedanken lesen.“
„Und was ist mit Marco?“
„Was soll mit ihm sein?“
„Will sie Schluss machen?“
„Vielleicht.“
„Also probiert sie beide aus?“
Ich schaue ihm direkt in die Augen und wir lachen los. Er kennt sie fast so gut wie ich. Aber wahrscheinlich könnte er besser mit ihr umgehen als ich. Immerhin ist er Psychologe in einer Klinik, die im Stadtkrankenhaus mit eingebaut ist.
Langsam beruhigen wir uns und setzen und an den Tisch. Da fängt mein Papa wieder mit dem Thema an.
„Ist es bald schon drei Jahre her, dass sie zusammen kamen?“
„Du hast ein super Elefantengedächtnis. Jap. Sie sind es. Dabei kenne ich ihn bis heute nicht.“
„Stimmt. Warum eigentlich nicht?“
„Warum was nicht?“
„Warum kennst du ihn noch nicht? Drei Jahre
sind eine lange Zeit.“
„Wir waren nie auf den gleichen Partys, wir waren auch nie gleichzeitig bei Linh.“
„Linh hat Angst.“
„Wovor sollte Linh denn bitte Angst haben?“
„Das sich dieser Marco in dich verguckt und sie ihn nicht mehr halten kann.“
„Nein, sie ist viel hübscher als ich, wie soll das denn gehen?“
„Ist sie eben nicht. Du kleidest dich nur anders und schmierst dir nicht tonnenweise Schminke ins Gesicht. Deine Natürlichkeit kommt bei Jungs viel besser an. Glaub mir. Du bist die hübscheste Frau, die ich seit deiner Mutter je wieder gesehen habe!“ Seine Augen glänzen. Er ist ins Schwärmen gekommen.
„Danke, Dad. Es bedeutet mir viel, wenn du mir so etwas sagst. Aber du hast vergessen, dass du nicht Objektiv sein kannst. Immerhin bin ich deine Tochter.“
Mein Blick richtet sich auf mein Brötchen, das
auf dem bunten Plastikbrettchen vor mir liegt. Seine schwere Hand legt sich auf meine linke Schulter und drückt sie sanft. Ich liebe ihn. Es gibt keinen besseren Mann als ihn. Leider ist seine Halbglatze grau geworden und sein kurz geschnittener Bart auch. Er hat auch einen kleinen Bierbauch bekommen. Seine angenehme Stimme lässt aber alles in den Hintergrund rücken. Mein Vater hat die angenehmste Stimme die ich bis jetzt gehört habe. Sie vermittelt eine Geborgenheit, Sicherheit, sie klingt beruhigend (sogar wenn er sich aufregt) und sie bedeutet einem, dass er immer für dich da ist.
„Ist Morgen nicht diese Party bei Amy? Sie schmeißt doch eine Geburtstagsparty für ihren neunzehnten.“
„Ja, aber ich habe da gar keine Lust dazu.“
„Hast du das auch zu Linh gesagt? Sie geht doch hin?“
„Ja, ja. Ich glaube sie wollte dann da mit Marco hingehen.“ Ich beiße in mein Wurstbrötchen mit
Tomaten. Auf einmal haut Papa mit der flachen Hand auf unseren Tisch, der eigentlich nichts getan hat.Â
„Deine Chance.“ Das leckere Brötchen bleibt mir vor Überraschung im Halse stecken, sodass ich husten muss. Sanft schlägt er mir auf den Rücken.
„Chance wozu?“, röchele ich und trinke einen Schluck Wasser.
„Diesen sogenannten festen Freund deiner besten Freundin kennenzulernen.“, meint mein Vater gut gelaunt.
„Ach so.“ Schock. Panik. Ich hasse es neue Leute kennenzulernen. Für mich ist das purer Horror und ein einziger Spießrutenlauf. Panik. Mein Kopf läuft rot an und meine Hände fangen an zu Zittern.
„Alles ok?“
Nein, nein, nein! Ich habe noch nie, nie in meinem Leben etwas getan womit niemand gerechnet hat oder was andere unangenehm
berühren könnte. Nie! Sie wissen ja gar nicht, dass ich komme. Linh wird stocksauer sein. Das kann ich nicht machen!
„War ja nur ein Vorschlag. Wenn du nicht willst musst du nicht.“, versucht Papa mich wieder zu beruhigen.
„Geht schon wieder. Doch du hast recht. Ich sollte es machen und ich mache es auch. Diesen Marco will ich endlich kennenlernen. Immer schwärmt sie so von ihm. Amy rufe ich gleich nach dem Abendessen an.“ Mein Atem geht zwar noch etwas schneller, aber ich beruhige mich langsam. Eigentlich tat ich immer was andere von mir erwarteten. Ob sie nun aussprachen oder nur dachten. Wissend was sie von mir wollten, tat ich es fast immer. Das sollte sich jetzt ändern. Irgendwie finde ich das erschreckend. Andererseits tut es auch verdammt gut und ich bin froh darüber.
„Ich liebe dich, Dad.“
„Ich dich doch auch, mein Schatz.“
Nach diesem schockreichen Abendessen rufe ich tatsächlich bei Amy an. Sie ist richtig glücklich über mein kommen, habe ich so das Gefühl. Wir haben uns meiner Meinung nach nie so gut kennengelernt, sodass sie mich jetzt zu ihrer Geburtstagsfeier einladen könnte. Ein bisschen komisch finde ich das schon. Aber sie hat es getan. Nur das Zählt. Heute kann ich gut schlafen. Fast alles ist in Ordnung.
Zum Glück haben wir langes Wochenende. Gestern war Donnerstag. Der dritte Oktober. Tag der Deutschen Einheit. Ein freier Tag bei uns in Deutschland. Logischerweise. Im Gegensatz zu Gestern kann man heute von einem goldenen Herbsttag sprechen. Die einzelnen Blätter meines Waldes erstrahlen in verschiedenen Rot, Orange, Gelb und Brauntönen. Der Boden sieht aus wie ein Teppich aus kleinen, goldenen Flicken. Nur wenige Schäfchenwolken haben sich an das blaue Firmament verirrt. Doch die Sonne bringt
sie wie Zuckerwatte schnell zum Schmelzen. Es ist so warm, das ich ein T-Shirt anziehen kann. Die weinrote Farbe passt super zu der Lokation draußen. Es umschließt meine Figur. Passt sich ihr an. Bringt alles gut zur Geltung, mit diesem V-Ausschnitt. Ich trage es gerne. Dazu eine bequeme Jeans und schon ist mein Outfit für die Shoppingtour fertig. Sie habe ich nämlich Linh versprochen. Nicht erst gestern beim Tee trinken. Sondern schon vor einer Woche. Da ging es ihr noch gut. Heute wird es nur ein Frustkaufen. Sachen, die sie so wie so nie wieder anzieht und bei mir landen, damit ich mich um ihre Entsorgung kümmern kann. Mit dem Fahrrad fahre ich zu ihr. Dieses Fahrrad ist mein ganzer Stolz. Das Geld dafür habe ich ein halbes Jahr gespart, von meinem Taschengeld. Der Rahmen ist Purpurrot und es hat vorne einen breiten Korb, wo viel reinpasst. Seine Größe ist genau richtig für mich. Damals habe ich es ganz neu bei einem Händler erworben. Er
hat mich ganz schön übers Ohr gehauen mit dem Preis. Aber das macht mir heute nichts mehr, denn es fährt gut.
Diese Tag wird fast genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe: Statt die Sonne in meinem Wald zu genießen muss ich mit den grauen Betonbunker, der sich Einkaufsparadies schimpft. Doch heute bin ich mutiger als sonst. Ich laufe nicht nur hinter Linh her und probiere an was sie will, sondern mache selber Vorschläge was wir kaufen könnten. Außerdem probiere ich auch Kleidungsstücke an, die nur ich toll finde und nicht sie.
Keine Ahnung wo das auf einmal herkommt. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es lustiger ist als sonst.
Endlich sind wir fertig und ich kann nach Hause fahren. Vorher bringe ich sie aber noch Heim. Diese Reihenfolge haben wir uns so angewöhnt, egal was wir machten. Gerade als ich wegfahren will, kommt mir ein Typ entgegen. Er fährt mit
seinem Rad ausversehen in meines. Weil mir das peinlich ist, schaue ich ihn nicht an, sondern nur auf seine Füße. Meine Ohren werden rot, als er mich fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke nur. Ich fahre schnell weiter. Ich will nach Hause. Ich will nur weg hier.
„Na, wie war`s?“, werde ich von meinem Vater begrüßt.
„Gut. Hat ausnahmsweise Mal Spaß gemacht. Wie spät ist es?“
„Fast halb sieben.“
„Dann muss ich mich jetzt für Amys Party fertig machen.“
Anders als manch andere Mädchen brauche ich dafür nur eine halbe Stunde. Make-up lege ich nur dezent auf. Mein Spiegelbild sieht umwerfend aus. Das Lächeln ist bezaubernd. Für die Fete habe ich meine gute, weiße Jeans angezogen, zusammen mit meinem knallroten Fledermausshirt. Froh und einigermaßen
glücklich hüpfe ich die Treppe wie ein Känguru hinunter. Mein Vater lacht. Er freut sich für mich. Allerdings weiß ich genau, vor Amys Tür geht es mir und meinem Magen nicht mehr so gut. Doch im Moment nehme ich mich zusammen. Lächelnd nehme ich meinen Vater in die Arme. Wie ein kleines Kind will er mich noch ermahnen: „Viel Spaß, Kleine. Trink nicht so viel, komm nicht zu spät nach Hause…“
„… und bring mir keine Typen mit. Ich weiß liebes Väterchen.“
Bevor ich mich noch anders entscheiden kann, setze ich mich schnell auf mein Fahrrad und fahre los. Zu Amy brauche ich nur circa fünf Minuten. Deswegen brauche ich mich auch nicht zu beeilen oder schnell zu fahren und möglicherweise meine leicht lockige Frisur zu ruinieren. Langsam wird mir mulmig und mein Magen flau. War das wirklich eine gute Idee? Noch kann ich umkehren. Nein, nicht kneifen! Nicht heute, nicht jetzt. Diesen fiktiven Marco
will ich endlich kennenlernen. Unbedingt. Also los.
Da ist das Haus von Amys Eltern. Jetzt oder nie, sage ich mir. Meine Füße bewegen sich wie von alleine in Richtung Haustüre. Den Bass höre ich bis hier draußen. So früh schon so viel los? Schon sehe ich das Fahrrad von Linh. Mir wird heiß. Vor Angst. Oh nein! Gleich neben ihrem steht das Fahrrad, das mich heute schon mal angefahren hat. Der Fahrer erkennt mich bestimmt wieder. Wie schrecklich peinlich! Tapfer wie ein Soldat gehe ich weiter auf Amys Haustür zu. Ganz von alleine bewegt sich der Zeigefinger, an dem mein restlicher Körper hängt, zu der Klingel, um sie zu drücken. Sofort will ich mich umdrehen und flüchten. Ein Klingelstreich ist doch mal möglich, oder? Leider geht schon die Tür auf. Mir ist es ein Rätsel, wie Amy die Klingel bei dem Krach im Haus hören kann.
„Hey Honey! Na, wie geht’s? Schön das du da
bist!“ Amy fällt mir in die Arme. ‚Sie ist froh, das ich da bin‘, freue ich mich innerlich.
„Gut. Super. Hier, “ Ich überreiche ihr ein kleines Geschenk, was ich heute beim Shoppen noch gekauft hatte. „ dass ist für dich. Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke, Süße.“ Wieder nimmt sie mich in den Arm. „Komm endlich rein. Ich dachte du kommst mit Linh zusammen hierher. Ihr Freund ist auch da.“
„Damit Linh ihn mitbringt, habe ich mich ja erst so spät entschieden zu kommen und ihr auch nichts davon gesagt. Ich will ihren Freund endlich kennenlernen.“
„Ach, du kanntest ihn noch gar nicht? Ein schnuckeliger Typ, das sag ich dir!“
Langsam gehend während unseres Gespräches sind wir im riesigen Wohnzimmer angekommen. Heute ist es ein großes Partyzimmer. Als ich Linh an der Bar stehen sehe, traue ich mich zögerlich auf sie zuzugehen.
„Hallo.“, spreche ich sie an.
„Du hier?“ Sie wirkt ein bisschen geschockt, fasst sich aber schnell wieder. „Was für eine Überraschung. Ich dachte du hättest keine Lust auf Party!?“
„Papa wollte mal Sturmfrei haben und hat mich kurzfristig überredet.“, lüge ich schnell. Bei dieser Unterhaltung müssen wir uns beide gegenseitig ins Ohr schreien, um die Musik zu übertönen.
Plötzlich sehe ich, wie ein junger Mann sich aus der tanzenden Menge löst. Schneckengleich kann er sich zu uns durchdrängeln. Seine Hände legen sich um Linhs Hüften, wollen sie mit bewegen. Linh wert sich im Spaß ein bisschen dagegen. Und um den Anschein zu erwecken, sie wolle mich hier nicht alleine stehen lassen. Doch sie dreht sich kurz darauf zu ihm. Ihre Arme legen sich um seinen starken Nacken. Dann geht sie mit ihm zur tanzenden Menge zurück, die mittlerweile so aussieht, als wäre
sie ein einziger, pulsierender Körper und lässt mich doch an der Bar stehen.
Ich begreife gar nichts. Mir will nicht gelingen ein böses Gefühl abzuschütteln.
Der Kopf, der mir angewachsen ist, dreht sich im Moment mit seinen Gedanken um den jungen Mann, der Linh zum Tanzen entführt hat. Anscheinend ist er Marco. Er ist der Freund, den sie seit drei Jahren belügt und betrügt.
Wie es wohl wäre, wenn es mein Freund wäre? Nicht wichtig. Viel wichtiger: Warum hat sie mich wegen ihm hier stehen lassen? Immerhin bin ich ihre beste Freundin. Und warum hat sie uns nicht vorgestellt? Fast werde ich schon traurig, da ist der Song gerade zu ende. Amy stellt irgendein Spiel vor. Linh und ihr Freund kommen wieder auf mich zu. Zu meiner eigenen Überraschung traue ich mich den Fremden zu mustern, hüte mich aber davor ihm direkt in die Augen zu schauen. Er sieht tatsächlich gut aus, so wie Amy gesagt hat. Sein Haar ist eine
schwarze, halblockenartige, streichholzlang geschnittene Masse, die sich sanft auf seinen Kopf legt und dennoch in jede Richtung zu streben scheint. Das beige T-Shirt liegt eng an, sodass man dezent Arm- und Bauchmuskeln erkennen kann. ‚Sicherlich ist er über eins achtzig groß. ‘, denke ich. Genau der südländische Typ mit seinen dunkelbraunen Augen und gebräunten Haut, die ich so gerne leiden mag. Natürlich nie laut. Traue ich mich ja gar nicht. Auf mich stehen die ja so wie so nie.
Linh sieht etwas widerwillig aus, aber sie kommt näher. Ihre verkrampfte Art kann ich spüren. Sie hält den Jungen doll fest. Linhs Fingerknöchel sind schon ganz weiß.
„Sorry, aber das Lied war so toll.“, fängt sie an.
„Nicht schlimm.“ Zum Glück können wir uns während Amys Spiel normal unterhalten.
„Nun ist also der Augenblick gekommen.“ Man merkt, dass sie eigentlich gar nicht so recht
will. Auch der Junge. Deshalb ergreift er das Wort.
„Hi, ich bin Marco, der feste Freund von Linh.“ Freundlich hält er mir seine Hand entgegen. Die Hand passt genau zu ihm. Nur eine Sekunde zögere ich, schaue auf diese Hand, die jedem Mädchen das Gefühl geben müssen: ‚Egal was auch immer passiert, ich halte dich fest. Ich lasse nicht los! ‘ Mein Blick wandert nach oben in sein Gesicht. Marco lächelt immer noch, obwohl ich eine kleine, zweifelnde Falte zwischen seinen Augenbrauen sehen kann.
„Und ich – und ich bin Emilie. Die meisten sagen – sagen aber nur Mimi.“, würge ich mit aller größter Mühe heraus. Mein Magen rebelliert, als Marco meine Hand drückt. Ich kann ihn nicht länger ansehen. Wie ein verschmähtes Dienstmädchen ziehe ich die Schultern hoch, mein Blick hängt am Boden. Doch seinen Blick spüre ich immer noch
kitzelnd auf dem Rücken, als die Musik schon lange wieder angefangen hat. ‚Dummerchen! ‘, schimpfe ich mich selber aus. ‚Warum schaust du ihn nicht an? ‘ Bestimmt sehe ich wie ein geschlagener Hund aus. Es fällt mir schwer, dennoch hebe ich den Kopf. Marco steht immer noch da wie vorhin, sein Gesicht leicht nach rechts geneigt. Als wolle er mich ergründen. Mein Inneres. Ängstlich gelingt mir ein Lächeln. Er lächelt zurück. Linh lächelt nicht. Kann sie auch gar nicht. Weil sie schon wieder am Tanzen ist. Ignoriert mich sowie ihren Freund. Der beugt sich gerade zu mir vor. Noch bevor ich erschrecken kann, fragt er ob ich etwas mit ihm trinken würde.
„Aber nur einen Orangensaft!“, antworte ich, vor Angst zitternd. Darüber lacht er. Dabei wirft er nicht den Kopf zurück sondern schaut mir in die Augen. Gleichzeitig nimmt er meine Hand kurz und dreht sich zum Barkeeper um. Auf unser Händeheben kommt der auf uns zu.
Bei ihm bestellt er zwei Wodka-O.
Mein Magen verkrampft sich noch weiter. Mit Alkohol werde ich so komisch. Glücklicherweise kennt mich der Barkeeper. Sein Name ist Abdullah. Ausländer. Nett ist er aber allemal. Erst runzelt er die Stirn als er merkt, dass ich diese Mischung trinken soll. Doch dann grinst er, zwinkert mir zu und tut mir wenig von dem russischen Getränk in das Glas mit Orangensaft. Ich mag Abdullah. Er macht immer den Barkeeper bei Amy. Weil er ihr Freund ist und sie liebt, macht er das.
Marco und ich prosten uns zu. Während ich nur einen Schluck nehme, trinkt er alles auf Ex. Danach lächelt er mich wieder an. Sein lächeln ist unglaublich charmant. Dann lässt er mich stehen. Korrekter gesagt sitzen. Ich sitze nämlich. Auf einem provisorischen Barhocker. Es ist immer noch laut. Abdullah und ich sehen uns an. Der Kerl zieht spielerisch einen Schmollmund, lächelt aber gleich darauf wieder
und reicht mir eine Chipstüte. Die ist zwar schon halb leer, doch für mich reicht es. Erst als ich alles aufgegessen habe, kommt, wie auf Kommando, Marco auf mich zu. Er sieht mich nicht sofort und so habe ich Zeit ihn zu beobachten. Irgendwie liegt Trotz in seinen Zügen. Suchend schweift sein Blick mehr und mehr in meine Richtung. Ich bewege mich nicht. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb entdeckt er mich bald darauf. Im gleichen Augenblick in dem er mich sieht hellt sich seine Miene deutlich auf. Prompt muss ich, genau wie er, lächeln. Marco wäre mein Traummann. Schade, dass er mit Linh zusammen ist. ‚Aber selbst dann würdest du dich nicht trauen ihn anzusprechen, du Gans. ‘, muss ich mir eingestehen. Kennen würde ich ihn wahrscheinlich auch nicht. Nun steht er vor mir und beugt sich zu meinem Ohr.
„Hast du Montag Zeit?“ Ich nicke.
„Hast du Lust, was mit Linh und mir zu
machen?“ Ich nicke deutlich.
„Gut. Ich hol´ dich dann um drei bei dir Zuhause ab.“ Ich nicke deutlicher.
Woher er weiß wo ich wohne frage ich aus Überraschung nicht. Er lässt mich wieder sitzen. Egal, egal. Wir machen was zusammen. Nur das zählt. Zufrieden mit mir und der Welt fahre ich kurze zeit später nach Hause. Aus Angst, ich könnte Marco und Linh begegnen und diese würden dann ihre Einladung zurücknehmen, habe ich mich nur von Amy und Abdullah verabschiedet.
Endlich Zuhause angekommen herrscht Stille. Vollkommne stille. Auch in meinem Kopf. Die sich überschlagenden Gedanken in ihm waren die ganze Fahrt über laut. Fast so laut wie der Bass bei Amys Party. Aber jetzt waren sie genau so still wie das Haus vor mir. Das Haus von Papa und mir. Unser Haus. Mein Haus. Meine Sicherheit. Meine Zuflucht.
Als ich kurz darauf mein Zimmer betrete, ist es
immer noch still. Ich mache Licht an und ziehe mein Schuhe und den braunen Cordmantel aus, lege ihn auf meinen beigenden Sessel. Die Schuhe stelle ich davor hin. Das Zimmer hat lachhafte 15 m2, in einer ziemlich quadratischen Form. In der Mitte von der Flurseite war die Tür. Links von ihr steht mein Eck-Schreibtisch, welcher Tagsüber gut von einem Fenster beleuchtet wird. Dieses hat zwei, leicht dunkelrote Gardinen links und rechts, gehalten von einer aluminatenen Gardinenstange mit Verschnörkelungen an den Enden. Lässt man seinen Blick weiterschweifen sieht man in der Ecke einen zweitürigen, hellbraun lackierten Holzschrank. An der rechten Tür befindet sich eine große Spiegelfolie. Fast genau neben dem Schrank, schräg zur Tür, steht der bereits erwähnte Sessel. Manchmal dient er mir aber auch zur Ablage bestimmter Sache, wie zum Beispiel Kleidung. In der gleichen Farbe steht das dazugehörende zweisitzende Sofa,
schräg zum Sessel. Hinter dem Sofa steht noch eine weiße Stehlampe. Nur Audrey Hepburn als graue Photographie mit einem knallrotem Mund lässt erkennen: Eine Jugendliche wohnt hier. Herkules in Miniatur aus Marmorimitat hält eine Glasplatte. Die Terrakottafarbende Tapete und eine passende Bordüre machen das fast griechische Bild perfekt, dessen Flair das ganze Haus durchströmt. Langsam werde ich richtig müde. Das große Licht mache ich aus. Stattdessen brennt jetzt die sanftere Stehlampe. Schleppend ziehe ich das Sofa zu einer Schlafwiese aus und nehme meine Bettwäsche aus dem integrierten Bettkasten.
Während ich versuche einzuschlafen, denke ich an Montag und versuche mir vorzustellen was wir machen werden. In dieser Nacht träume ich von Marco und mir. Wie wir ein Paar wären.
Â
Kapitel 2
Am Montagmorgen bin ich furchtbar aufgeregt. Linh wird zwar auch da sein, aber eben auch Marco. Keine Ahnung was los ist. Irgendwie finde ich ihn nett.
Als Linh die Hofeinfahrt hoch gelaufen kommt, bin ich gerade dabei meinen Schulrucksack zu packen. Missmutig macht sie es sich auf der Küchenbank bequem. Mein Vater reicht ihr eine Tasse Kaffee. Währenddessen sause ich die Treppe hinunter.
„Hey Linh!“, zwitschere ich fröhlich. Bussi links, Bussi rechts.
„Hey Kleines.“ Sie zieht einen Schmollmund. Ob der nur gespielt ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Warum sie ihn zieht allerdings schon. Sie mag nämlich überhaupt keinen Kaffee. Papa hat es schon wieder vergessen. „Können wir?“
Lächelnd versuche ich ihre schlechte Laune zu ignorieren. „Klar. Na, Papi? Bist du so weit?“
„Jederzeit. Aber ich möchte noch eben die Nachrichten hören.“ Kaffeeschlürfend setze ich mich neben Linh auf den letzen freien Stuhl.
Es sind keine schönen Nachrichten. Sind es ja selten genug. Egal. Nicht so lange drüber nachdenken.
Nach fünf Minuten sind wir alle im Auto. Papa lässt Linh und mich an der Schule raus, winkt und fährt weiter. Heute habe ich das Gefühl, nichts könnte meine gute Laune trüben. Kurz vor meiner Klasse trennen wir uns. Linh muss die Treppe ins zweite Stockwerk nehmen. Wir sind nämlich nicht in einer Klasse. Nein. Schon allein deswegen nicht, weil sie ein Jahrgang über mir ist. Denn sie ist ein halbes Jahr älter als ich.
Im Schneckentempo schleiche ich auf meinen Klassenraum zu, während meine euphorische Stimmung immer mehr dem Tiefpunkt entgegen
fällt. In den sieben Jahren, die ich jetzt schon auf dieses Gymnasium gehe, wurde ich nie von den Klassenmitgliedern akzeptiert. Nie anerkannt als eine der ihren. Wahrscheinlich liegt das auch teilweise an meiner extremen Schüchternheit. Doch nicht nur.
Still und leise gehe ich auf meinen Platz und will mich setzen. Wo vorher noch der Stuhl stand, war jetzt nur noch Luft. Ein Mitschüler hatte ihn mir so fix weggezogen, dass ich mich auf meinen Allerwertesten setze. Nach dieser Aktion schaue ich niemanden an. Warum auch? Dieser Streich wird mir einmal in der Woche gespielt und immer wieder falle ich drauf rein. Eigene Schuld. Bedächtig hänge ich meine braune Wildlederjacke auf meinen Stuhl und packe die Sache für die folgende Stunde aus. Mittlerweile bin ich auch nicht mehr interessant für meine Schänder. Bevor der Deutschlehrer reinkommt, vergewissere ich mich meiner Hausaufgaben. Alles in Ordnung. Sowie der
Rest des Schultages. Heute lassen sie mich in Ruhe. Kein Ärger. Das macht mich echt glücklich.
Mit diesem Gefühl erfüllt lächle ich meinem Papa entgegen, als er Linh und mich abholt. Ab jetzt kann ich nur noch an heute Nachmittag denken.
„Was machen wir denn heute noch schönes?“, bestürme ich Linh. In den Pausen haben wir uns komischerweise heute nicht gesehen.
„Wie? Was sollten wir machen?“
„Marco hat mich Freitag eingeladen. Er sagte wir machen heute was zu dritt. Wahrscheinlich damit wir beide uns einigermaßen kennenlernen können. Ging ja auf der Party schlecht.“
„Was?“ Linh sieht ehrlich bestürzt aus. Das sieht man ihr deutlich an. Richtig Bösartig schaut sie mir in die Augen. Merkt auf einmal, dass ich was merke. Schnell lächelt sie, nimmt mich über den Sitz schnell in den Arm.
„Ach ja, das meinst du! Keine Ahnung was er
mit uns beiden Hübschen vorhat. Ich lasse mich genauso überraschen wie du!“ Bei diesen Worten ist ihr Lächeln nicht echt. Das sehe ich ganz deutlich. Für den Moment bin ich aber beruhigt.
Papi setzt Linh bei ihr Zuhause ab und ich klettere nach vorne auf den Beifahrersitz.
„Wie spät?“ Ich bin sehr aufgeregt. Kaum das ich stillsitzen kann.
„Erst halb zwei. Aufgeregt?“
„Und wie. Als wenn ich gleich platzen muss.“
„So siehst du auch aus. Du bist ganz rot.“
„Aber glücklich!“
„Wie war es in der Schule?“
„War ganz gut.“
„Gab’s ärger?“
„Nö, wieso sollte es?“
„Dann ist ja gut. Viele Hausaufgaben?“
„Ne, auch nicht.“ Oh man, das Kribbeln soll aufhören! Nein, doch nicht. „Wie war dein Tag?“
„Nicht schlecht. Ich konnte drei Behandlungen abschließen und eine Schizophrenie feststellen. Frag‘ nicht bei wem, du weißt, dass ich der Schweigepflicht unterliege.“ Mein Vater schließt die Haustür auf. „Ich mach dann mal Mittagessen fertig. Halt! Bevor du nach oben gehst, nimmst du eine von diesen Tabletten. Die habe ich aus der Apotheke für dich besorgt.“
Beruhigungsmittel. Auf pflanzlicher Basis. Steht da zu mindestens.
„Du bist echt gemein. Aber ich nehm‘ trotzdem eine.“ Wir lachen beide. Nachdem ich die Tablette eingenommen habe, gehe ich nach oben. Dort bringe ich mein Zimmer in peinlichste Ordnung. Man kann ja nie wissen, auf was für komische Ideen Papas manchmal kommen.
Heute hat Papa Curryhähnchen mit Reis gezaubert. Eines meiner Lieblingsgerichte. Lecker, kann ich da nur sagen. Absolut lecker!
Danach mache ich mich fertig. Dezent
geschminkt und in tollaussehenden Wohlfühlklamotten sitze ich um viertelvordrei im Flur auf einem Stuhl. Meine Haare habe ich ein bisschen zur Seite gesteckt und dann einen Zopf daraus geflochten. Ganz in Gelb und Grün ist mein sonstiges heutiges Stilling. Als es um zehn vor drei klingelt springe ich wie eine Antilope an die Türe um sie zu öffnen. Der sich drehende Schlüssel kann sich für mich gar nicht schnell genug drehen. Dann geht endlich die Tür auf und er steht vor mir. Marco. Seine Haare, wie auf Amys Party, leicht verwüstet. Er trägt ein lockeres graues T-Shirt mit Blues-Jeans Applikationen und dazu eine graue Jeans. Für einen kurzen Augenblick scheint mein Herz wie die Zeit still zu stehen, als sich unsere Blicke begegnen und ich in seinen braun-grünen Augen zu versinken drohe. Aber Marco durchbricht diesen magischen Moment, indem er mich freundschaftlich umarmt. Wie man das immer bei den Cliquen in der Schule beobachten
kann. So eine Umarmung von einem Jungen habe ich mir schon lange gewünscht. Und nie bekommen.
„Hey.“, bringe ich noch leise heraus.
„Hey Kleine!“
„Komm rein, du bist ein bisschen früh dran.“ Leider fällt mir nichts Besseres ein. Woher auch. Bin selten in einer Gastgeberrolle gewesen. Hinter ihm entdecke ich ein Cabriolet. Tiefer gelegt. Marke G-Power. Sicherlich Serienausstattung mit Leder und anderem tütteligen Kram. Bestimmt ein Sechs-Zylinder. Vielleicht mehr.
„Ist das deiner Marco?“
„Jop. Schick was?“
„Aber hallo! Fett!“, rutsch es mir raus. Darüber muss er leicht lachen.
„Ja. Das hab‘ ich auch gedacht, als ich den zum zwanzigsten bekommen hab‘.“
„Du bist schon Zwanzig?“ Ich bin leicht erschrocken. Da denke ich einmal nicht nach
und träume von einem zwei Jahre älteren Jungen. Obwohl zwei Jahre doch normal sind, oder? Bei dieser Feststellung geht dieses Gefühl schlagartig zurück und ich lächle.
„Jap. Eigentlich schon einundzwanzig.“ Ups! Drei Jahre älter! Aber das geht, denke ich, auch noch. Immer hin ist er schnieke. Während diesem kleinen Gespräch führe ich ihn in die Küche.
„Möchtest du was trinken?“
„Nein, danke. Das Haus ist sehr schön!“
„Danke. Aber gegen deinen Wagen kommt es nicht an.“ Wir beide müssen grinsen.
„Wahrscheinlich. Doch die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Und im Moment liegt das Haus in meinem Blick. Du… ähm, Linh kann erst um halb vier. Könnte ich solange bei dir bleiben?“
Ich fühle mich irgendwie wohl bei ihm. Als wären wir schon Jahre Freunde. Meine einstige Schüchternheit ist wie weggeblasen. Das
Grinsen auf meinen Lippen wollte nicht mehr fort. „Klar. Wir können auch in mein Zimmer gehen. Da ist es ein bisschen schöner.“
Wir gehen hintereinander die Treppe hinauf. Er ist hinter mir. Genau hinter mir. Marco reicht so verdammt gut! Nach Mann, nach Geborgenheit, nach: Egal was auch immer passiert, ich halte dich immer fest. Ich lasse nicht los!“
Der neue Kumpel macht es sich gleich bequem auf dem Sofa. Streckt die Beine lang von sich, ein Arm auf der oberen Lehne, den anderen auf seinem linken Bein. Mutig setze ich mich im Schneidersitz neben ihn. Vorderseite zu ihm gewandt, damit wir uns unterhalten können. Sein Blick schweift prüfend im Zimmer umher. Gefällt es ihm? Wenn nein, ergreift er die Flucht?
„Ein bisschen klein, aber du hast das Beste daraus gemacht. Es passt zu dir.“, findet er. „Also, ich fühl mich schon wie Zuhause.“
Ich werde ein klein wenig rot. „Find` ich toll, dass du dich hier wohlfühlst. Aber du hast bestimmt ein größeres Zimmer.“
„Jap. Das hab` ich. Wie viel Quadratmeter hat deins?“
„15m2.“
„Naja, meins hat 50m2. Und ein Fachmann hat es mir eingerichtet. Du weißt schon, Farbe ausgesucht, Möbel ausgesucht. Was halt so anfällt. Mit so etwas kenn ich mich gar nicht aus.“ Dabei muss er lachen. Ich grinse dazu: „Tja, manchmal ist es doch gut ein Mädel zu sein!“
„Gehst du noch zur Schule?“
„Ja. Gymnasium, hier in der Stadt. Linh ist da auch.“
„Stimmt. Hat sie schon mal erzähl. Mein Fehler. Seid ihr in einer Klasse?“
„Ne, sie ist ja ein halbes Jahr älter als ich. Linh ist eine über mir. Was machst du?“
„Ich bin leider noch in der Ausbildung.“
„Das habe ich mir auch schon gedacht!“ Dieses Mal lache ich.
„Als Kfz-Mechatroniker. Zum Glück bin ich in circa drei Monaten fertig und werde vom Betrieb übernommen.“
„Das ist sicher toll für dich!“ Die Freude in mir ist ehrlich. Marco spürt das. Ich glaube er hat ein gutes Gespür für Stimmungen und Gefühle.
„Ich habe mich auch riesig gefreut!“
Bis wir los müssen unterhalten wir uns noch über dieses und jenes. Ich fühle mich total wohl. Als würden wir uns schon ewig kennen! Und dann. Dann müssen wir los. Sein Auto. Ein Traum.
„Wie viel PS?“
„Knappe 635. Von Null auf Hundert in 4,6 Sekunden. Und wenn ich noch einen draufsetzen darf, er hat 10 Zylinder.“
„Welches Modell?“
„G-Power M6 Hurricane.“
„Geil. Wo wir gleich hinfahren, müssen wir da
über eine Autobahn?“
„Ein kleines Stück, ja.“ Plötzlich, als wenn ihm ein Licht aufginge, grinst er mich von der Seite an.
„Dann lass mal hören.“ Der macht einen Krach! Doch ich finde es cool. Ich liebe Autos. Vor allem große Autos.
„Wenn du jetzt noch sagst, dass du `ne Yamaha oder eine Harley zu Hause hast, dann wirst du mich leider nicht wieder los.“
„Wieso leider?“ Er lacht, ich lache.
„Ich habe tatsächlich eine Harley zu Hause! Eine Harley Davidson Deuce.“ Wir lachen. Heute ist ein guter Tag, schießt es mir durch den Kopf. Aber dann sehen wir Linh in ihrer Hofeinfahrt stehen. Sie sieht aus wie eine Eiskönigin. Unser lachen gefriert uns auf den Lippen. Kurz bevor wir da sind, will ich nach hinten krabbeln, um meiner besten Freundin platz neben ihrem Freund zu machen. Marcos Gesicht ist kalt, als er mich am Bein packt, auf
den Beifahrersitz zurück drückt. Neben ihn.
„Bleib ruhig sitzen.“, sagt er eisig. „Linh kann hinten sitzen.“ Plötzlich fühle ich mich mehr so gut. Die restliche Fahrt herrscht schweigen. Nicht mal als Marco mit 200 Sachen die Autobahn entlang brettert, löst sich die Spannung. Mir ist es unerträglich.
„Was hast du eigentlich mit uns vor?“, frage ich vorsichtig, während Marco den Wagen endlich parkt.
„Hatte eigentlich vor ins Kino zu gehen.“
Wir steigen aus. Von der Sonne ist immer noch nichts zu sehen. Es nieselt sogar ein bisschen. Linh quittiert diesen Umstand mit einem leisen: „Oh man, meine Frisur.“ Sie geht mit Marco Hand in Hand schnellen Schrittes Richtung Kino. Automatisch gehe ich einen Schritt hinter ihnen. Mir geht es miserabel. Ich glaube Marco spürt das. Deswegen dreht er sich auch so abrupt um.
„Hey, was ist los? Komm hark dich ein!“ So
marschiere ich einigermaßen glücklich an der linken Seite von Marco ins Kino. Leider gefällt uns allen dreien kein Film.
„Und jetzt?“, fragt Linh.
„Jetzt? Jetzt lade ich euch zum Essen ein.“
„Toll.“ Ironie. Pure Ironie. Sie ist wenige begeistert. Wahrscheinlich denkt sie wieder an ihre Figur. Doch ich finde es toll.
„Aber nur, wenn du zahlst.“, fange ich an ihn zu necken. Marco steigt ein.
„Ausnahmsweise. ‚Aber nur, weil du mein Bruder bist. ‘“, zitiert er die Klitschko-Milchschnitten Werbung. Die Spannung zersprengt mit unserem Lachen. Nur Linh lacht nicht. Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu, bei dem ich normalerweise zusammenzucke. Heute nicht. Heute bin ich mutig. Heute sind wir nicht alleine. Heute ist mein neuer Kumpel Marco bei mir.
„Ok, du Bruder. Dann mach` dich auf eine saftige Rechnung gefasst.“ Ich senke die
Stimme: „Ich weiß du hast das Geld.“
„Und ob!“ Er wirft sich in Pose. Klar, er spielt den Neureichen. „Natürlich dürfen Sie wählen, was Sie möchten, meine Dame.“ Schauspielerisch schaut er mich mit Augenklimpern an. Das wird Linh dann doch zu viel. Sie stößt Marco leicht mit dem Arm gegen die Rippen. Ihre Gefühle sind aber gerade alles andere als sanft, wie ihr Stoss. Dies zeigt mir ihr Gesicht. Es scheint nur aus Wut zu bestehen.
Bei mir platzt endlich der Knoten. Linh ist extrem eifersüchtig! Sie darf sich anscheinend alles erlauben, aber Marco nichts, gar nichts. Plötzlich fühle ich Ärger und Trotz in mir hochsteigen. Doch diese Gefühle kommen bei mir nie zum Durchbruch. Wie immer, aus Reflex, werde ich klein, ziehe mich zurück, löse meinen Arm aus Marcos. Das heißt, ich versuche es. Doch er klemmt ihn mir ein und wirft mir einen beschwörenden Blick zu. Ich weiß was das bedeuten soll. Aber ich will sie
nicht verärgern.
Noch weniger Marco. Also lass ich den Arm in seinem eingehakt. Sagen tu ich aber nichts mehr. Lieber untersuche ich meine Schuhe.
Schweigend gehen wir weiter.
Warum ist Linh nur so eifersüchtig? Ich versuche doch nur eine neue Freundschaft zur knüpfen! Außerdem war sie nie treu. In all den drei Jahren nicht. Sie hat es keinen Monat ohne Fremdgehen ausgehalten. Nicht einen. Dabei haben wir beide nur Scherze gemacht. Von Flirten kann gar keine Rede sein. Oder doch? War das für sie flirten? Immerhin kennt sie sich da besser mit aus, als ich. Vielleicht sollte ich jetzt lieber ruhig bleiben und…
Marco reißt mich aus dem Gedankengang, indem er ohne Vorwarnung stehen bleibt. Wir stehen von einem schicken und teuer aussehenden Restaurant.
„Da willst du mit uns rein?“ Mir bleibt fast die Spucke weg.
„Jap. Weißt du noch Linh? Hier waren wir bei unserem ersten Date.“ Oh man, denke ich, der will sie heute aber provozieren. Ohne Ende. Man nimmt niemanden mit zu seinem Ersten-Date-Restaurant. Zumindest nicht in dieser Stimmung. Das weiß sogar ich.
„So wie ich aussehe?“, werfe ich ein. Vielleicht ist noch etwas zu retten. In meinem gelben, mittlerweile angefeuchteten Wollpullover muss ich jämmerlich aussehen.
„Ich weiß gar nicht was du hast. Du siehst doch toll aus.“ Linh kocht bei diesem Kompliment ihres Freundes an mich fast vor Wut.
„Na gut. Du hast es so gewollt. Auf ins Gefecht!“, lache ich, aber nicht glücklich. Nur aufgesetzt. Um die Situation zu entspannen. Aber Marco steigt ein. Wie vorhin: „Also auf. Kanonen und Gewehre heraus, meine treuen Soldaten.“Â
Zwei Kronleuchter hellen den riesigen, in hellen brauntönen gehaltenen Speisesaal etwas auf. Sie
sehen aus, als wenn sie aus einem einzigen Glasdiamantenmeer bestünden. Trotzdem ist es seltsam dunkel und romantisch. Die Tische stehen mit zwei oder vier Stühlen in gemütlichen Nischen. Auf unserem Tisch steht noch eine kleine Lampe. Wahrscheinlich soll es eine Lilie darstellen. Witzig. Die leuchtende Lilie. Hört sich an wie ein spannender TV-Krimi.
Ein nett und adrett gekleideter Kellner bringt uns seine Speisekarten. Kein Blick verrät, was er über uns denkt, wo wir doch so nass sind. Versteht sein Fach. Geht darüber hinweg. Solange wir bezahlen und nicht allzu schlimm aussehen geht alles.
„Ich liebe die französische Küche. Was möchtest du essen und trinken?“ Marco sitzt mir gegenüber und sieht mich an.
„Keine Ahnung was das alles ist!“, flüstere ich. Er lächelt leise: „Dann bestell ich dir was leckeres.“
„Ok. Und was ist mit dir, Linh?“
„Weiß ich noch nicht. Bestell mir doch auch einfach was, Marco.“
Sie klimpert ihn an. Will verführerisch aussehen. Auf mich wirkt sie das erste Mal lächerlich. Ich kann es kaum glauben. Das erste Mal, dass ich schlecht über sie denke. Darüber erschrecke ich mich fürchterlich. Mein Herz setzt kurz aus. Was passiert heute mit mir? So darf das nicht sein! Linh ist doch meine perfekte, beste Freundin.
Marco bestellt irgendwas. Es hört sich sehr kompliziert an. Die Stimmung hat sich endlich ein bisschen gehoben. Liegt wohl an dem innigen Kuss, den Marco und Linh gerade austauschten. Wobei ich natürlich weggeschaut habe. Wie immer wenn sich ein Paar küsst. Weil ich mir selber so sehr jemanden wünsche. Schon lange. Egal.
Jenes Gericht, welches für mich bestimmt ist und sich so kompliziert anhörte, erweist sich als
überbackene Fischstückchen mit köstlichen Salzkartoffeln und Gemüse.
Der Nachmittag und Abend werden doch noch einigermaßen lustig. Wir drei amüsieren uns gut. Linh wirkt nicht mehr ganz so eisig und sauer. Marco und ich benehmen uns wie gute Kumpel. Machen ein Witz nach dem anderem. So wohl und gut und akzeptiert habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Der beste Tag seit langem.
 „Papi?“
„Hier bin ich.“ Ich finde ihn in der Küche. Er liest gerade Zeitung.
„Ich gehen ein bisschen raus.“
„Ja, mach das.“
Es ist schon etwas dunkel, aber nicht allzu sehr. Ganz automatisch gehe ich in Richtung Schaukel. In Richtung Ruhe.
Sobald ich darauf sitze, schwebe ich normalerweise sofort in meine Welt. Heute funktioniert es irgendwie nicht. Meine
Gedanken schweifen immer wieder zu Linh, Mel und Marco…
 … Gleich am nächsten Tag nach unserem fantastischen Essen hat sich Linh mit Mel getroffen. Am Abend erzählte sie mir am Telefon es wäre fast etwas passiert. Da hätte sie aber an Marco denken müssen. Also wäre dann doch nichts passiert. Jedenfalls nichts Schlimmes. Fast wollte ich danach schon bei Marco anrufen. Doch, wie durch Telepathie, rief er genau in diesem Augenblick bei mir an. Seine Stimme klang so sanft. Zögerlich fragte er wie es mir ginge. Gut. Ob ich am Freitagabend etwas vorhätte. Meine Gedanken flitzten umher. Freitag? Freitag? Wollte sich Linh da nicht wieder mit Mel treffen? Vielleicht sollte ich Marco so ablenken? Ich sagte ihm, ich hätte noch nichts vor. Dann könnte ich ihn doch zu einem Fußballturnier begleiten? Wusste gar nicht, dass er im Verein spielt. Jetzt wüsste ich es, komme ich? Ja klar. Hinterher noch was
essen mit den anderen? Warum nicht? Alles klar. Bis dann.
Und nun sitze ich da mit meinem Talent. Mit meiner Schüchternheit. Das Spiel war spannend. Leider verlor Marcos Mannschaft. Halb so schlimm, wenn man den weiteren Verlauf des Abend betrachtet. All diese Freunde von ihm waren so furchtbar nett zu mir. Auch ihre Freundinnen. Einfach, als würde ich dazu gehören. Diese blöde Schüchternheit! In meinem ganzen Leben haben sich nie so viele Leute auf einmal für mich interessiert. Sie fragten und fragten. Wollte gar nicht aufhören. Vor lauter Aufregung trat ich in ein Fettnäpfchen nach dem anderem. Stottern und falsche Aussprache waren noch die kleineren Übel.
Schließlich hatte das Interesse nachgelassen. Dankbar für die Ruhe zog ich mich in die Garderobe der Kneipe zurück. Nur ein kleiner Raum, aber für mich reichte es. Nach einer
gefühlten halben Stunde, jedoch eigentlich zwei Stunden, hörte ich Marco nach mir rufen. Irgendwie klang seine Stimme nicht mehr ruhig. Eher sauer und besorgt. Langsam kroch ich aus meinem Versteck. Nachdem er mich mit starker Hand ins Auto geschoben hatte, herrschte eisiges Schweigen. Nicht mal von seinen Freunden hatte er sich verabschiedet. Was hatte ich falsch gemacht? Kurz bevor wir bei mir Zuhause waren fragte er eisig: „Warum bist du einfach abgehauen? Ich hab‘ mir echt sorgen gemacht.“
„Entschuldigung. Das wollte ich nicht.“, antwortete ich kleinlaut. Im diesem Moment kam ich mir vor wie eine Maus.
„Warum will ich wissen.“
„Keine Ahnung.“
„Man versteckt sich nicht im kleinen Garderobenschrank einer Kneipe und weiß nicht warum. Verdammt Emilie, “, seine flache Hand landete laut auf dem Lenkrad, „die anderen
haben sich so viel Mühe gegeben. Weißt du das überhaupt? Ich hab‘ ihnen vorher gesagt, dass du ein bisschen schüchtern bist.“ Er schnaufte wie ein wütender Stier. „Du hast sie echt gekränkt. Weder hast du auf ihre Fragen geantwortet, noch dir irgendwie in anderer Hinsicht Mühe gegeben. Und dann bist du auf einmal weg gewesen. Weißt du wie ich mich gerade fühle? Und wie ich jetzt vor denen dastehe? Was mir bei weitem weniger ausmachen würde, wenn ich zumindest den Grund wüsste.“
Schweigend sah ich die Bäume an dem Auto vorbei fliegen. Wie, um Himmelswillen, sollte ich ihm das erklären, wenn ich es selbst nicht verstand? Er hat kein Wort mehr gesagt. Stumm brachte er mich nach Hause. Auch von mir hat er sich nicht verabschiedet. Angerufen hat er seitdem auch nicht mehr…
Â
… Weil es nicht klappt in meine Traumwelt zu
fliehen, stehe ich auf und laufe ich eine kleine Runde nach der anderen um meine Buche. Nach einiger Grübelei komme ich zu dem Schluss, der einzige Ausweg besteht darin ihn anzurufen und versuchen ihm zu erklären, was in mir vorgeht, wenn ich neue Leute kennenlernen soll. Das mir sogar Schlecht wird vor lauter Panik. Grund: Ich traue mich einfach nicht auf andere zuzugehen. Und wie soll ich ihm erklären, dass ich gestern nicht gut antworten konnte, weil mir, bildhaft dargestellt, ein kleiner Zwerg den Mund zuklebte? Warum ich unbedingt den Kobolden entkommen wollte, die mein Gehirn lähmten oder mich überall quälten? Will ich ihm das wirklich erzählen?
Schlagartig wird mir bewusst, dass ich über meinen Schatten springen muss, wenn ich zumindest diese neue Freundschaft retten und erhalten will. Muss diese Schranke lösen, meine Schüchternheit austricksen. Nur wie?
Langsam nehme ich den Hörer von unserem
Telefon in die Hand. Soll ich das wirklich tun? Die ganzen Schmerzen! Der Hörer knallt zurück auf den Apparat. Wo ist nur die Nummer? Ach ja. Oben auf meinem Glastisch. So, nun ist alles da. Mein Text, meine Einleitung. Damit ich weiß was ich sagen soll.
Also los: Hörer abnehmen. Nummer eintippen. Warten wer sich meldet. Und wenn nun…?
„Amira Radorn?“
„Sind Sie die Mutter von Marco?“ Blöde Frage! Lachen am anderen Ende der Leitung.
„Nein, seine Schwester. Mit wem habe ich den das Vergnügen zu sprechen?“
„Mein Name ist Emilie Alou.“
„Ach so, du bist das. Warte, ich gebe dir Marco.“
„Danke.“ Meine Stimme ist fast nur noch ein flüstern. Wie peinlich! Kurze Pause.
„Ja bitte?“
„Marco?“
„Was willst du?“
„Reden.“
„Stimmt. Eine Erklärung wäre nicht schlecht.“ Seine Stimme wendet sich gerade von Sauer zu Neugier und Verständnis. Besorgt fragt er nach: „Du hörst dich so leise an. Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja ja.“
„Warte mal kurz.“ Im Hintergrund sind ein paar Stimmen zu hören.
„Emilie, bist du noch da?“
„Ja.“
„Ich komme eben vorbei, ja?“
„Ok.“ Finde ich besser, anstatt durch das Telefon.
„Bis gleich.“
„Ja.“
Draußen ist es schon stockdunkel. Notdürftig räume ich noch mein Zimmer auf. Da klingelt schon. Auch der Kobold ist wieder da. Will er doch sein Geheimnis wahren. Er piekt mich in meinen Magen, trommelt gegen mein Herz. Jetzt
öffnet sich die Zimmertür, während ich auf dem Sofa mit geschlossenen Augen versuche ruhig zu bleiben. Ich spüre die Ruhe, die von Marco ausgeht, ins Zimmer strömen. Diese Sicherheit. Ein bisschen Neugierig ist er auch.
Meine Augen öffnen sich schlagartig. Nicht den Mut verlieren. Einfach drauflos plappern.
„Willst du dich nicht setzten?“ Marco setzt sich in den Sessel. Nicht zu mir aufs Sofa. Schaut mich nur an. Wie soll ich nur anfangen? Sein Oberkörper ist gespannt nah vorn gebeugt. Sie Ellenborgen lässig auf den Beinen aufgestützt, dabei sind die Arme überkreuzt. „Leg los.“, fordert er mich auf. „Also…“, will ich beginnen. Doch der Satz bleibt mir im Halse stecken. Koboldi findet es ganz lustig mir auf die Lunge zu drücken. Will dadurch mein Geständnis verhindern. Hilfesuchend schaue ich zu Marco. Der guckt nur zweifelnd zurück. Als wollte er gleich wieder fort. Mein Bewusstsein schwindet. ‚Verdammt! ‘, schreie ich den
Kobold an. ‚Lass mich in Ruhe.‘ Verblüfft mustert mich das hässliche Viech. Was ich denn wolle. ‚Du sollst mich in Ruhe lassen! Nur dieses eine Mal! Jetzt.‘ Ich bin überrascht. Er geht. Tatsächlich. Geht einfach weg. Dreht sich nicht mal mehr um. Plötzlich sehe ich Marco neben mir.
„Emilie?“
„Alles ok.“
„Du warst auf einmal so blass.“
„Alles in Ordnung. Wirklich.“ Schnell nehme ich seine Hand. Gegen den Kobold. Es durchzuckt mich, während ich auf unsere verschlungenen Hände schaue, aber ich beginne: „Also… Wie du sicher schon von Amy und Linh gehört hast, bin ich schüchtern. Aber nicht nur ein bisschen, wie du gestern sagtest. Bei mir ist es echt Extrem.“
„Wie meinst du das denn?“
„Zum Beispiel… zum Beispiel… etwas zu essen bestellen. Mir wird schon übel, wenn ich nur
daran denke bei McDonalds irgendwas zu essen bestellen soll. Oder mit Kinokarten an der Kasse zu kaufen, jemanden in der Stadt nach der Zeit fragen. Was ganz anderes: Als du mit mir bei Amys Geburtstag plötzlich einen Wodka-O trinken wolltest. Ich wusste nicht wie ich etwas sagen sollte!“
„Das glaub` ich nicht. Es ist doch nichts Schlimmes dabei mit jemanden was zu trinken oder was zu bestellen.“
„Für mich schon. Bei mir ist es so.“
In seinem Gesicht spiegeln sich Zweifel wider. „Dafür, dass dir immer so schlecht ist, warst du letztens, als wir zu dritt waren, ganz schön zutraulich.“
„Da war ja auch Linh dabei.“
„Und gestern. Warum bist du dann mitgekommen?“
„Ich dachte, ich schaffe das schon. Aber dann… sie waren so… es war einfach zu viel. Vor allem zu viele fremde Leute.“ Nachdenklich
schaute er auf unsere Hände. Schließlich entzieht er sich meiner Umklammerung. Stützt sein Kopf auf seiner Faust auf. Kurze Sekunden später schaut er mir wieder ins Gesicht. „Was hätte dir denn geholfen?“
„Nicht wirklich viel. Eigentlich gar nichts. Wenn du mich vielleicht so alleine gelassen hättest.“
„Mimi, wir waren Fußball spielen. Ist doch klar, dass ich da mitspiele!“
„Mach mir jetzt bitte keine Vorwürfe. Glaubst du, mit fällt es gerade leicht, dir das alles zu erzählen? Ich wollte einfach nur eine Freundin von dir werden und dich nicht gleich am Anfang enttäuschen. Vielleicht sogar wieder als Langweilerin gelten. Außerdem dachte ich halt, ich schaffe das schon. Irgendwie.“
„Scheiße.“, fluchte er laut.
„Was ist denn jetzt los?“ Vor schreck weiche ich kurz zurück.
„Linh hat extra gesagt, bei dir sei das alles
nicht so einfach mit neuen Leuten und ich soll ja auf dich aufpassen. Ich habe gedacht die will mich nur auf den Arm nehmen, weil sie mal wieder eifersüchtig ist. Hätte es besser wissen müssen.“ Vertraulich nimmt er mich als Entschuldigung in den Arm.
Marco riecht nach einem guten Aftershave. Und nach Geborgenheit, nach Zuverlässigkeit. Wie aus der Pistole geschossen sagen wir beide, es tue uns leid. Darüber müssen wir nach dieser ernsten Stimmung lachen. Jetzt weiß ich, alles ist wieder in Ordnung. Er weiß bescheid und versteht es sogar. Zumindest nach dem wir jetzt noch ein bisschen reden. Irgendwann, als er so ziemlich alles weiß, sagt er: „Auch wenn ich liebend gern länger bleiben würde, muss ich jetzt langsam mal nach Hause. Wir haben Besuch.“
Verblüfft bringe ich ihn noch zur Tür. Zum Abschied umarmt er mich noch mal. „Ich melde mich dann irgendwann.“
„Mach das.“
Ich bin froh, glücklich und verblüfft. Froh, dass es raus ist und Marco nun bescheid weiß. Glücklich, weil er mich versteht und mich umarmt hat. Verblüfft bin ich auch, denn er hat für mich seine Familie und den Besuch sitzen lassen. Ich dürfte das nicht.
In tiefer Euphorie schwebe ich lächelnd in die Küche. Heute gehe ich gleich ins Bett. Dieses Gefühl möchte ich nicht durch eine dumme Fernsehserie zerstören. Völlig zufrieden schlafe ich ein. Und träume, träume, träume.
Sonntag ist mein erklärter Lieblingstag in der Woche. Da stört mich niemand, denn alle sind beschäftigt. Entweder mit sich selbst oder mit ihren Familien. Ich habe ja nur noch meinen Papa.
Was mit meiner Mutter passiert ist weiß ich nicht. Papa will es mit nicht erzählen. Früher, als ich noch ganz klein war, habe ich ihn fast jeden Tag gefragt. Schnell merkte ich dann
aber, er war den ganzen restlichen Tag nur umso schlechter drauf. Also habe ich damit aufgehört. Wer will schon einen grantigen Vater haben? Und erinnern konnte ich mich so wie so nicht an sie. Mein Vater sieht bis heute keine andere Frau an. In unserer Wohnung gibt es auch nur von uns beiden Fotos.
Egal.
Â
Kapitel 3
Erste Stunde. Deutsch bei unserer Klassenlehrerin. Schon als ich in die Klasse reinkomme, merke ich eine komische Spannung in der Luft liegen. Irgendwas wird passieren. Dann kommt unsere Lehrerin. Sie geht die Liste durch wer da ist, wer nicht, wer die Hausaufgaben hat, wer nicht. Nach dieser Kontrolle fährt sie im Unterricht fort. Ihre blonden Haare sind wie immer streng nach hinten gekämmt. Auch wie immer setzt sie ihr richtiges Pokerface auf, mit dem sie in unserem Hufeisen umhergeht, um uns zu kontrollieren. Frau Nowak ist eigentlich so, wie man sich eine richtige Militärfrau aus einem Comic vorstellt. Witzig, nicht war?
Sie möchte etwas an der Tafel demonstrieren. Erst klappt sie die, von mir aus, linke Seite auf. Schon jetzt kann man eine Kuh erkennen.
Eindeutig mit meinem Gesicht. Jeder erkennt, dass ich diese Kuh sein soll. Unsere Lehrerin ignoriert diese, eigentlich hervorragende, Zeichnung und klappt die rechte Seite auf. Da steht etwas sehr Gemeines, sehr Fieses und Unglaubliches: „Emilie Alou ist genauso ekelig und dreckig wie eine Kuh.“
Erstarrung. Kein Muskel rührt sich in mir. Kann keine Gedanken fassen. Alles rast. Keine Tränen. Aber dann tue ich genau das, was sie wollen, was sie von mir erwarten. Was ich noch nie getan habe. Ich nehme meine Tasche und verlasse den Raum. Die Schule. Tonlos. Niemand hält mich auf. Niemand kommt mir hinterhergelaufen. Niemand zeigt irgendeine Rektion. Nicht mal unsere Klassenlehrerin.
Den nächsten Bus nach Hause nehme ich. Als ich zu Hause bin weiß ich nicht mehr was ich tun soll. Zuerst rufe ich bei Vater an. Heute soll er nur Linh abholen, sage ich seiner Sprechstundenhilfe. Sie ist freundlich am
Telefon. So wie zu allen anderen auch. Aber ich weiß, dass es nur aufgesetzt, gespielt ist. Das es nicht ehrlich ist. Nach dem Telefonat weiß ich erst recht nicht mehr was nun anzufangen ist. Zuhause ist niemand außer mir selbst. Keinen Laut höre ich. Nichts. Nur die undurchdringliche Stille. Das Bild eines Henkerseils steigt in mir hoch. Aber heute will ich nicht sterben. Nicht, wo ich gerade Marco kennengelernt habe.
Ohne wirklich nachzudenken bereite ich mir eine Fertighühnerbrühe zu, gehe in die Stube. Setze mich auf das kuschelige, braune Sofa und wickel mich in die Wolldecke ein. Noch nie war mir bis jetzt bewusst, wie man nach einem solchen Höhenflug wieder so tief fallen kann. Das schnurlose Telefon liegt neben mir, während ich den Fernseher einschalte. Beim Fern sehen muss man nicht nachdenken. Jedenfalls meistens. Deshalb schaue eigentlich wenig fern. Doch heute brauch ich das, einfach
nicht nachzudenken. Denn heute ist ein Notfall.
Plötzlich klingelt das Telefon. Völlig perplex drücke ich den grünen Knopf und führe es an mein linkes Ohr.
„Hallo Mimi?“
„Wer ist da, bitte?“ Ich kann nicht mehr. Meine Nerven sind völlig aufgerieben.
„Marco. Bist du in Ordnung?“
„Weiß ich nicht. Warum rufst du an?“
„Linh hat mir eine SMS geschickt. Du wärst einfach nach Hause gefahren und sie erreicht dich auf deinem Handy nicht. Ich will wissen was passiert ist.“
„Mir geht’s prima.“
„Wirklich?“
„Ja, ja. War nichts weiter. Nur ein Krampfanfall. Nichts weiter.“
„Das kann ich nicht glauben, Mimi. Irgendwas war los. Ich hörÂe doch an deiner Stimme, dass du gleich weinst. Was ist passiert?“ Ganz sanft. Oh Himmel, seine Stimme ist so sanft! Die
Tränen lassen sich kaum noch aufhalten.
„Nichts.“
„Jetzt höre ich wie du weinst.“
„Es ist wirklich nichts.“ Lass mich in Ruhe! Dir will ich jetzt bestimmt nicht alles erzählen. Doch Marco lässt nicht locker. Seine Stimme wird hart.
„Höre mal zu, Mimi. Du weinst. Linh schwärmt immer davon, dass du nie weinen würdest. Wie du das nur hinkriegen würdest. Da du es jetzt tust, ist irgendetwas gewesen. Das will ich jetzt wissen.“
„Es geht schon.“
„Scheiße, nein!“, wütend über meine Sturheit, schreit er fast. „Du rührst dich nicht von der Stelle. Ich bin in zehn Minuten bei dir. Hörst du?“
„Ja.“
Er legt auf. Ich drücke die rote Taste vom Telefon. Linh hat ihn alarmiert, schwirrt mir durch den Kopf. Ihr legt doch etwas an mir.
Sonst würde sie ihn nicht schicken. Schickt sie ihn überhaupt?
Kurze Zeit später klingelt es. Langsam pelle ich mich aus der Wolldecke und stehe auf. Mit dem Tempo einer Schnecke schleppe ich mich zur Tür. Kaum ist sie aufgeschlossen, drückt sich jemand ins Haus. Es ist Marco. Er nimmt mich stürmisch in die Arme.
„Alles in Ordnung?“
„Ja. Geht schon. Warum wolltest du eigentlich so dringend kommen?“
„Du scheinst ein bisschen durcheinander. Müde schaust du aus.“, meint mein neuester Kumpel, indem er mit seiner rechten Hand mein Kinn anhebt. Um mich besser betrachten zu können. Schläfrig beobachte ich ihn auch. Marco trägt einen Blaumann mit einem schwarzen T-Shirt drunter. Riecht nach Werkstatt. Mit diesen Gedanken schiebt er mich wieder ins Wohnzimmer. Dort sieht er meine Wolldecke.
„Komme her. Ich wickel dich ein.“ Bin ich aus
Porzellan und zerbreche ich gleich an dem Druck? Bin ich noch nie. Schön sanft. Seine Stimme. So sanft.
„Mach mir mal ein bisschen Platz.“ Er legt sich neben mich auf das kuschelige Sofa. Besser gesagt halb unter mich. Legt seinen Arm von hinten um mich rum, so dass ich mich unweigerlich an ihn kuscheln muss. Mein Kopf kommt dabei auf seinem Brustkorb zu liegen. Dicht bei seinem Hals. Aftershave, Körpergeruch steigt in meine empfindliche Nase. Es riecht nach: ‚ Egal was auch immer passiert, ich halte dich fest. Ich lasse nicht los! ‘
„Was ist passiert?“
„Nichts Tragisches. Bist du gleich von der Arbeit hierher?“
„Ja. Jetzt erzähl aber.“
Zögern meinerseits. Dann hohle ich ganz tief Luft. „Also, meine Klasse hat so eine Kuh gemalt - eine ganz hässliche - mit meinem
Gesicht - wirklich. Jeder konnte erkennen, dass ich das sein sollte.“ Das Schluchzen lässt sich kaum unterdrücken. „Daneben haben sie geschrieben - ich sei genau so ekelig und - und dreckig wie eine - eine Kuh!“ Heulen wie ein Schlosshund. Von mir. „Das war nicht das erste Mal - nicht das erste Mal, dass sie so etwas gemacht haben.“
Meine Tränen rollen unaufhaltsam auf seinen dunklen Blaumann. Kaum weiß ich, wie mir geschieht, heule und schreie und schüttele ich mich und schrei wieder. Hände schlagen auf Marco ein. Wie auf einen Boxsack. Marco reagiert mit sanftem Streicheln und summen von irgendeinem Kinderlied. Irgendein altes, das ich von irgendwoher kenne. Mama!
Langsam, ganz langsam werde ich wieder ruhig. Aber weinen tue ich immer noch. Die Tränen lassen sich einfach nicht zurückhalten. Ein bisschen zittere ich noch von der Anstrengung, während ich sein leises, tiefes brummen höre.
Sie erinnert mich an meinen Vater. Doch Marcos ist ein wenig tiefer und sanfter.
„Arme kleine Mimi.“ Er streichelt meinen Kopf, gibt mir einen kleinen Kuss auf die Haare. „Ich habe Linh mal zu dir ins Krankenhaus gefahren. Sie wollte mir nicht sagen was los war, irgendwie hätte sie es dir versprochen. Aber sie hat Andeutungen gemacht. War es deswegen?“ Leichtes nicken. Warum noch lügen?
„Wie lange geht das schon so?“
„Seit ich vor sieben Jahren in die Klasse kam.“
„Hattest du niemals Freunde dort?“
„Nein. Ich war viel zu schüchtern um jemanden anzusprechen.“
„Mhm.“ Viel mehr kann er ja auch nicht sagen. Aber es tut gut, dass er zuhört. Es tut sehr gut. Er streichelt immer noch mein Haar. Brummt immer noch das alte Kinderlied. Ich fühle mich so geborgen, ich schlafe sogar ein. Ein seltenes Phänomen bei einer fast fremden Person.
„Ach herrje!“, ruft Marco aus, als er später
wieder aufsteht, „Jetzt ist das Sofa ganz schmutzig. Blöder Gedanke, mit Blaumann hierher zu fahren.“
„Nicht schlimm. Ist nur eine Tagesdecke. Das geht, glaube ich, auch wieder raus.“
„Wirklich? Dann ist ja gut.“ Wir lächeln uns an. „Wie geht’s dir jetzt, du Siebenschläfer?“
„Besser, viel Besser.“
Mir fällt dieses Versprechen schwer, das ich Marco gerade gab. Bis jetzt habe ich Linh alles erzählt. Immer alles. Auch wenn ich mich hinterher manchmal darüber geärgert habe. Wahrscheinlich war es zu viel für sie, denke ich. Inzwischen wickel ich mich wieder in die schmutzige, kuschelige Wolldecke ein. Deswegen musste sie sich wohl auch immer irgendwo aussprechen. Eben bei Marco, weil Linh einfach keinen anderen hatte. Wegen dieser unbestreitbaren Tatsache weiß Marco auch so viel von mir. Die Wolldecke reicht immer noch nach ihm. Sie riecht noch nach
Geborgenheit, nach Vertrauen, nach: ‚ Egal was auch immer passiert, ich halte dich fest. Ich lasse nicht los! ‘ und ein bisschen nach Auto. Er kam ja auch geradewegs von der Arbeit zu mir. Nach dieser freudigen Feststellung schlafe ich wieder ein.
Um acht Uhr ist Papa wieder bei mir. Besorgt ist er. Man sieht es ihm an. Seine Stimmungen kann ich spüren und sehen.
„Was war da los? In der Schule, meine ich.“
„Nichts.“ Aufsetzten, sonst wird er böse.
„Doch. Umsonst fährst du nicht einfach nach Hause. Es war heute das erste Mal.“
„Für alles gibt es ein erstes Mal.“
„Erzähl doch einfach.“ Papa hat sich jetzt neben mich gesetzt. Auf das andere Sofa. Wie zum Gebet hat er seine Hände gefaltet.
„Ich mag nicht erzählen.“
„Du magst nie von der Schule reden. Nie. Alles andere erzählst du mir. Aber nie von der Schule. Diene Lehrer rufen oft an, es wäre
wieder etwas gewesen. Sie erzählen, deine Klassenkameraden mobben dich. Anscheinend wehrst du dich aber nicht. Warum wehrst du dich nicht? Zuhause bist du immer so stark. Und scheinst dich gar nicht um die anderen aus der Klasse zu kümmern. Deswegen war ich stolz auf dich. Weil ich dachte, du stehst über den Dingen und lässt dich nicht davon aufhalten deinen Weg zu gehen. Anscheinend habe ich mich da gründlich geirrt. Du wolltest nicht mal dem Psychiater letztes Jahr davon erzählen. Der hat doch Schweigepflicht. Wolltest du dich wegen der Klasse umbringen? Emilie?“
„Erstens schaffe ich das ganz gut alleine. Zweiten kann mir niemand helfen.“
„Es gibt verschiedene Lösungen.“ Bei diesen Worten sehe ich ihm in die Augen. Da macht er stotternd ein paar Vorschläge: „Man könnte mit den Lehrern reden – oder - oder man könnte - könnte die Klasse oder Schule wechseln.“
„Dann laufe ich weg. Doch ich will nicht
weglaufen. Nicht vor der Vergangenheit noch vor der Gegenwart. Und schon gar nicht vor der Zukunft.“
„Du hast recht. Das wäre feige und du bist nicht feige, sondern viel zu stolz um wegzulaufen.“
Aber heute bin ich weglaufen. Vor zwei Jahren wollte ich auch weglaufen. Zusammen mit der Erinnerung legt sich eine aschfahle Farbe auf sein Gesicht. Plötzlich sieht er alt aus. Mir wird bewusst, wie sehr ich ihn geschockt haben muss. Damals vor zwei Jahren. Vor drei Minuten hat er nicht einmal gewusst warum. Warum ich mich in Bad eingeschlossen habe. Weshalb ich mit aufgeschnittenen Pulsadern im warmen Wasser lag. Aber jetzt versteht er es. Immerhin ist er Psychiater. Erst jetzt, weil ich ihm vorher nichts habe merken lassen.
„Weshalb hast du nie was gesagt, Mimi?“
„Wollte dich nicht beunruhigen, Paps. Du hast doch genug mit deinem Job zu tun. Die Leute dort brauchen dich mehr als ich. Sie sind
krank.“
„Mensch Mimi. Ich bin dein Vater. Dein Papi. Meine Aufgabe ist es, mich um dich zu kümmern. Dazu bin ich da. Und das, weil ich dich liebe, Schatz.“
„Das weiß ich, Paps. Es war dumm von mir.“
„Das kannst du laut sagen.“ Er atmet laut aus. Klingt fast wie ein Seufzer.
„Von jetzt an werde ich dir immer alles erzählen. Auch von der Schule.“ Schon das zweite Versprechen heute. Ich weiß genau, ich werde es nicht halten. Aber es beruhigt meinen Papa. Das weiß ich. Um ihm die Angst zu nehmen, die er fühlt.
Â
Der nächste Tag ist schlimmer als der Gang durch die Hölle. Überall kichernde Zwölfklässler. Grüppchenweise stehen sie zusammen und besprechen ihren Erfolg vom Vortag. Selbst Linh hält den nötigen Abstand zu mir. Na, toll. Freilich war ich ja jetzt
Gelächtergrund Nummer eins. Sogar im Auto redet sie kaum zehn Worte mit mir. Heute ist es echt schlimm. Ab heute gebe ich endgültig die Hoffnung auf eine Verbesserung des Schulklimas auf. Leider. Jedoch geht es nicht anders.
Am Nachmittag bin ich richtig erschlagen. So schlimm war es in der Schule noch nie. Zum Glück hat Papa nichts gemerkt. Ihm konnte ich noch etwas vorspielen. Nachher im meinem Zimmer bin ich auf mein Sofa gefallen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Unvermittelt bimmelt mein Handy. Eine SMS. Von Marco. „Hey klene. Nachher treffen? 16 bei dir cu marco.“ Toll. In meiner miesen Stimmung will auch noch Marco kommen. „Ne, lass mal. Is heute net mein tag. Vll. wann anders. Lg mimi.“ Kurze Zeit später bimmelt mein Handy erneut. „Keine wiederrede möglich. Bin schon unterwegs. Marco.“ Dann muss er mich halt ertragen. Wenn er unbedingt will.
Bald darauf höre ich den großartigen Sound seines teuren Autos. Wie kann er sich das eigentlich leisten? Er ist doch erst in der Ausbildung! Ich beschließe ihn zu fragen. Bei ihm traue ich mich das. Komischerweise. Wie aus weiter ferne höre ich Papa die Haustüre öffnen. Offenbar verstehen sich die beiden schon jetzt ausgezeichnet. Trotzdem kommt Marco bald die Treppe hoch. Öffnet meine Zimmertür. Sieht mich elend auf dem Sofa liegen.
„So schlimm?“ Leichtes nicken. Bestürzung und Sorge sind ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Bedächtig nähert er sich dem Sofa. Kniet sich davor hin. Nimmt mich einfach in den Arm. Darin liege ich wie tot. Weinen, ich will nur weinen. Verzweifelt kralle ich mich meine Arme hinter seinem Nacken zusammen und drücke mich schluchzend an seinen Körper. Ich kann nicht mehr! Hilfe! Leise höre ich Marco brummen: „ Ist ja gut. Ich bin ja da. Ich
bin ja da.“ Fast unmerklich beruhige ich mich wieder. Kann schon bald lachen. „Monoman. Da kennen wir uns erst knapp elf Tage und schon heule ich dich an, als wenn wir Geschwister wären.“
„Find ich jetzt nicht so schlimm. Ich wäre gerne dein großer Bruder.“ Er lächelt auf mich hinunter. „Das ist eine sogenannte Blitzfreundschaft.“ Nun muss ich vollends lachen.
Marco packt mich in seinen heißen Flitzer ein. Mit unerlaubten Geschwindigkeiten rasen wir auf dem Weg in die Stadt auf der Autobahn dahin. Geschwindigkeit lässt mein Herz höher schlagen. Heute springt es mir fast aus der Brust. So schnell war ich noch nie in der Stadt. Wir haben nicht mal eine Viertelstunde gebraucht. Marco geht mit mir in ein Café. Es gibt Kuchen und Milchkaffee spendiert.
„Was ich dich noch fragen wollte, Marco: Wie kannst du dir als Azubi eigentlich eine solche
Kiste leisten? Beziehungsweise deine Eltern.“
„Mit meinem reichen Vater. Ganz einfach.“
„Wie jetzt?“
„Mein Vater ist ein erfolgreicher Händler. Daran lässt er die ganze Familie teilhaben. Amira und ich bekommen vielleicht kein Taschengeld, aber sobald wir irgendetwas haben wollen und es in einem bestimmten Rahmen liegt, bekommen wir es.“
„Und das kleine Ding liegt in diesem Rahmen?“ Ich muss grinsen.
Marco steckt sich ein Stück Kuchen in den Mund, grinst ebenfalls und nickt. „Letztes Jahr war ich dran. Dieses Jahr hat meine Schwester eine Reise nach Italien bezahlt bekommen, die sie bald antritt. Natürlich alles nur vom Besten. Vom Hotel bis zum Mietwagen.“
„Lass uns die Familien tauschen.“, schlage ich lachend vor.
„Keine Chance. Es ist sehr deprimierend als Mann von einer Frau ausgeführt zu werden. Und
das wäre mir als Mitglied deiner Familie sicher. Vergiss es.“
Marco und ich erleben noch einen sehr schönen Nachmittag. Ich bin froh, dass er gekommen ist.
Hinterher bringt er mich wieder nach Hause. Da gibt es etwas, was ich genau wissen möchte: „Marco?“, frage ich leise, als wir noch im Auto sitzen.
„Was ist denn?“
„Wir sind jetzt Kumpel, oder?“
„Ja, wir sind Freunde. Wieso fragst du?“
„In meiner Klasse konnte ich mir nie sicher sein, ob sie jetzt meine Freunde waren oder mich nur wieder veralbert haben.“
„Nein, Mimi. Ich bin dein Freund. Ganz ehrlich. Und ich bin stolz drauf.“
„Ok. Danke noch mal. Für alles.“
„Kein Problem. Dafür sind Freunde da. Bis bald.“
„Bis bald.“ Eine Umarmung gibt es auch noch. Gefühlt berühren meine Füße heute nicht mehr
den Boden. Schweben. Nichts anderes tue ich heute. Schweben, schweben, schweben.
Dieses Gefühl währt jedoch nicht lange. Leider. Kaum bin in mein Haus eingetreten klingelt das Haustelefon. Noch immer Glücklich flöte ich hinein: „Emilie Alou am Apparat, wie kann ich helfen?“ Richtig frech antwortet eine weiblich stimme: „Linh hier.“ Dann kann sie ihre Stimmung nicht mehr beherrschen. Sie wird richtig hysterisch. Schreit rum, sodass ich kein Wort verstehe.
„Ruhig Linh. Warum schreist du so?“
„Du Verräterin! Du dreckiges Miststück! Was willst du von Marco, he?“
„Was meinst du?“ Habe ich irgendetwas getan?
„Oho! Das weißt du ganz genau. Er war bei dir!“
„Ich kann nicht ganz folgen.“ Zu doll geflirtet? Tat ich das überhaupt?
„Komm einfach her. Sofort!“ Knack. Aus. Vorbei. Woher weiß sie das? Von mir nicht. Das
ist schon mal klar. Hat Marco vielleicht was gesagt? Um sie eifersüchtig zu machen? Nein, das kann nicht sein. Er hat mich ja darum gebeten nichts zu sagen. Ich fühle mich irgendwie müde und ausgelaugt. Hat das heute Morgen nicht schon gereicht? Wer könnte ihr das bloß erzählt haben?
Zögerlich gehe ich in mein Zimmer. Um mir noch mal mit der Bürste durch die Haare zu gehen. Sage danach kurz meinem Papi bescheid.
Auf der Fahrt zu Linh achte ich bewusst auf die schwarze Landschaft um mich herum. Damit ich nicht so schnell bei ihr bin. Alle Bäume waren letzten Monat noch voller grüner Blätter. Heute sehen sie kahl und trist aus. Irgendwie traurig und einsam. So wie ich jetzt. Zwar regnet es nicht, aber die ganze Umgebung ist schwarz in schwarz. Genau wie meine Stimmung.
Nach überaus kurzen fünf Minuten bin ich schon bei meiner besten Freundin angekommen. Ich will nicht hinein. Doch ich muss. Da ist
auch schon der Klingelknopf. Mechanisch betätige ich ihn. Für etwas anderes habe ich keinen Blick mehr. Linhs Mutter öffnet die Türe. Sie ist Vietnamesin. Nicht mal halb so hübsch wie ihre Tochter. Ihr Herz ist aber viel weicher und größer. Lächelnd bittet sie mich herein. Plötzlich fällt mir ein, ich weiß ihren Namen gar nicht. Bevor ich sie fragen kann, ruft Linh von hinten aus ihrem Zimmer: „Mutter, wer ist das?“
„Deine Freundin Emilie.“
„Sie soll herkommen.“
„Sie ist schon unterwegs.“
Erst mal ziehe ich die Schuhe und die Jacke aus. Wie es sich gehört. Dann gehe ich bedächtig nach hinten durch. Richtung Linh. Königlich sitzt sie in ihrem Plüsch-Rosa-Himmelbett, welches genau gegenüber der Tür steht. Man könnte sie in diesem Augenblick mit Cleopatra verwechseln. Linhs Arme sind anmutig zu beiden Seiten weggestreckt. Und das
rechte Bein ist leicht angewinkelt. Wie Königin Cleopatra in ihren besten Zeiten. Links von mir kann ich Marco entdecken. Daneben sitzt auch noch ein junger Mann. Irgendwo habe ich den schon einmal gesehen.
„Du hast lange gebraucht.“, zischt mich ihre königliche Hoheit an.
„Jawohl.“ Augenblicklich komme ich mir wie eine dreckige, unwürdige Dienerin vor.
„Du weiß worum es geht?“
„Nein.“
„Nun, dann will ich dir auf die Sprünge helfen. Marco Radorn, der zu diesem Zeitpunkt noch mein fester Freund war, soll gestern Nachmittag, nachdem du so glamourös die Schule verlassen hast, bei dir gewesen sein. Ist das Korrekt?“
„Ich dachte, du hättest ihn geschickt, um sehen, wie es mir geht.“ Heute trage ich blaue Socken.Â
„Und heute war er schon wieder bei dir?“
„Ja.“
„Aha, was ist passiert?“
„Was soll denn passiert sein?“ Glaubt sie wirklich, ich bin so eine?
„Lüg mich nicht an!“ Sie schreit, verliert ihre würdevolle Haltung.
„Er hat sich nur Sorgen um mich gemacht.“
„Warum sollte man sich um dich Sorgen machen?“ Linhs Stimme klingt höhnisch. In mir gefriert jegliche Gegenwehr, die eben hochsteigen wollte. Tränen lassen sich nach diesen Worten kaum auf mein gutes Zureden, doch bitte nicht zu erscheinen, ein. Tapfer sein, Mimi! Meine Stimme versagt. Warum tut sie mir so etwas an?
„Und in den letzten Tagen? Sind die auch aus deinem Gedächtnis entschwunden?“
„Nein.“
„Ich höre.“
„Wir waren doch nur Fußball spielen.“
„Ansonsten hast du nur Zuhause gesessen? Vielleicht gelernt, he? Sag‘ bloß die Wahrheit.“
„Ja, das habe ich.“
„Aha. Da hast du es.“
„Was habe ich?“
„Du sagst nicht die Wahrheit. Du kleine Hure!“
„Hure?“
„Ja, Hure. Oder willst du mir weiß machen, es sei nichts gelaufen? Du seiest wirklich nur zu Hause gesessen?“
In diesem Augenblick schaltet sich Marco ein: „Es reicht Linh. Nichts ist passiert. Rein gar nichts. So eine Anschuldigung muss Mimi sich nicht gefallen lassen.“ Schützend stellt er sich vor meine gebeugte Gestalt. Wie im Film!
„Mimi?“, fragt Linh ungläubig.
„Jawohl. Mimi. Inzwischen sind wir nämlich gute Freunde geworden. Was willst du eigentlich von ihr? Sie ist die beste Freundin, die du dir nur wünschen kannst. Wie oft musste sie dich verteidigen, Linh? Wie oft? Wie oft musste sie deine Launen ertragen? Hat sie sich irgendwann mal beklagt? Irgendwann
gemeckert? Oder gab es mal Streit bei euch? Ich frage dich noch mal: Was willst du von ihr?“ Gegen ihre Aufregung ist seine Stimme ganz ruhig. Innen drinnen muss aber ein Sturm herrschen. Er sollte Redner werden.
„Sie soll endlich zugeben, dass du mich mit ihr betrogen hast, wenn du es schon nicht zugibst!“ Linh schreit es hysterisch. Da sehe ich diesen Jungen zu ihr aufs Bett huschen. Zwar weiß ich nicht wie er sie beruhigt, denn Marco steht immer noch vor mir, aber er schafft es. Sie wird leiser. Marco ist geschockt: „Was bitte? Das ich dich betrogen hätte? Du bist doch völlig durch geknallt. Linh, ich liebe dich. Wie könnte ich dich da betrügen? Überhaupt mit deiner besten Freundin?“
„Emilie!“, säuselt mir Linh zu, „Komm doch mal aus deinem Versteck raus.“ Schwerfällig gehe ich einen Schritt vor und versuch ihre tapfer in die Augen zu schauen. „Weiß du, was ich jetzt machen werde? Ich kündige dir die
Freundschaft, genau wie vorher Marco.“ Freundlich und mit völliger Ruhe sagt sie das. Wie Papas Sprechstundenhilfe. „Ich habe dich nie wirklich gemocht. Wie du siehst, bin ich eine genauso gute Schauspielerin wie du. Und jetzt raus hier!“ Schlagartig lösen sich meine Gefühle von meinem Verstand. „Nimm es nicht so tragisch. Irgendjemand braucht bestimmt so ein Streberlieschen und Spießerin als Freundin.“
Zitternd kann ich meinen Tränen keinen Einhalt mehr gebieten. Linh hat mir den letzten Halt in dieser Situation genommen. Spießerin, Streberin hat sie mich genannt. Ich muss mich setzten. Heulend, zitternd, keuchend knie ich auf dem Boden. Meine Hände lege ich vor mein Gesicht. Bei mir geht gar nichts mehr. Kein Muskel will mir gehorchen.
„Also sind wir drei ab heute geschiedene Leute?“, höre ich Marcos eisige Stimme.
„Mit euch bin ich fertig.“, kommt es als
Antwort.
Ohne ein weiteres Wort hebt er mich auf und trägt mich nach draußen in sein Auto. Er ist mit seinem G-Power unterwegs. Während ich immer noch fassungslos vor mich hin starre bringt er es irgendwie fertig mein Fahrrad in sein Auto zu quetschen.
Mit einem: „Wir schaffen das schon.“ trägt er mich in mein Bett. Marco hat wohl meinen Vater angerufen, damit der mein Sofa fertig macht. Unten in der Küche höre ich die beiden erzählen. Ich weiß genau, dass Marco meinem Papi jetzt erzählt was passiert ist. Schnell flüchtet sich mein Verstand in einen schwarzen Schlaf. Nichts mehr wissen, von diesen Gemeinheiten gegen mich.
Â
Kapitel 4
Ich sitze inmitten von weißen, kleinen, tanzenden Männchen. Sie tanzen um mich herum. Pieken mich im Gesicht, weil sie wollen, dass ich mit tanze. Dass ich mich mit ihnen drehe und herumwirble. Aber heute habe ich keine Lust. Lieber schaue ich zu, wie von oben immer neue Männchen herunter schweben, ihren Tanz aufführen, mich mitreißen wollen und schließlich auf dem Boden einschlafen. Als wäre nie etwas geschehen.
Meine Gedanken schwirren um die Klasse. Wie kann ich bloß ihrem offenen Kampf entgehen? Oder noch besser, ihm etwas entgegensetzten? Seit dem Kuh-Angriff vor zwei Wochen wurde es immer schlimmer. Öffentliche Beleidigungen sind seitdem an der Tagesordnung. Dabei erzähle ich meinem Vater nichts von all dem.
Die Geschichte von der Entschuldigung jeden einzelnen Schülers hat Papa zu gut gefallen. Diese Lüge hat ihn ungemein beruhigt. Eigentlich sollte ich ihm alles erzählen. Das weiß ich. Er hat aber so viele eigene Sorgen. Abends höre ich ihn manchmal mit Mama sprechen. Dann nimmt er irgendwo her ein Foto und küsst es. Neuigkeiten und seine eigenen Sorgen erzählt er dem Foto. Deswegen weiß ich so genau was ihn bedrückt. Das heißt nicht, dass ich ihn belauschen will. Nur, sein Zimmer liegt genau neben meinem. Und wir beide lassen unsere Türen einen Spalt offen. Wegen dem Flurlicht.
Meine Gedanken wandern weiter. Zu Marco. Seit zwei Wochen, genau zwei Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Angerufen hat er auch nicht. Wenn ich ihn anrufe wollte, war immer nur die Schwester dran. Marco sei nicht erreichbar, sagte sie dann. Ich habe Angst, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Keine
Ahnung, warum er das nicht mehr wollen sollte, aber ich habe Angst davor. Immer hin hat er sich schein seit zwei Wochen nicht mehr gemeldet. Vielleicht erinnere ich ihn zu sehr an seine Zeit mit Linh. Oder er hat sich wieder mit Linh vertragen und schämt sich nun, mir beigestanden zu haben. Könnte auch sein, er findet mich nicht mehr so toll. Wahrscheinlich hofft er, ich rufe nicht mehr an. Das wäre sehr wahrscheinlich. Im Moment mag mich so wie so kein Mensch.
Plötzlich knirscht es hinter mir. Ich weiß, dass jemand hinter mir steht. Aber ich traue mich nicht mich umzudrehen. Mit ruckartig geschlossenen Augen sitze ich da. Was hinter mir ist, wollen sie nicht sehen. Dann pressen sie sich zusammen.
„Hey Kleine.“ Es ist eine Frauenstimme. Nicht Linhs. Eine andere. Nun doch neugierig und verwundert, drehe ich mich um. Amy steht vor mir. Ihre braunen, mittellangen Haare trägt sie
offen. Einzelne Schneeflocken haben sich darin verfangen.
„Hi.“, sage ich, „Was machst du hier?“
„Ich wollte mal nach dir sehen. In der Schule läufst du an uns allen vorbei, als wären wir Luft. Ist irgendwas los? Haben wir was falsch gemacht?“
„Nein, nein. Ihr nicht.“
„Wer denn?“ Auf einmal interessieren sich auch die Schneezwerge wieder für mich. Es scheint mir, sie fallen langsamer in den ewigen Schlaf. Um Amy und mir zu zuhören.
„Weißt du das denn nicht? Meine Klasse hat mir sozusagen den totalen Krieg erklärt. Immerzu beleidigen sie mich und spielen mir üble Streiche. Es ist nicht mehr zu übersehen, geschweige denn gar zu ignorieren.“
„Ich habe so was in der Richtung gehört, konnte aber nicht glauben. So was sollte dir passieren?“
„Warum sollte es mir nicht passieren? Schau,
wir beide kennen uns erst ein halbes Jahr. Was willst du da von mir schon wissen? Ich mag dich Amy, wirklich. Aber Linh musste dich erst überreden mich zu deiner Party einzuladen.“ Sie schaut mich überrascht an.
„Das hat Linh dir gesagt?“
„Linh hat gar nichts gesagt.“, gebe ich zögerlich zu.
„Ach herrje, Mimi.“, lacht Amy. Sie hat eine schöne, wärmende Art zu Lachen. Am liebsten würde man sofort mit lachen. „Du denkst zu viel über die Gründe mancher Verhaltensweisen nach, Darling. Es stimmt, vielleicht habe ich mich auf der Party zu wenig um dich gekümmert.“, ihre Hand legt sich leicht auf meine Schulter, „Aber das heißt noch lange, bei weitem nicht, ich hätte dich nicht mindestens genau so gerne wie die anderen. Manchmal bist du mir sogar lieber als Abdullah. Du weiß was er mir bedeutet. Du bist immer so lieb, rücksichtsvoll und weißt genau wie du andere
trösten kannst.“ Lächelnd zieht sie mich von der Schaukel und nimmt mich in den Arm. „Nur dich selber kannst du nicht beruhigen. So. Jetzt gehen wir ins Haus und trinken einen heißen Kakao, sonst erfriere ich.“
Arm in Arm laufen wir durch die weißen Männchen auf mein rauchendes Haus zu.
Mittlerweile habe ich die Türe aufgemacht. Uns trifft fast der Hitzschlag. Papi hat während ich mit Amy draußen war den Ofen in der Stube angemacht. Bibbernd und aus vollem Halse lachend stellen wir fest, dass Papa uns die Schuhe und Jacken ausziehen muss. Unsere Finger können wir nicht mehr normal bewegen. Von dem schnellen Temperaturwechsel sind sie ganz taub geworden.
Mein herzallerliebster Vater bringt uns den heißen Kakao in mein Zimmer, wo wir schon sehnsüchtig warten.
„Danke, Papi.“
„Danke, Herr Alou.“
„Kein Ding, ihr beiden. Viel Spaß noch.“
Nach dem sich die Türe leise geschlossen hat, kommt Amy auf den Grund zurück, aus dem sie hier ist: „Sage mal, ich habe gehört, dass du dich mit Linh gestritten hättest. Was ist denn da dran?“
Gespannt warte ich eine Sekunde. Ob mir schlecht wird oder sonst irgendetwas passiert. Nichts. Infolgedessen erzähle ich meiner neugewonnenen Freundin alles was geschehen ist vor zwei Wochen. Weder verschweige ich den Zwischenfall in der Schule, meine Reaktion darauf noch wie Marco dann zu mir kam und mich tröstete. Auch nicht wie Linh mir und Marco die Freundschaft kündigte. Obwohl es ja genauer gesagt zwei verschiedene Freundschaftsarten waren. Schon wieder die Zwei.
Jetzt kommt mir das alles so kindisch und peinlich vor, seitdem ich es ihr erzählt habe. Andererseits bin ich auch erleichtert. Während
ich noch in meinen neuartigen Gefühlen versunken bin, sagt Amy: „Ich glaube, du magst Linh immer noch.“
„Wieso sagst du das? Natürlich mag ich sie nicht mehr.“ Oder vielleicht doch? Woher soll ich das so bald danach wissen?
„Du hast mir das alles so sachlich erzählt. Ohne jegliche Wut, Hass oder Liebe. Als würdest du einem Vorgesetzten Bericht erstatten, aber nicht, als würdest du einer Freundin dein Leid klagen.“
„Entschuldigung.“
„Quatsch. Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen!“
„Entschuldigung, wenn es so rüber kommt. Es ist für mich nicht so einfach Menschen zu vertrauen.“
„Also denkst du ich würde gleich danach zu Linh laufen und ihr erzählen, wie du über sie gelästert hast und was für eine Schlampe du doch bist?“ Ungläubig starrt sie mich an. „So
denkst du von mir, Emilie? So? Wirklich?“
„Nein, nein Amy. Das ist alles nur so reflexartig. Dieses ganze Misstrauen, diese Vorsicht anderen gegenüber ist mir schon zur zweiten Natur geworden. In der Schule hatte ich nur Linh. Sie hat mich immer nur benutzt und hintergangen, wie ich jetzt weiß. Nicht, dass ich das nicht schon vorher bemerkt hätte. Ich wollte es nur nicht wahr haben.“ In der Erregung springe ich auf und gehe umher. „Es lief mir kalt den Rücken runter, wenn ich nur so etwas in Erwägung zog. Nie hätte ich es mir selber eingestanden, hätte nie von selber dran geglaubt. Sie war doch alles für mich! Meine einzige und bis dato beste Freundin belügt und betrügt mich seit zwölf Jahren. Zwölf Jahre lang! Die ganze Zeit über behandelte sie mich wie einen runzeligen Lakai, den sie rumscheuchte wie ein Huhn. Und das habe ich mir ja auch gefallen lassen. Nie und nimmer hätte ich mir so etwas freiwillig eingestehen
können. Wo ich doch sowie so immer so wenig von mir selber halte. Dann passiert mir nicht besseres als diese – milde ausgedrückt – rücksichtslose Klasse. Anstatt verstehen zu wollen warum, wieso und weshalb ich vielleicht so ungesprächig bin, werde ich gleich als Dreckskuh, Schlampe und hochmütige Hure beschimpft. Ja und das ist noch lange nicht alles, nicht der Gipfel des Berges, nein. Die Klasse meint auch noch den Vollzugsherrn eines höheren Richtspruch machen zu müssen und spielt mir üble Kinderstreiche. Sie taten Kleber auf meinen Stuhl, ja, lach ruhig, schwärzten mich bei den Lehrern an, die ihnen zum Glück nicht glaubten und sie - sie malten hässliche, ekelige, demütigende Bilder auf die Tafel mit witzig-spritzig-beleidigenden Sätzen und Sprüchen. Und das die letzten sieben Jahre. Zwischendurch war ich mal mit einigen gut befreundet. Aber kurz darauf wurde ich wieder hintergangen. Ein ständiges hin und her der
Freundschaf und des Verrates. Als wäre ich in einem schlechten Roman und so etwas geraten. Ich weiß nicht mehr wo mir der Kopf steht, wem ich noch vertrauen kann und wem nicht. Deswegen sitze ich während den Pausen auf der Mädchentoilette und hoffe das niemand sie kontrolliert, dass ist mir nämlich auch schon passiert. Furchtbar peinlich war das. Vor einem halben Jahr kamst du dann dahergelaufen, hast mein Misstrauen in fast tausend Windes zerstreut und sagst mir heute, ich wäre dir manchmal wichtiger als dein fester Freund.
Und dann vor drei Wochen Marco. Der Freund von meiner besten Freundin lässt meinen inneren, verzweifelten Kobold erst gar nicht an die Oberfläche kommen. Vorher kommt er mal eben so vorbei, als wären wir seit Jahren durch eine tiefe Freundschaft miteinander verbunden, nachdem ich in der Schule das erste Mal so extrem gehänselt wurde, dass ich nach Hause gelaufen bin und tröstet mich. Vor zwei
Wochen, als wir uns zum letzten Mal sahen bei Linh, bezeichnete er mich als eine gute Freundin. Überleg mal! Nach nur einer Woche! Dabei wäre es ihm ein leichtes gewesen mich zu verleugnen und sich mit Linh wieder gut zu stellen. Er hätte sie wieder haben können. Ich wette mit dir, er hätte, wenn er es wollte. Doch stattdessen hält er zu mir. Marco hätte sie wieder haben können und hat mich genommen. So viele Freunde, nämlich im Moment genau zwei, hatte ich noch nie. Dabei weiß ich gar nicht, ob Marco und ich noch befreundet sind. Seit zwei Wochen höre ich keinen Ton mehr von ihm.“
Erschöpft falle ich in den Sessel und atme ein paar Mal tief durch. Jetzt weiß sie alles. Oh nein! Alles! Mimi, was hast du getan? Was wird sie jetzt machen?
„Wow!“, entfährt es ihr, „Das habe ich alles nicht gewusst. Ich hätte nie gedacht, dass du dich so fühlst. Kein Wunder, wenn du so viele
Komplexe hast und so schüchtern bist.“
„Schüchtern war ich schon immer.“
„Aber bestimmt nicht so extrem. Los, bevor deine Stimme versagt solltest du deinen Kakao trinken.“
Auf diesen Befehl hin trinke ich die ganze Tasse leer. Bis auf den Grund. Schlagartig wird mir bewusst was ich gerade tat. Ich, Emilie Alou, ich habe den Kobold in mir überwunden und Amy alles von mir erzählt. Genau wie Marco. Und genau so gut tat es. Mein Körper fühlt sich so leicht an, als würde er gleich abheben. Amy sieht mich noch etwas geschockt an. Aber jetzt kann ich schon wieder lächeln. Gegen meine sonstige Natur nehme ich sie spontan in die Arme.
„Sag mal, dein Zimmer sieht echt hammer aus.“
„Danke.“ Das Blut schießt mir in den Kopf.
„Wieder ein schöner Tag. Na ja, zumindest einigermaßen.“
„Das finde ich auch. Marco hat sich also seit
zwei Wochen nicht mehr gemeldet?“
„Nein, leider nicht.“
„Vielleicht braucht er ein bisschen Zeit und Abstand, um das alles was passiert ist zu verarbeiten.“
„Ja, wahrscheinlich.“ Ein tiefer Seufzer. „Hoffentlich habe ich ihn nicht vergrault mit der Horrorgeschichte von der Schule.“
„Ach, dass glaube ich nicht.“
 „Gestern wurde es noch ein schöner Abend.“, erzähle ich meinem Papi beim Frühstück. „Wir, also Amy und ich, haben uns noch für Mittwoch verabredet. Shoppen, weißt du? Könntest du…?“
„Klar, mein Schatz. Ich gebe dir das Geld dann am Mittwoch, ja?“
„Passt schon.“
„Schade, dass du dich mit Linh zerstritten hast. Ich mochte sie.“
„Ja, ich finde es auch schade. Aber ich habe mir fest vorgenommen diese Mal nicht angekrochen zu kommen.“
„Kann ich verstehen. Na dann. Auf ins Auto. Ab in die Schule und ins Büro.“
Ein kleines bisschen, nein, Korrektur, ein großes Bisschen wird mir schlecht. Ich hatte es ja schon erzählt. Seit die Klasse die Kuh gemalt hatte, ist es kaum noch auszuhalten. Jeder Satz wird als Aufhänger für einen blöden Spruch gegen mich genommen. Die Pausen sind noch schlimmer. Der gesamte zwölfte Jahrgang macht mich fertig. Psychoterror nennt man so etwas. Sie stehen grüppchenweise in der Pausenhalle zusammen und werfen mir bezeichnende Blicke zu oder deuteten mit dem Finger auf mich. Wie soll man sich gegen so etwas wehren? Es ist hoffnungslos.
Zum Glück sieht mich niemand auf der Toilette.
Auf dem Weg zur Schule beobachte ich einen Mäusebussard. Kreisend bewegt er sich über einen kahlen Acker. Blitzartig schießt er in die Tiefe auf einen kleinen Punkt zu. Seine Beute ist nur für ihn sichtbar. Mit seiner Geduld und
einzigartigen Flugtechnik hat er lange auf sein Opfer gewartet. Das Opfer wird irgendwann unvorsichtig. Auf diesen Augenblick wartet der Jäger. So wie jetzt. Triumphierend begibt er sich wieder in die Höhe auf einen Ast um seine Mahlzeit zu halten. Tiere sind faszinierend, finde ich. Vor allem Raubtiere. Später möchte ich mal einen richtigen Adler in freier Wildbahn beim Jagen beobachten. Oder einen Geparden in Afrika. Manchmal wünsche ich, solch ein Jäger sein zu können. Keine Gejagte mehr.
Inzwischen sind wir in auch schon beim Gymnasium angekommen. Das Gymnasium ist eigentlich nur ein roter, rautenförmiger Kasten, mit zwei Ein- und Ausgängen an jeder Seite und jeder Menge Fenster, Klassen- und Fachräumen. Den Pausenhof schmücken einzig zwei graue und alte Tischtennisplatten. Nur in der Pausenhalle zieren einige Zeichnungen von Schülern die Wände. Alle Klassenräume sehen gleich aus, von Größe und Aufteilung. Wir
dürfen keine Gardinen, Bilder oder Geographiekarten aufhängen. Deswegen sind sie alle grau und öde.
Amy wartet am Nordeingang auf mich. Während wir reingehen, fragt sie gespannt: „Hast du dir den Vorschlag überlegt?“
„Ja.“
„Und?“
„Kenne ich denn ein paar Leute aus deiner Clique?“
„Natürlich. Abdullah wird da sein.“, erklärt sie mir. Inzwischen gehen wir die Treppe hinauf. „Außerdem noch Milla. Kennst du noch vom Bohlen und der Party.“
„Ja. Ja, der Name sagt mir was.“
„Alles klar, ich muss jetzt hier lang. Wir treffen uns beim Schotti?“
„Ok. Bis dann.“
Mit Schotti ist ein Bild mit einer davor gestellten Sitzgelegenheit in der Pausenhalle gemeint. Ãœbrigens auch die einzige in der
Pausenhalle. Das Bild zeigt einen Bernadiner und einen Berg im Hintergrund. Ein kleines Mädchen, einige meinen es sei Heidi, spielt mit einem Ball.
Vor ungefähr drei Jahren malte dieses Bild ein Physiklehrer mit seiner Klasse aus der Oberstufe. Sein Name war Schothofwski. Letztes Jahr kam ein Mathelehrer, der auch Werken unterrichtet, auf die Idee dort noch Sitzkisten hinzustellen. Man nannte diese Ecke eigentlich nur „Sitze“. Aber in diesem Sommer, in der Ansprache für die neuen kleinen Schüler, passierte unserem lieben Herrn Direktor ein Versprecher. Anstatt dem geplanten Satz: „Wir danken Herrn Schothofwski und Herrn So und So die wunderschöne Sitzgelegenheit am Südeingang.“, plauderte er den geheimen Spitznamen jenes ehemaligen Physiklehrers aus und der lautete eben Schotti. Das fanden alle so komisch, dass man diesen beliebten Platz in Schotti umtaufte.
Dort saßen immer die Coolsten aus der Oberstufe, also aus der Zwölften und Dreizehnten. Jetzt sollte ich auch dort sitzen!
Viele Gerüchte sind in Umlauf. Manche meinen man bräuchte eine persönliche Einladung, manchmal sogar eine schriftliche Erlaubnis eines Schülers aus dieser Clique, um sich zu ihnen setzten zu dürfen. Viele sagen, diese Schüler dort seien Streber, hätten nur Einsen und ihnen werde daher der Platz dort von den Lehrern reserviert. Andere wiederum sind der Meinung, dort säßen nur die Coolsten der Obercoolen, die würden sich den Platz selber durch Schläge frei machen.
Natürlich ist das alles totaler Blödsinn. Nur vor lauter Angst wegen dieser Gerüchte und aus Respekt vor der Coolness traut sich keiner der anderen Schüler diese Leute auch nur anzusprechen.
Die ersten beiden Schulstunden und die fünf Minuten Pausen sind der reinste Spießrutenlauf.
Schon längst habe ich aufgegeben auf die Sprüche einen Konter zu setzen, zumal meine Gegenreden immer schon im Keim erstickt wurden und sie auch nicht all zu toll waren. Längst versuche ich mich nicht mehr zu wehren. Eine gewisse Hoffnungslosigkeit hat sich in mir breitgemacht, während ich im Erdkundeunterricht den Worten von Frau Lother meine restliche Aufmerksamkeit schenke.
Linh wird auch beim Schotti sitzen. Das hat sie schon die letzten zwei Wochen getan. Wahrscheinlich mault sie mich an, verdrängt mich von den Plätzen. Und niemand wird mir helfen. Sie werden mich im Stich lassen, Amy, Abdullah, Milla. Die Anderen werden sich noch halbtot lachen, weil ich dem nichts entgegensetzen kann. Dann wird auch die Zwölfte wieder über mich lachen. Der Kobold auch. Er, der in mir ist. Er wird lachen und sagen, er hätte recht gehabt. Ach, wenn es ihn doch bloß nicht geben würde.
Schon ist die Pause da. Plus meine Magenschmerzen. Ausgelöst von dem Kobold. Zaghaft gehe ich die Treppe zur Pausenhalle hinunter. Seit langem das erste Mal wieder. Unten angekommen sehe ich auch schon Amy mit ihren Leuten am Schotti sitzen. Langsam bahne ich mir einen Weg zu ihnen durch. Abrupt hören meine Füße auf sich zu bewegen. Meine ehemalige beste Freundin Linh unterhält sich angeregt mit Amy und Abdullah. Ich bleibe stehen und beobachte diese ziemlich freundschaftliche Szene. Gerade als ich mich umdrehen will, um in die andere Richtung zu laufen, entdeckt mich Amy. Sie versucht mir zu winken, doch das sehe ich schon fast nicht mehr. Verzweifelt drehe ich mich noch einmal kurz um, da sehe ich Amy auf mich zulaufen. Auch sie hat bemerkt, dass ich sie jetzt sehen muss. Trotz der Schläge meines imaginären Kobolds gehe ich weiter in die Richtung von Amy.
„Hallo Kleine.“ Sie nimmt mich in die Arme. Bussi links, bussi rechts. „ Na komm. Da sitzen Abdullah und Milla.“
„Mhm.“
Amy errät sofort was ich meine: „Um Linh brauchst du dir keine Sorgen machen. Sie lästerte zwar gerade, aber wir haben nichts auf dich kommen lassen. Komm schon.“
Also von wegen freundschaftliche Szene. Abdullah kommt mit Milla auf mich zu. Beide umarmen mich und reden so sehr auf mich ein, ich bemerke gar nicht, wie alle auf einmal an mir, der Neuen, interessiert sind. Zwar setzt sich Linh demonstrativ weit von mir weg und dreht mir den Rücken zu, doch das finde ich nicht schlimm. Immer hin habe ich damit gerechnet. Mit Amy und Milla an der Hand bestreite ich die ganze Pause über ein pausenloses Gespräch mit fast allen aus dieser Clique. Alle sind nett und freundlich zu mir. Rücksichtsvoll und mit viel Takt fragen sie
mich interessiert nach meinem Leben.
Ãœberglücklich das so toll hingekriegt zu haben, macht mir die zweite Pause gar kein Kopfzerbrechen mehr.Â
Als es zur nächsten Stünde klingelt schwindet meine gute Laune. Die Klassenkameraden haben mich gesehen. Wäre auch ungewöhnlich, wenn sie es nicht mitbekommen hätten. Ich weiß auch, was für Sprüche wieder kommen werden.
Traurig verabschiede ich mich von den neuen Bekannten. Ein großer blonder Junge umarmt mich zum Abschied und sagt zu mir: „Bis nächste Pause.“ Glücklich renne ich die Treppe zum Klassenraum hoch.
„Na, mit wem hast du denn gevögelt, dass du da hin darfst?“, schleudert mir der Klassenclown entgegen. Bis der Mathelehrer kommt, klopfen sie noch einige Sprüche.
Egal.
In der zweiten Pause amüsiere ich mich gut mit meiner Freudnin Amy und den anderen. Zuhause
habe ich meinem Papi viel zu erzählen. Gleich nach dem Klingelzeichen, welches uns Schüler in die Freiheit entlässt, sehe ich aus dem Fenster schon meinen Vater in unserem Renault warten. Auf dem Weg zu ihm treffe ich am Eingang auf Amy und Abdullah.
„Du warst heute toll!“, lobt mich Abdullah. Er weiß von Amy wie schwer mir so manches fällt.
„Danke.“
„Wir sehen uns morgen, Kleine.“, ruft mir Amy noch zu, während ich auf meinen Papa zulaufe. Auch er bemerkt eine Veränderung an mir.
„Na, mein Schatz. Was strahlst du denn so?“
„Es war herrlich heute in den Pausen. Du kennst doch noch Amy?“ Und so erzähle ich ihm alles von heute. Nur die blöden Sprüche der Klassenkameraden lasse ich aus. Das braucht er nicht zu wissen. Zuhausen angekommen frage ich ihn gleich was es zu essen gibt. Papi schlägt Fisch mit Reis vor. Wie manchmal üblich teilen wir uns die Arbeit. Heute mache ich den Fisch
und Papa bereiten den Reis vor. Zwar ist es ein einfaches Essen, doch was Schwierigeres kriegen wir beide nicht hin. Dafür fehlt ihm das Talent und mir die Lust. Also begnügen wir uns mit einfachen Gerichten, die nicht viel Zeit und Geschick erfordern.
Beim Essen wage ich zu fragen: „Paps?“
„Ja?“
„Wollen wir mal wieder was zusammen machen?“ Eigentlich erwarte ich eine Absage, wie sie immer kommt.
„Was stellst du dir denn so vor?“
„Ich würde gerne mal in einen großen Zoo gehen. Und mir Adler und Geparden anschauen.“, schlage ich schnell vor.
„Das wäre mal eine Überlegung wert.“
„Findest du?“ Mein erstaunen wird immer größer.
„Aber natürlich.“ Irgendetwas ist faul. Ich habe ein Gespür für so etwas. Da ist was im Busch. Erst jetzt fällt mir das Leuchten in seinem
Gesicht auf. Ein Verdacht beschleicht mich. Er hat doch nicht etwa eine neue Frau kennengelernt? Nein. Das kann nicht stimmen. Am besten harre ich erst mal der Dinge, die da kommen mögen. Kann ja auch sein, dass er sich nur so sehr für mich freut.
 Der Montagnachmittag läuft genauso glatt, wie der Dienstag alles in den Pausen klappt. Ein toller Reim. Mittwoch fahre ich mit Amy in die Stadt zum Shopping. Bei dieser Gelegenheit finde ich auch das optimale Geschenk für meinen Papi. Für ihn lege ich dieses Jahr ein wunderschönes Bild unter den Weihnachtsbaum. Es zeigt eine rot gekleidete Person mit einem gelben Gegenstand in der Hand vor dem eisgrauen Hintergrund einer belebten Stadt. Niemand scheint sich für dieses Mädchen zu interessieren und doch schaut alle Welt auf sie. Ich weiß genau, wie sehr das Bild meinem Papi gefallen wird.
Mit Amy lache ich sehr viel. Wir finden eine
Menge komischer Weihnachtsgeschenke, über die wir uns köstlich amüsieren. Zum krönenden Abschluss unserer Tour finden wir noch eine Fotokabine. Gemeinsam quetschen wir uns dort hinein und lassen unsere Grimassen ablichten. Über diese Fotos lachen wir noch mehr, als über alles andere. Brüderlich, eher gesagt schwesterlich, werden sie geteilt, während wir im Zug nach Hause sitzen.
Als ich auf mein Haus zugehe sehe ich ein fremdes Auto in der Hofeinfahrt. Dass heißt, eigentlich ist es nicht fremd, sondern es gehört einfach nicht hierher. Es ist Marcos G-Power. Ganz frech macht es sich breit und ich komme gerade so eben vorbei. Kaum mache ich die Türe auf höre ich seine Stimme. Marcos sanfte, tiefe Stimme.
„Ich bin wieder da!“ Meine Stimme zittert ein wenig. Schlagartig hört das Gemurmel auf. In der Küche sehe ich ihn endlich wieder. Seine große Gestalt ist ein bisschen gebeugt.
Trotzdem glänzen seine braungrünen Augen. Auch er freut sich mich wieder zu sehen. Doch sein Gesicht ist von Kummer gezeichnet.
„Komm, Marco. Lass uns nach oben in mein Zimmer gehen.“, lade ich ihn ohne Begrüßung ein. Er nickt müde und folgt mir. Dieses Mal setzt er sich gleich neben mich auf das Sofa. Seine Augen liegen in tiefen Höhlen und der Rest sieht auch sehr müde aus. Trotzdem  fragt er mich erst mal besorgt, ob es mir gut gehe.
„Ja, jetzt wieder. Aber du siehst furchtbar aus, wenn ich das mal so sagen darf.“
„So kann man es auch benennen.“ Erschöpft lässt er seinen Kopf auf die Hände sinken, wischt sich einmal über sein Gesicht und lehnt sich entspannend zurück. Braungrüne Augen sehen mich nicht, denn sie sind geschlossen. Mit Spannung beobachte ich ihn. Heute hat er keine Baggy sonder eine normale Bluejeans angezogen, mit einem weißen Hemd kombiniert. Seine Arme hat er hinter seinem Kopf
verschränkt. Dann sieht er mich wieder an.
„Wie war es mit Amy?“
„Lustig. Hier, schau mal.“ Lächelt zeige ich ihm meine beiden Fotos von Amy und mir. Auf dem einen gebe ich ihr gerade einen dicken Schmatzer auf die Wange. Das andere zeigt uns beide mit Hasenohren und schielenden Augen.
Auch Marco muss lächeln.
„Die sind echt schön. Bewahre sie gut auf.“
„Das ist klar.“ Warum ist er so sentimental? Ich traue mich nicht zu fragen, weshalb er sich nicht gemeldet hat. Aber das muss ich auch nicht. Er fängt von alleine an zu erzählen: „Arme Mimi. Du musst dir unendlich viele Gedanken um mich gemacht haben.“
„Ein bisschen. Mich hat es gewundert, dass du dich so lange nicht gemeldet hast.“
„Weißt du, die ersten paar Tage wollte ich alles erst mal verarbeiteten. Ich habe Linh immer noch geliebt. Dieses Gefühl konnte ich nicht so schnell abschalten. Außerdem dachte ich, du
bräuchtest auch ein bisschen Abstand um über alles hinweg zu kommen. Am Wochenende wollte ich dich dann anrufen. Um zu hören wie es dir so geht. Aber meine Schwester hat mich so sehr in Arbeit eingespannt und mein Chef auch, da habe ich dich völlig vergessen. Schon war eine die zweite Woche um. Also gut, dachte ich mir, rufst du ebene Samstag an.“ Leise höre ich ihn verlegen lachen. „Verdammt Mimi, ich habe mich einfach nicht getraut bei dir anzurufen.“ Plötzlich sieht er mich direkt an. „Und dann heute Mittag hat Amy mich angerufen. Sie hat mich gefragt, was mir denn einfiele ihre neue beste Freundin nach zwei Wochen immer noch nicht angerufen zu haben und noch vieles mehr. Die machte mir richtig die Hölle heiß. Danach habe ich dann allen Mut zusammen genommen und wollte nicht mehr länger warten dich zu sehen.“ Marco beugt sich etwas mit dem Oberkörper nach vorne und nimmt meine Hände. Jetzt schaut er mich von
unten her an. „Linh habe ich gesagt, wir wären gute Freunde geworden.“
„Ja, dass hast du gesagt.“ Wie sicher meine Stimme klingt!
„Sind wir das immer noch?“
„Natürlich Marco.“
„Dann ist ja gut.“ Erleichtert atmet er auf. „Das wäre dann also endlich geklärt.“
„Marco?“
„Ja?“ Es mischt sich schnell Verzweiflung in seine Mine. Fast kann ich seinen Gedanken hören: ‚Ist doch noch irgendetwas zwischen uns?‘
„Hat Amy wirklich ‚neue beste Freundin‘ gesagt?“
„Ja, dass hat sie wirklich gesagt.“
„Juhu. Lass dich drücken. Ich glaube, ich platz gleich vor Glück.“
Er hält mich ganz fest. Mein ganzer Körper zittert und ich kann nicht aufhören zu lachen. Das erste Mal in meinem Leben fange ich vor
Glück an leicht zu weinen.
„Wie geht es deiner Harley?“, frage ich, um ein anderes Thema anzuschneiden.
„So ganz gut. Bin in letzter Zeit nur nicht so viel los gekommen.“ Frech schaut er mich an. „Hättest du nicht Lust übermorgen mit mir zu fahren?“
„Klar, immer. Mein Papi sagt bestimmt nicht nein. Eine Runde übermorgen, ja?“
„Jupps. Nach der Arbeit hole ich dich hier ab. Vielleicht können wir ja noch bei Amy vorbei schauen.“
„Ach, das wäre toll. Ich kann sie gleich morgen in der Schule fragen. Hoffentlich vergesse ich das nicht.“
„Wie läuft es eigentlich in der Schule?“
„Naja, Die Klasse macht mich ganz schön fertig. Aber seit dieser Woche sitze ich mit der Oberstufe immer beim Schotti. Das macht die anderen natürlich nicht leise, aber ganz schön eifersüchtig.“
Schon wieder müssen wir lachen. Obwohl mir dabei gar nicht so zum Lachen zu Mute ist. Durch diese Eifersucht wird es noch schlimmer mit ihren Scherzen. Deswegen höre ich auch bald auf zu lachen.
„Sie hat wirklich geglaubt, wir könnten ihr so etwas antun?“
„Anscheinend.“ Er hält immer noch meine Hände fest.Â
„Selbst wenn ich verliebt wäre,“, mir stecken die Worte im Halse fest. „sie war doch meine beste Freundin.“
„Jetzt hast du ja Amy.“
„Liebst du sie noch?“
„Ich versuche es nicht zu tun. Aber es waren nicht mehr viele Gefühle da, zuletzt meine ich. Diese Krise hat schon viel eher angefangen und wir haben es nicht erkannt. Sonst hätte man noch etwas dagegen tun können. Zudem kommt noch die Art und Weise, wie sie uns abserviert hat. Nein, es fällt mir nicht schwer, sie nicht
mehr zu lieben, auch wenn es noch ein bisschen dauern wird, bis alles vorbei ist.“
„Mhm. Du hast dich nicht getraut bei mir anzurufen?“
„Nein.“
„Bisher dachte ich, ich wäre der einzige so ängstliche Mensch.“
„Und jetzt?“
„Die Erkenntnis, es könnte mehreren so gehen, macht es eigentlich nicht besser. Aber es ist interessant.“
„Könntest du recht mit haben.“
Stille. Keine peinliche Unterbrechung des Gesprächs. Eher ein versunken sein in die Gedanken unserer Selbst. Entspannt schließe ich die Augen und lehne mich zurück. Da drückt Marco noch einmal meine Hände und lässt sie dann los.
„Marco?“
„Ja?“
„Fährst du wirklich am Freitag mit mir auf
deinem Motorrad?“
„Ganz wirklich.“ Ich kann sein Lächeln hören. „Und danach gehen wir etwas essen.“
„Das ist toll. Bist du auch so schläfrig?“
„Ein bisschen.“ Zögern. Räuspern. „Kann ich heute Nacht bei euch schlafen?“ Überrascht schlage ich die Augen auf. Sehe ihn an. „Da müsste ich erst Fragen. Aber ich denke, da gibt es keine Probleme.“ Marcos Gesicht entspannt sich sichtlich und sieht jetzt sehr müde aus. Auch ein bisschen blass. Was ist los mit ihm? „Gut, dann rufe ich Zuhause an.“
Unterdessen laufe ich nach unten in die Küche, zu Papa. Er hat natürlich nichts dagegen. Immerhin haben wir ein Gästezimmer. So sein Argument. Mich beschäftigt vielmehr die Frage nach dem Weshalb. Weshalb will er bei uns schlafen? Schrecklichkeiten der Neugier. Fragen darf ich nicht. Zu aufdringlich, wo wir uns gerade wieder versöhnt haben.
Ruck zuck ist das Bett im Gästezimmer neu
bezogen. Lange bleiben Marco und ich allerdings nicht in diesem Raum. Zu braun, zu dunkel. Viel lieber gehen wir in die Küche. Papi hat das Essen fast fertig aufgedeckt. Brot und Auflage, denn etwas Warmes gibt es bei uns mittags.
Warum sieht Marco so unglücklich aus? Liegt es an mir? Habe ich mich irgendwie falsch verhalten? Bin ich zu aufdringlich? Dann hätte er nicht gefragt, ob ich mit ihm Motorrad fahren will. Hat es noch mit Linh zu tun? Bestimmt ist es schwer von dieser gutaussehenden Frau abgewiesen zu werden. Stimmt nicht. Marco hätte sich bestimmt wieder bei ihr einbringen können. Dennoch hat er sich auf meine Seite gestellt. Doch was ist dann los?
Diese Fragen überdenke ich bei unserem Abendessen. Somit bin ich auch nicht sehr gesprächig. Obwohl meine geistige Anwesenheit hier auch nicht weiter erforderlich ist. Eine Unterhaltung findet inzwischen ohne mich statt.
Über, ich glaube es so herauszuhören, Autos. Passend, schießt es mir durch den Kopf, denn Marco lernt ja Kfz – Mechantroniker und Papa ist trotz seines Berufes nicht weniger an Autos interessiert, wie die meisten Menschen männlichen Geschlechts. Als wir dann alle fertig sind, helfen Marco und ich noch aufräumen. Ganz genau, was ich danach mit Marco machen soll, weiß ich nicht. Zum Glück gibt es ja noch meinen Papi. Der überredet uns noch zu einer Partie Rommé. Und weil wir alle drei morgen wieder früh raus müssen, gehen danach alle Lichter in unserem kleinen Häuschen aus.
Kapitel 5
Die Zeit bis das Traumland auf mich auf meinem ausgebreiteten Sofa erreicht überbrücke ich mit nachdenken. Bin ich in Marco verliebt? Würde ich diese Frage mit einem Ja beantworten, täten sich zwei neue auf: Wäre ich bereit gewesen, wenn ich es schon früher gewusst hätte, Linh zu hintergehen? Und zweitens: Fühlt er dasselbe? Für mich sind diese Fragen an sich gleich bedeutend. Nämlich hoch bedeutsam. Deshalb versuche ich die anfangs gestellte Frage rasch zu beantworten. Kein leichtes Unterfangen für mich. Woher soll ich denn dieses Gefühl kennen? Bin ich nun verliebt oder bin ich es nicht? Diese Frage lässt mich so tief in Gedanken versinken, dass ich Marco erst bemerke, als sich sein Arm sanft über meine Taille legt. Überaus erschrocken setzte ich mich auf.
„Was ist los? Was willst du hier?“
„Mimi, ich möchte nicht alleine sein. Nicht heute.“ Von einem vorhergehenden Weinanfall ist seine Stimme noch ganz belegt.
„Aber warum? Ist irgendetwas passiert?“ Besorgt sehe ich auf ihn herhab, denn er liegt mit aufgestützten Armen in meinem Bett.
„Amira, meine Schwester, wollte heute mit ihrem Freund nach Italien fahren. Urlaub machen. Sie hatten einen Unfall.“
Seine Schwester! Das nette Lachen am Telefon.Â
„Wie geht es ihr?“
„Sie liegt im Koma. Die Ärzte sagen, es sieht nicht gut aus.“
„Und der Freund?“
„Noch gleich an der Unfallstelle. Er war ein netter Kerl.“
Albtraum. Es muss ein einziger Albtraum für ihn sein. Armer Marco. Amira klang immer so nett am Telefon. Verdient hat sie es bestimmt nicht. Wie soll ich mich jetzt nur verhalten?
Müde setzt sich Marco auf. Er braucht seine ganze Selbstbeherrschung jetzt nicht wieder anzufangen zu weinen. Zuhause hat es ihn bei den schmerzbeherschten Eltern nicht gehalten. Jetzt von mir auch noch eine stille Zurückweisung. Mit viel Trauer und ebenfalls Schmerz schlägt er die Bettdecke zurück.
„Nein Marco.“ Ich bekomme ihn am Oberarm zu fassen. „Bleib hier.“
Wie ein kleines Kind sinkt er mir förmlich an die Brust. Seine Stirn liegt schwer auf meiner rechten Schulter. Mit diesen erlösenden Worten gerade eben, kann er seine Tränen auch nicht mehr beherrschen. Er ist von Schluchzern druchschüttelt und ich versuche ihn ein wenig zu beruhigen. Warum ist er nicht zu seinen Kumpels gefahren? Wieso zu mir?
Ich hoffe es hilft, wenn ich leicht über seine schönen halblocken Streiche. Bin ich ihm schon so nahe oder er mir? Leichtes hin und her wiegen, gepaart mit der kleinen Streicheleinheit
über seinen starken, muskulösen Rücken tun allmählich ihre Wirkung. Schließlich kann er sich beruhigen. Nie habe ich einen Mann weinen sehen. Eine beängstigende Erfahrung. Dennoch spüre ich, wie uns dieses gemeinsame Erlebnis einander ein Stückchen näher bringt. Ist eigentlich alles an ihm so durchtrainiert? Peinlich berührt, lasse ich ihn wieder los. Langsam kommt er auf mein Kissen rechts neben mir zum liegen.
„Entschuldige, bitte.“
„Ist schon in Ordnung. Dafür sind Freunde doch da.“
„Ja.“, seufzt er. Irgendwie höre ich eine leise Sehnsucht.
Hinlegen kann ich mich nicht, weiß gar nicht was ich jetzt machen soll. Immer hin lag noch nie ein Mann halbnackt, exakter gesagt, mit Boxershorts bekleidet neben mir. Das einzige mal wo ich neben einem lag, war damals an dem Nachmittag mit Marco nach der Kuhzeichnung.
Er weiß anscheinend genau, was er möchte.
„Komm her.“, flüstert er nur und zieht mich zu ihm herunter. Hilfe, was will er tun? Völlig perplex verkrampfe ich mich. Doch er nimmt mich nur in den Arm. Gibt mir einen Kuss auf die Haare und auf meine Stirn. Mein Kopf liegt genau in der Kuhle zwischen Brust und Arm. Dann dreht er meinen Körper zu dem seinen hin, sodass er mit seiner rechten Hand über meinen Rücken hin die linke Schulter streichelt, wobei mein rechter Arm gänzlich unter seinem Muskelarm und seiner Taille verschwindet. Die andere Hand krault meinen Rücken. Meinetwegen kann er das öfter tun. Schnell bekomme ich Gänsehaut und fange fast an zu schnurren wie ein kleines Kätzchen.
Marco hat den perfekten Körper, durchzuckt es mich. Muskulös, aber nicht überdimensional. Gerade richtig. Man kann jeden Muskel erkennen, alle wohl ausgebildet. Kein Gramm überschüssiges Fett. Leicht gebräunt, aber nicht
Dauergast - im - Sonnenstudio - Mäßig, eher vom Sandstrand. Von seinem Gesicht und den Haaren will ich eine Kopie. Für alle Fälle. Tiefbraune Augen. Mit lustigen grünen Punkten, wenn er gut drauf ist. Zum Versinken schön. Der Rest seines Kopfes ebenso toll. Männlich. Nicht übertrieben schön. Aber interessant. Einfach ein perfekter Mann. Wenn es überhaupt einen solchen gibt.
Ich stelle mit großem Vergnügen fest: Emilie Alou ist verlieb und fängt gerade an wie eine Katze zu schnurren. Marco lacht still.
Egal. Jetzt schlafe ich sowieso ein.
Â
Ein nervtötender Wecker reißt uns aus unseren Träumen. Schlaftrunken stelle ich ihn aus, wobei ich mich halb über Marco rüber beugen muss. Glücklich fühle ich, wie er mich wieder in seine Arme zieht. Unsere Schlafstellung hat sich während der Nacht kaum verändert. Wir liegen nur nicht mehr fast übereinander, sonder
eher parallel zueinander. Zumindest liege ich verträumt an ihn gekuschelt. Fest mit Beinen und Armen verschlungen. Die Auflösung des Knotens…
„Scheiße! Marco, du musst sofort wieder in dein Bett!“ Ich springe auf.
„Jetzt? Nein Mimi. Es ist gerade so schön kuschelig und gemütlich hier. Komm wieder ins Bett.“, nuschelt er noch Halbschlaf und versucht mich zum wiederholten Male in seine starken Arme zu bekommen. Es gelingt ihm. Im Halbschlaf. Dafür hämmere ich auf seine Brust ein.
„Mein Vater denkt, wir hätten sonst was gemacht heute Nacht, wenn er so erwischt.“
Marco grinst mit geschlossenen Augen. „Gegen dieses ‚sonst etwas‘ hätte durchaus nichts einzuwenden gehabt.“ Amüsiert entdecke ich den Kissenabdruck auf seiner Wange. Er gibt mir noch mal einen Kuss auf mein verwuscheltes Haar, wozu er meinen Kopf an
den Wangen festhält. „Aber alles so, wie du es möchtest.“ Stirnkuss. „Ich danke dir, Mimi.“ Nassenspitze. Dann ist er an der Tür. Schaut erst durch einen Spalt, ob die Luft rein ist, während ich seinen wundervollen Körper inspiziere. Marco wirft mir im gehen noch eine Kusshand zu und verschwindet. Ich höre, wie er duscht.
Papa wird munter. Inzwischen ziehe ich mich an.
Vor meiner Türe höre ich Papas übliche Verabschiedungsformel. An Marco. Will er ohne Frühstück gehen? Der steht auf einmal in meinem Zimmer. Mist. Bis auf meinen Pullover bin ich vollständig angezogen. Jetzt stehe ich zitternd vor ihm. Ihn scheint es nicht sonderlich zu stören, dass ich halbnackt bin. Gekonnt ignoriert er es. Mein Kopf wird jedoch purpur Rot. Fest drückt er mich gegen seinen Körper. Flüstert mir Dankesworte ins Ohr. Verschwindet genauso plötzlich wie er gekommen ist. ‚Dazu
sind Freunde doch da. ‘, will ich ihm hinterher rufen. Papa steht aber noch auf dem Flur und könnte es hören.
Warum kann es in einem Moment so schön sein, doch der nächste so zerstörerisch? Wieso kann man von einer Wolke so tief und schmerzhaft auf die Erde fallen? Dass so etwas überhaupt möglich ist, sollte verboten werden. Dagegen müsste man etwas tun. Kann man das eigentlich?
Ich weiß es nicht.
Fühlt sich so Verliebtheit an? Ist das tatsächlich ein so starkes Gefühl? So rein? So tief? Tausend Schmetterlinge bekämpfen meinen Kobold. Verweisen ihn in seine Schranken. Gut so! Man fühlt sich so stark. Keine Gemeinheit irgendwelcher Klassen können einen aus der Balance bringen. Zumindest gefühlt. Ist das Liebe?
Ich weiß es nicht.
Den ganzen Tag fühle ich mich schwerelos.
Lächelnd verbreite ich auch meine gute Laune unter die anderen Mitmenschen. Amy ist sehr überrascht. Freut sich aber für mich. Obwohl sie nicht weiß, was los ist. Denn ich sage nichts.
Nur als ich Linh in einer Pause sehe, beschleichen mich leise Zweifel. Genau das, was sie mir vorwarf, ist eingetroffen. Zumindest fast. Ihre beste Freundin hat sich in ihren Ex-Freund verliebt. Wahrscheinlich wusste sie, dass es genauso kommen würde und hat uns deshalb einander nicht vorgestellt. Präzise gesehen verrate ich sie daher immer noch! Sollten so ihre Gedankengänge tatsächlich so gewesen sein? Wovon man eigentlich ausgehen kann. Das Mistrauen war richtig von ihr. Welch schlechte Freundin ich doch bin! Halt mal. Nie wäre ich auch nur auf die Idee gekommen mit Marco etwas anzufangen. Wie auch, bei meinem extrem eingeschränkten Personenkontakt. Ich hätte nicht mal gewusst wie. Zudem war ich doch ihre beste Freundin. Und jetzt? Sie hat mir
die Freundschaft gekündigt. Trotzdem habe ich Zweifel, ob es richtig ist.
Dieses tolle Gefühl von heute bleibt. Zum trotze aller Zweifel. Morgen sehe ich ihn wieder! Freitag. Am Freitag kennen wir uns genau drei Wochen. Wir müssen noch unbedingt telefonieren. Wann wir uns treffen.
Â
Gerade sind Papa und ich zu Hause angekommen, greife ich zum Hörer. Dieses Mal geht Frau Radorn ran. Gut erzogen stelle ich mich vor und frage gleich nach dem Gesundheitszustand von Amira. Sie sei zwar noch nicht aufgewacht, dennoch seien die Ärzte jetzt guter Hoffnungen, es wende sich alles zum Guten. Dann bekomme ich Marco ans Telefon. Kaum höre ich seine Stimme verstärkt sich mein wunderschönes Gefühl. Es ist nur knapp aus zu halten. Gleich muss ich platzen. Um halb drei bei mir. Alles klar. Heute bleibt uns leider keiner Zeit mehr zum Plaudern. Seine
Mittagspause ist gleich vorbei und er muss sich beeilen noch rechtzeitig in die Werkstatt zu kommen. Ein Glück habe ich ihn gerade so erwischt. Aber wo arbeitet er, dass er so schnell hin und her fahren kann? Eine gute Frage für Morgen. Die muss ich mir merken.
Während unsere zweiköpfige Familie Eier in Senfsoße mit Reis verspeist, reisen meine Gedanken.
Verändere ich mich? In der Clique? Mit Marco? Für mich heute eine wichtige Frage. Immerhin habe ich gerade ohne Zögern, ohne Schmerzen bei Marco angerufen! Stimmt. Mutiger bin ich geworden. Selbstsicherer. So weit ist schon mal alles klar. Berechtigt? Bin ich eigentlich hübsch genug dafür? Alle selbstbewussten und selbstsicheren Leute, die ich kenne, sind hübsch. Ich auch? Nein, muss ich mir eingestehen. Mein Make-up sitzt nie richtig. Aus meinen Haaren mache ich auch nichts. Meistens scheint mein Gesicht nur aus
Mitessern und anderen Pickeln zu bestehen. Hinzu kommen meine gelben Zähne. Doch halt! Linh war extrem hübsch. Würde sich Marco, der eigentlich, nach allem was ich gehört habe, glamouröse Mädchen gewohnt ist sich mit einer abgeben, die weniger hübsch ist? Wahrscheinlich gerade deshalb. Um eine neue Erfahrung zu machen, wie eine Hässliche so den Tag verbringt. Deshalb gleich Linh aufgeben? Nein, eher nicht. Mag er mich also wirklich? Vielleicht sollte ich Amy mal um Rat fragen. Gleich heute Nachmittag? Lieber nicht. Sonst gehe ich ihr noch auf die Nerven. Wie habe ich es eigentlich geschafft ihre beste Freundin zu werden? Um diese Frage zu beantworten brauche ich eindeutig Amys Hilfe. Also muss ich sie doch anrufen.
Es wird sie bestimmt nerven.
„Papa? Sollte ich heute bei Amy anrufen?“
„Dass musst du wissen.“
„Große Hilfe.“
„Freundinnen telefonieren doch jeden Tag, oder nicht?“
„Also, soll ich?“
„Musst du wissen.“
Eltern sind immer eine große Hilfe. Entweder sagen sie dir im Detail genau was du zu tun hast oder sie lassen dich im Regen stehen. Am Besten ist ja, wenn du ihre Gedanken erraten, besser noch, lesen sollst. Tust du einmal nicht, was ihrer Meinung nach das Beste für dich wäre, machen sie dir durch zwielichtige Kommentare und entsprechenden Gesichtsausdrücken ein schlechtes Gewissen. Meistens bringt es was. Manchmal auch nicht. Jedoch laufe ich dann den ganzen Tag mit Magenziehen herum.
Amy rufe ich lieber am Samstag an. Da habe ich dann auch etwas zu erzählen. Sonst kommt womöglich noch eine Schweigeminute zu unserem Gespräch hinzu. Mit hoher Wahrscheinlich ist sie nicht so angenehm, wie
mit Marco. Und wenn schon telefonieren, dann richtig. Lieber mache ich noch erst Hausaufgaben. Heidewitzgar, da hat sich was angehäuft! Dabei habe ich sie doch immer regelmäßig gemacht.
Egal.
Abends nach der Tagesschau sind alle meine Selbstzweifel völlig in Terrorismus und Algebra untergegangen. Tatsächlich soll es Menschen geben, die ihre gesamten Hausaufgaben von einer Woche an einem Wochenende fertig kriegen. Sogar manchmal nur an einem Nachmittag. Entsprechend kurz fallen dann die Hausaufgaben und schlecht die Noten aus. Ist mir ein absolutes Rätsel, so arbeiten zu können.
„Ich bin völlig alle, Paps. Bin dann auch mal in der Falle.“
„Ja. Gute Nacht, Kleines.“ Das hat Marco gestern Abend auch gesagt.
Ach ja, Marco. Motorrad fahren! Endlich einmal wieder! Vor lauter Aufregung kann ich trotz
meiner Müdigkeit nicht so schnell einschlafen wie sonst.
Â
Seit Anfang der Woche bin ich schon in Amys Clique. Sie muss doch zugeben, ich habe mich schon ganz gut involviert. Der blonde Junge von Montag hat mich sogar zu seiner Party am Monatsende eingeladen. Sein Name ist Frederick, kurz Freddy. Eigentlich ganz nett. Gegen Marco jedoch ein Nichts. Schon allein, weil ich nicht auf blonde sondern viel eher auf Südländer stehe. Auch wenn sie nur so aussehen.
Amy bemerkt meine Aufregung. Angeregt unterhalten wir uns über Motorräder. Meine neue beste Freundin weiß ganz schön viel über sie. Aber ich auch. Wiederholt stellt sich mein Verstand die Frage nach dem Wie unserer Freundschaft.
Bedingt durch mein bewusstes Genießen dieser haufenweise kommenden neuen Erfahrungen,
laufe ich mit Schauklappen durch die Unterrichtsstunden. Gemeine Bemerkungen und Streiche nehme ich kaum oder gar nicht wahr. Spielen sie mir heute überhaupt welche? Haben sie Achtung vor meiner neuen Clique? Kann ich nicht sagen, denn heute trage ich Scheuklappen.
Am Ende des Schultages bemerke ich noch Amy, wie sie mir sagt, dass ich morgen Anrufen soll. Natürlich will sie alles von heute Nachmittag wissen. Kein Problem!
Mitten in der Nacht hat Marco noch eine SMS geschickt, er käme doch schon um halb zwei.
Beruhigend versichert er Papa gerade, wir würden unser Mittagessen noch bekommen. Inzwischen ziehe ich die vollständige Ledergarnitur von Amira an. Sie hat ungefähr meine Größe. Alles passt. Marco hat sie mitgebracht. Sicherheit geht vor. Amira hätte es sicher erlaubt, sagte er. Wenn er meint. Hoffentlich tut ihm die Ablenkung ein bisschen gut und er macht jetzt keine Dummheiten auf
dem Motorrad.
Meinen beiden Kumpanen entschlüpft ein leiser Pfiff. So umwerfend fand ich mich vorhin nicht im Spiegel. Aber wenn sie es, vor allem Marco, so sehen.
Dann kann es mit unserer Tour endlich losgehen. Halt! Bevor es endgültig losgeht bestaunen wir zu dritt Marcos Harley.
Es ist eine Harley Davidson Deuce. Blau-metallic neu lackiert. Der ursprüngliche Lack hat ihm nicht so gefallen. Ein Glück hat er Mittel und Wege.
Nachdem wir uns ausführlich über Bauart und PS unterhalten haben, sitzen Marco und ich auf. Na endlich. Vorschriftsgemäß bedächtig fährt Marco das Motorrad die Auffahrt hinunter. Nichts von Querverkehr zu sehen. Er biegt rechts ab. Vergnügt halte ich mich an ihm fest. Ja, ich umfasse Marco. Weil wir Motorrad fahren, traue ich mich auch mich bei ihm anzulehnen. Andere machen es doch auch so,
oder? Vor lauter auftretenden Gefühlen, kann ich gerade so eben still sitzen.
Auf Kommando kommt die liebe Sonne aus dem Wolkenmeer hinausgekrochen.
So fahren wir gemütlich mit maximal 90 Sachen endlose Landstraßen entlang. Einmal kommen wir auf eine gut überschaubare Straße. Dort beschleunigt Marco. Mir wird bewusst, wie schnell man mit solchen Maschinen gegenüber der sonstigen Natur ist. Bei einer Motorradfahrt merkt man so etwas besser als im Auto.
Allmählich begreife ich, Marco hat eigentlich kein richtiges Ziel. Er fährt einfach drauflos. Irgendwo werden wir schon ankommen. Wahrscheinlich kennt er diese Schleichwege noch von den Fahrten mit seinem Vater. Wenn die beiden überhaupt zusammen fahren.
Von mir aus könnten wir beide immer so eng aneinander gekuschelt durch die herbstliche Landschaft gondeln. Mägen haben jedoch, wie allgemein bekannt, ein unwiderrufliches
Eigenleben. So auch heute. Um, geschätzt, halb vier tippe ich Marco auf den Bauch. Als wenn wir ein und dieselbe Person wären versteht er mich und nickt. Kurz darauf steuert er ein Bauerhaus an. Mir wird schon wieder ganz heiß vor Panik. Will er sich etwa bei fremden Leuten etwas schnorren? So dringend ist mein Hunger nun doch wieder nicht. Jedes Glied meines Körpers wird heiß. Wo sind wir?
Stockend steige ich von der Maschine, die Marco vor den Garagen zu unserer linken geparkt hat.
Es ist ein wahrhaft riesiges Haus. Und wunderschön. Links sind, wie erwähnt, Garagen. Fünf Stück. Welcher Bauer braucht fünf geschlossene Garagen? Das Fachwerk sieht frisch gestrichen aus. Die Hohlräume sind statt mir Lehm mit einfachen Ziegelsteinen angefüllt. An der Frontseite angeglichen verläuft ein halbhoher, weißer Gartenzaun. Sieht ein bisschen aus, wie aus einer amerikanischen
Vorstadtserie. Der Garten ist riesig.
Selbstbewusst zieht mich Marco ohne große Worte durch das rechte Gartentor. Nun kommt die Größe des Hauses erst richtig zu Geltung. Hier erkenne ich, dass diese Seite kein Reebdach ist, sonder völlig verglast wurde. Man kann ein Wohnzimmer erkennen. Von hier hätte man einen tollen Blick auf den angrenzenden Wald. Marco fischt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schließt die überaus moderne Haustüre auf. Hastig drückt er mich in einen riesigen Flur. Schwer lastet seine linke Hand auf meiner rechten Schulter. Dann sagt er: „Herzlich willkommen in meinem Zuhause!“
Verblüfft drehe ich mich um. Er lässt die Hand fahren.
„Dein Haus?“
„Das meiner Familie.“
„So etwas könnt ihr euch leisten?“
„Im Keller ist noch ein Pool.“, sagt er seelenruhig. Doch ich sehe den Schalk in seinen
Augen. Diensteifrig nimmt er mir meinen Helm aus der Hand. Andächtig langsam ziehe ich die Jacke aus, mitsamt Gürtel. Auch dieses nimmt er mir ab. Hängt alles fein säuberlich in einen Schrank.
„So ein riesiges Haus kann man nur Sauber und Ordentlich halten, wenn alle ein bisschen mithelfen.“, erzählt er mir.
Natürlich traue ich mich keinen Millimeter weiter vor. Ist ja nicht so gemeint. Neugierig bin ich schon auf alles. Doch mein Kobold macht da nicht mit. Mit Schlägen auf die Lunge will er das schlimmste verhindern. Mir wird ein wenig schwindelig.
„Du brauchst da nicht wie angewurzelt rumstehen. Man kann alles wieder sauber machen.“ Marco lächelt mich an. Wie kriegt er nur dieses unwiderstehliche Lächeln hin? „Komm mit in die Küche.“
Keinen Millimeter. Begreifend führt er mich an der Hand durch die Diele und in die
angrenzende Küche. Dort hebt er mich auf die Theke, wo ich sitzen bleibe. Seine Muskeln!
„Was möchtest du essen?“
„Was habt ihr denn da?“
„Ich zaubere dir alles was du willst.“
Ich muss mich erst mal ein bisschen beruhigen. „Keine Ahnung.“
„Wie wäre es denn mit Tiefkühlpizza?“
„Toller Zauberlehrling.“, rutscht es mir heraus. Erschrocken sehe ich ihn an. Marco lacht herzhaft. Da muss ich einfach mitlachen. Die Angst ist verschwunden. „Hast du Margarita?“
Jetzt muss er erst mal im Tiefkühlschrank nachsehen.
Derweilen schaue ich mir die Küche genauer an. Eine sehr dunkle Küche im ländlichen Stil. Nicht verkehrt in diesem Haus. Alles passt zusammen. Gegenüber der großartigen und ebenso umfangreichen Küchenzeile stehen sechs Stühle und ein gewaltiger Esstisch. Darüber tut sich ein großes Fenster auf. Von mir aus nun
rechts gesehen ist die Türe.
„Jap, haben wir da.“ Mit diesen Worten kommt Marco aus dem Tiefkühlschrank wieder hervor. Siegesgewiss grinst er mich an. Man muss ganz einfach zurücklächeln. Geschickt schält er die Pizzen aus ihren Plastikhüllen und befördert sie in den Backofen.
„Kann ich dein Zimmer sehen?“ Himmel, hab ich das gerade gefragt?
„Klar.“ Er schaut prüfend auf seine Armbanduhr. „Komm mit nach oben. Alle persönlichen Zimmer sind da.“
So ähnlich wie bei mir daheim muss man erst eine Treppe zu den Schlafzimmern hoch gehen. Die liegt gleich rechts neben der Küche. Ganz dicht hinter ihm schleiche ich mich hoch. Nicht, das er noch bemerkt, dass ich seinen Duft in mir aufnehme.
Die Treppe hier ist bestimmt einsfünfzig breit. Viel breiter als bei mir. Das ganze Haus strotzt vor Geldinvestitionen. Trotzdem wirkt es kein
bisschen protzig. Unser Weg schlängelt sich nach links. Endlich oben angekommen, liegt ein schmaler Flur vor uns. Marco wendet sich wieder nach links. Eine unscheinbare Türe wird vor mir geöffnet.
Vorhin hatte ich es als Wohnzimmer identifiziert. Mir strahlt durch die vielen Glasscheiben pure Natur entgegen. Kaum habe ich mich von diesem wahnsinns Ausblick erholt, bleibt mir bei der Stereoanlage und dem riesigen Fernsehbildschirm die Spucke weg. Dazu kommen zwei gemütliche Ledersofa mit einem Sessel. Rund um den Elektrokram zu meiner Linken aufgebaut. Alles mögliche elektronische Männerspielzeug darf da natürlich nicht fehlen. Von der einfachen Playstation bis zu Wii ist alles vertreten. Und das war nur die linke Seite. Rechts ist ein Fitnessparadies der Extraklasse aufgebaut. Hantelbank, einfache Hanteln, Laufband, etc.. Dagegen steht das Doppelbett hinten in der linksten, dunkelsten
Ecke ganz bescheiden da.
Ich drehe mich zu ihm. Doch der sieht mich gar nicht. Marco steht vor der Fensterwand und schaut in die Natur. Sein Blick hängt verträumt in den Baumwipfeln. Nur langsam kann er sich von der freien Natur lösen. Er liebt sie, die Freiheit.
„Nun krieg dich mal wieder ein. So außergewöhnlich ist es jetzt auch nicht.“, mein Marco und setzt sich gemütlich in sein Dreiersofa. Gegenüber vom Fernseher. Zögernd schaue ich mich noch einmal um. „Womit verdient dein Vater noch mal sein Geld?“ Nun gehe ich doch auf ihn zu.
„Zuerst ist er Teilhaber in einer gutlaufenden Firma. Früher hatte er zudem noch ein gutes Händchen für Aktien. Selber führt er noch ein Geschäft für Autoreperatur und Autoverkauf.“
„Damit kann man so viel Geld machen?“ Unbedacht plumpse ich neben ihn.
„Unser Name steht im ausnahmslos guten Ruf.
Und das Weltweit.“
„Mein Vater sollte den Beruf wechseln.“
„Na na. So schlecht verdient der als Psychiater bestimmt nicht.“
„Habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht.“ Ich drehe mich zu der Hantelbank und dem Zeugs um. „Hier erhältst du also deinen Körper?
„Kann sich sehen lassen, oder?“
„Du oder das da?“
„Beides.“, lacht er. Natürlich muss ich mit lachen.
Später essen wir noch unsere Pizzen. Leider will er mich auch bald darauf nach Hause bringen. Das Vertrauen meines Vaters gewinnen und auch nicht enttäuschen. Schade, dass wir nicht noch länger bleiben können. Außerdem wollte die Familie heute noch Amira besuchen. Verständlich. So schmeißen wir uns wieder in die Klamotten und fahren zu meinem Haus. Dieses Mal nicht über Land sondern wir
benutzen die Hauptstraße. Innerhalb von zehn Minuten sind wir da.
„Wieso bist du eigentlich mit mir zu hingefahren?“ Mir brennt schon die ganze Zeit diese Frage auf der Seele.
„Ich wollte von Anfang an dort mit dir hin. Ob du nun Hunger bekommen hättest oder nicht. Außerdem hatte ich keine Lust viel für ein teures Essen zu zahlen.“ Das bringt er mit soviel Ernst hervor, ich weiß nicht recht, wie ich das auffassen soll. Doch dann lächelt er mich beruhigend an.
„Mhm. Du Schlingel.“ Nach diesem kurzen Gespräch verabschiedeten wir uns. Papa steht in der Tür.
Marcos Gedanken sind wieder bei seiner Schwester.
Meine sind bei ihm.
„Fahr vorsichtig, ja?“ Dafür ernte ich sein leises lächeln.
„Natürlich, Mutti.“ Und weg ist er. Hat sogar
den Lederanzug vergessen. Bestimmt sehen wir uns bald. Dann kann ich ihn ihm zurückgeben.
Â
Kapitel 6
‚Mist!‘, denke ich böse. ‚Da kann Papi mich ein nicht abholen und schon verpasse ich den Bus. So ein Mist. Jetzt fängt es auch noch zu regnen an. Klasse.‘ Einsam und verlassen schaue ich auf den Fahrplan. Erst in einer Stunde und zehn Minuten fährt der nächste Bus in meine Richtung. Verdammt! Mittlerweile gießt es in Strömen. An dieser Haltestelle ist nicht mal ein Bushäuschen. Bald bin ich bestimmt nass bis auf die Haut. Seit Marco und ich unterwegs waren, ist nur ein so Sauwetter. Als hätte es sich für diesen einen Tag völlig überanstrengt. Zum Glück fängt es gleich an zu gewittern. Gewitter liebe ich. Eigentlich auch Regen. Ich stelle mir dann immer vor, es wären die Tränen der Menschheit, damit wir nicht weinen müssen, sondern glücklich sein können. Blitz und Donner sind unsere Wut und unsere
Verzweiflung, um hier auf Erden Frieden zu schaffen. Schön wäre es ja. Ist aber nur mein Gedanke. Im Moment merke ich nichts davon. Nur, wie nass ich bin. Nass bis auf die Knochen.
Plötzlich quietschen Reifen. Mein Kopf hebt sich ruckartig. Da fährt ein alter VW Golf rückwärts. Eben ist er noch vorbei gerauscht. Während er bei mir anhält und die Beifahrertür aufgestoßen wird, grinst mir Marco aus dem Inneren entgegen.
„Na, was machst du denn hier?“
„Bus verpasst.“, schnaufe ich. Zurückhaltend lehne ich mich, gestützt auf die Autotüre, nach vorne.
„Steig ein. Trockener wird es da draußen auch nicht. Ich bring dich nach Hause.“
„Danke.“ Schon sitze ich neben ihm. „ Ich wusste gar nicht, dass du auch noch einen VW hast.“
„Glaubst du, ich fahre mit meinem Flitzer zur
Arbeit in die Werkstatt? Ne, ne.“
„Entschuldigung.“
„Brauchst dich doch nicht entschuldigen.“ Irgendwie klingt er plötzlich traurig.
„Alles in Ordnung mit dir?“
„Mit mir schon. Amira geht es wieder schlechter. Ihre Werte sind nicht mehr so in Ordnung.“
„Oh, Scheiße!“
„Kannst du laut sagen. Ich wünsche mir, sie wacht entweder auf oder stirbt. Das hört sich hart an, ich weiß. Aber mit so einem Koma kann man nichts anfangen. Es ist weder das eine noch das andere. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaube schon.“ Eine andere Antwort weiß ich nicht. Deswegen ziehe ich mich zurück. Finde ich besser, statt etwas Falsches zu sagen. Nun ist die Stimmung sehr gedrückt.
Zuhause angekommen, bleibe ich noch kurz sitzen. Schweigend.
„Wir sind da.“, sagt Marco. Dreht sich zu mir um. Schaut mich forschend an.
„Kommst du noch kurz mit rein?“ Er überlegt kurz.
„Nein, meine Eltern warten Zuhause. Sonst denken sie, mir ist auch noch etwas passiert.“
„Na gut. Du weißt ja, wenn was ist kannst du jeder Zeit anrufen, ja?“
„Mhm.“ Daraufhin wende ich mich der Autotüre zu, um sie zu öffnen. Geschafft.
„Mimi?“
„Ja? Was ist?“ Ich drehe mich noch einmal um.
„Danke.“ Ganz leise dringt dieses Wort an mein Ohr.
Bevor ich mich regen kann, beugt Marco sich vor. Gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange. Seine Lippen fühlen sich warm an. Warm und hart. Und trotzdem irgendwie weich. Nicht unangenehm hart und trocken. Männlich. Nur toll! Mein gesamtes Blut schießt mir in den Kopf. Schnell, fast fluchtartig verlasse ich das
Auto. Draußen regnet es immer noch heftig. An der Haustüre angekommen schaue ich zu Marco. Gerade lässt er den Wagen an. Tot schauen seine Augen mich an, als er meinen Blick sucht. Mutig lächle ich ihn an und winke zart. Zurückgegeben wird nur das lächeln. Zwischen donnern und blitzen fährt er vom Hof. Bei mir öffnet sich die Türe von alleine. Papa steht vor mir.
„Du hättest mich auch anrufen können. War aber nett von Marco dich herzubringen.“
„Er ist zufällig vorbeigekommen, nachdem ich den Bus verpasste. Wahrscheinlich war er in der Mittagspause auf dem Weg zu seinen Eltern zum Mittagessen.“
„Aha.“ Sein Gesicht verzieht sich zu einer bedeutungsvollen Miene.
„Du konntest ja nicht.“
„Ein Kollege wollte noch etwas mit mir besprechen.“
„Ich hasse das Gymnasium. Da kann man schon
mal mehr und muss trotzdem jeden Tag bis zur achten Stunde da bleiben.“
„Wer wollte denn unbedingt dahin?“
„Ist ja schon gut.“ Marcos Augen gehen mir nicht aus dem Kopf, nicht aus meinen Gedanken. Sie sind so wunderschön. Warum sahen sie so traurig aus? „Hast du etwas zu essen gemacht?“
„War ich gerade bei. Ich dachte Marco kommt vielleicht noch mit rein. Er ist ein netter Bursche.“
„Nein, er konnte nicht.“
Was hält mich davon ab ihm das mit Amira zu erzählen? Von dem, was mir in der Schule wieder passiert ist? Eigentlich sollte ich das tun. Nicht nur, wegen meinem Versprechen. Es kommt aber nicht in meinen Mund, damit ich es aussprechen könnte.
Mich beschäftigen nur Marcos Augen. So unendlich traurige Augen. Wie tot. Amira muss es sehr schlecht gehen.
Würden seine Augen auch so aussehen, ginge es mir schlecht?
Unbewusst singe ich einen traurigen Song mit, während ich gemeinsam mit Papa den Tisch decke. In diesem Augenblick würde ich gerne eine Mauer um Marco bauen, um ihn vor allem Schrecklichen und Leidvollen zu bewahren.
Doch sie würde ihn einengen. Dessen bin ich mir bewusst. Deswegen käme es mir nie wirklich in den Sinn. Die Augen, die jetzt so tot aussehen, würden mir genauso tot entgegenblicken. Seine Freiheit ist im wichtig. Das habe ich letzte Woche gelernt.
Marco liebt die wilde Natur, die unendlichen Weiten. Wo man nie gewiss sein kann, was der nächste Moment bringen könnte. Auch sein Zimmer spricht dafür. Diese Fensterseite. Der Blick hinaus ist unglaublich. Ähnlich dem Gefühl in einem Baumhaus zu sein. Ja, Marco liebt seine Freiheit. Ohne Zweifel. Ich wäre die letzte, die sie ihm streitig machen würde.
Meine Klasse hingegen will sie mir nehmen. Meine persönliche Freiheit. Ich habe sie mir gerade ein Stückchen erarbeitet. Die Freiheit zu tun und zu lassen wann und wie ich möchte. Jene Freiheit war mir mit Linh versagt. Bei ihr hatte ich so zu handeln, dass es ihr gefällig war. Nicht mehr und auch nicht weniger. Ab Heute nicht mehr. Jetzt bin ich mein eigener Herr. Keineswegs weniger.
Doch die Klasse sieht es nicht ein, mir dieses zu gewähren. Hinzu kommt noch eine große Portion Eifersucht. Kann ich mir zumindest gut vorstellen. Immer hin sitze ich kleines Mauerblümchen bei den angesagten Schülern. Insofern werden sie immer gemeiner zu mir. Zum Beispiel haben sie Heute ein Hasslied über mich geschrieben und es immer wieder angefangen zu singen. Natürlich war mein neues Selbstvertrauen dahin. Alles kehrte zurück. Die Pause verbrachte ich danach nicht bei Amy sondern auf den Mädchentoiletten. Magen und
Kopfschmerzen stellten sich ein.
Eben war Marco am Nachmittag aufgetaucht, war alles vorbei, alles Schlimme wieder vergessen. Nicht darauf achtend kamen seine traurigen Augen. Und zum zweiten Mal bekomme ich Magenschmerzen. Niemals sollte jemand Grund haben so traurig zu sein! Jede vergossene Träne ist eine zu viel. Heute waren auch noch gleich zwei Menschen niedergeschlagen. Zwei Menschen zuviel.
Trotzdem verdrängt nach dem Essen die Sorgen um die Schule das Problem mit Amira und Marco. Ich war heute in den Pausen nicht bei Amy. Wie soll ich ihr so etwas nur erklären? Sonst hatte sie zwar auch immer Verständnis für meine Kurzschlussreaktionen. So ist das ja nicht. Allerdings würde auch ihr Geduldsfaden irgendwann nicht mehr standhalten. Irgendwann würde sie sich fragen, wann endlich eine Verbesserung eintreten würde.
Spürt sie meine Ängste? Im selben Augenblick,
mein Gedankengang ist gerade fertig, klingelt mein Handy. Unsicher drücke ich auf den grünen Hörer.
„Emilie Alou?“
„Ja, hey. Hier ist Amy. Was haben sie heute wieder mit dir angestellt?“
Kein Ton von Vorwürfen an mich. Nicht ein leiser Verdacht, ich wäre nicht mehr an unserer Freundschaft interessiert und wäre deshalb nicht gekommen.
Sie können ohne Angst leben. Das bedingungslose Vertrauen einiger Menschen in andere ist etwas, welches ich kaum in der Lage bin zu Begreifen oder gar Nachzuvollziehen. Selbst bei meinem Vater habe ich manchmal das Gefühl, er belügt mich. Welche Gründe ihn dazu veranlassen, könnte ich nicht benennen.
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
„Am besten mit dem Anfang.“, kommt prompt die Antwort. Kein Hauch von Scherz. Frage und Antwort sind einem Film ähnlich. Es stört nicht.
Mir fällt es auch nicht wirklich auf. Ich platze einfach heraus. Mit allem. Nur mit Marco nicht. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Finde ich. Die geht keinen anderen etwas an. Auch meine beste Freundin nicht. Zumindest noch nicht. Später vielleicht.
„Das hört sich nicht gut an. Bist du morgen trotzdem wieder bei uns?“
„Ja, ich denke schon. Hoffentlich baut mich das ein bisschen auf. Wahrscheinlich war es ein Fehler nicht zu kommen.“
„Gut. Wir wollten morgen bei den Säulen stehen.“
„Warum dieser Platzwechsel?“ Da war es schon wieder.
„Erkläre ich dir morgen. Bis dann, ja?“
„Ja, bis dann.“
„Und, Mimi?“
„Ja?“
„Ich habe dich lieb.“
„Ich dich auch.“
Klick. Leitung tot. Ich lebe. Noch.
Also morgen bei den Säulen? Warum? Das ist fast am anderen Ende der Pausenhalle. Eigentlich sind es Pappsäulen. Ähnlich den Litfaßsäulen. Hier hängen dann Informationen zu verschiedenen Aktivitäten und ähnlichen Dingen. Urplötzlich denke ich an Linh. Hat sie etwa was damit zu tun? Linh. Linh.
Marco. Wie nur kann ich seine traurigen Augen wieder zum Lachen bringen, wie nur? Sie haben es nicht verdient so traurig zu sein. Bei weitem nicht. Nicht so wie er mir versucht mir zu helfen. Vielleicht sollte ich zu Amira gehen. Möglicherweise bekomme ich da eine Idee. Ideen hat man manchmal an den absurdesten Plätzen.
Dieser Gedanke beruhigt. Und was mache ich mit Amy? Über die Änderung wundere ich mich immer noch und habe auch Angst davor. Hatte ich denn je einen Grund, Angst vor ihr oder ihrem Handeln zu haben? Nein. Sein oder nicht
sein, Vertrauen oder Angst, dass ist hier die Frage. Vertrauen. Sein. Dafür möchte ich mich heute so gerne entscheiden. Trau ich mich das denn? Ja. Das tue ich.
Glücklich diesen Entschluss gefasst zu haben, kann ich endlich in Ruhe mein Bett aufbauen und schlafen. Ganz in Ruhe. Ohne Panik. Keine Problemslösungsversuche. Nur schlafen, vertrauen, hoffen. Mein letzter Gedanke bevor ich einschlafe gilt Marco. So traurige Augen…
Zu erst begegnet mir in der Schule Amy. Vergnügt lächelt sie mir entgegen und plappert los. Alles was sie tut oder auch nicht, lässt mich beruhigt aufatmen. Sie hat meine Augenringe nicht bemerkt. Hässliche Augenringe, die mich unglaublich alt aussehen lassen.
Alpträume ohne Ende haben mich gestern Nacht gequält. Nur weil ich mir selber versprochen habe Amy zu vertrauen. Meine Träume zeigten mir, was alles passieren kann, wenn ich das
täte. Ganz tief in mir weiß ich: Nichts davon ist wahr! All das würde mir Amy nie antun. Davon bin ich überzeugt. Manchmal. Die ganze Nacht habe ich gegen diese Angst und die Alpträume angekämpft. Es ist mir bis zum Weckerklingeln nicht gelungen. Ich musste eine Extraschicht Make-up auflegen. Man sieht sie trotzdem.
Amy geleitet mich noch zu Klasse. Demonstrativ nimmt sie mich in die Arme, kurz nachdem wir vor der Klasse angekommen sind und sie sich verabschiedet. Oh, wie gern ich sie habe! Meine neue beste Freundin!
Im Klassenraum ist es seltsam ruhig. Meine Klassenkameraden grinsen sich komisch an.
Zu gerne vergleiche ich sie jetzt mit Hyänen. Hinterlistig, tückisch, niemals ehrlich und greifen immer von hinten an. Sie jagen niemals selber. Aasfresser! Alles Feiglinge, allesamt!
Schockiert setze ich mich kerzengerade auf. Das war gerade das erste mal, wo ich sie beleidigt habe! Zwar nicht laut vor allen. Zum ersten Mal
gebe ich nicht mir sondern ihnen die Schuld. Amy wäre Stolz. Gleich in der Pause muss ich es ihr erzählen, wenn wir alle beim Schotti…
Ach ja. Heute ist ja bei den Säulen treffen. Auch egal. Egal? In der letzten Nach war es mir nicht egal! Weshalb ausgerechnet jetzt, wenn ich nicht schlafen kann? Na, toll. Jetzt verulke ich mich schon selber. Was ist nur los? Kommt das vielleicht vom Schlafmangel? Oder von Amys Umarmung? Wahrscheinlich. Wer einem so öffentlich die Freundschaft bestätigt, kann einem nicht mehr ein Messer in den Rücken rammen. Doch. Linh konnte es. Sie hat es getan.
Trotzdem: Amy ist nicht Linh. Und Linh ist in keiner Art und Weise Amy. Die Eine meinte es nicht ehrlich mit mir, die Andere schon. Ein großer Unterschied, der alles verändert. Und das ist das Wichtigste.
Wir haben gerade Mathe. In Mathe bin ich gut. Genau wie in den anderen Fächer. Unser aktuelles Thema ist so leicht, die Aufgaben
könnte ich im Halbschlaf lösen. Mein Mathelehrer denkt, er könne mich beim träumen erwischen und fragt mich nach der Lösung einer Tafelaufgabe. Nach einem kurzen Blick an das Tafelbild mit der Funktion gebe ich ihm das korrekte Ergebnis. Verblüffung ist einer der Ausdrücke, wo der Mensch dem Affen am ähnlichsten sieht. Ich lächle in mich hinein. Ok, ich habe ein wenig geschummelt oder wie auch immer man es nennen möchte, wenn ich die Lösung schon als Hausaufgabe in meinem Heft stehen habe.
Was wohl Marco sagt, wenn ich ihn nachher anrufe und ihm das alles erzähle. Der wird sich freuen, glaube ich zumindest.
Nach der Stunde gehe ich still, wie immer, zu den Säulen. Der Rest ist noch nicht da. Haben sie mich veralbert? Sitzen sie vielleicht jetzt beim Schotti und lachen über mich? Noch nie war ich die erste von der Clique. Endlich kommt Amy. Mit Abdullah.
„Tut uns leid. Der Lehrer hat uns noch aufgehalten.“
„Ist nicht schlimm.“ Solange ihr noch kommt. Auf einmal überkommt mich ein großer Schauder. Eine Clique aus meiner Klasse steht plötzlich neben uns. Mir fällt ein, dass sie eigentlich hier stehen.
Diese Clique ist die größte in unserer Klasse. Nur die Angesagtesten und Gemeinsten sind da drinnen. Sicherlich werden sie gleich anfangen über mich zu reden. Niemals würden sie mich hier bemerken, im Kreise der Anderen. Und selbst wenn. Stören tut sie schon lange nicht.
Langsam wird unsere Runde größer. Gleich neben mir stehen Amy und Frederick. Schon höre ich die Leute hinter mir meinen Namen sagen, noch einmal und schon wieder. Plötzlich dreht sich Amy um.
„Habt ihr was gesagt?“ Oh, wenn Blicke töten könnten! Auf der Stelle würde meine Klasse tot umfallen.Â
„Ähm… Nichts, nein.“
„Sicher? Ich habe da doch den Namen meiner besten Freundin gehört und dazu noch Schlampe. Besteht da irgendein Zusammenhang?“
„Öh, nein.“
„Scheint mir aber so.“ Und dann lässt sie eine Predigt ab, die sich gewaschen hat. Abdullah mischt sich noch mit ein. Er redet auf unseren Klassensprecher ein. Kurz danach gestikuliert auch Frederick munter mit. Allerdings hat er gleich mit drei Leuten zu tun. Schließlich reden alle meine neuen Freunde auf die Klassenclique ein. Niemand scheint auf die anderen zu achten. Man versteht kaum sein eigenes Wort in dem ganzen Gedränge. Mir macht es ein bisschen Angst. Fast schein es, als wollten sich die Jungen miteinander raufen. Letztendlich kommt ein Lehrer und zerrt die Rotte auseinander. Zitternd stehe ich daneben, während sich die Jüngeren verdrücken. Ich sagte ja bereits: Feige
wie Hyänen! Amy und die anderen rufen hinter ihnen her.
„Haha!“, lacht mich Amy an, nachdem die restliche Klassenclique nicht mehr zu sehen ist. „Die reden nicht mehr so schnell in deiner Anwesenheit über dich. Und die Streiche dürften für das erste auch erst mal aufhören.“
Das Zittern hört nicht auf.
Abdullah sieht mich besorgt an. „Alles klar mit dir, Mimi?“
„Ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Nicht wegen mir.“ Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich Einen nach dem Anderen an. „ So was bin ich doch gar nicht wert.“, kommt es nur noch flüsternd über meinen Lippen. Tränen rollen mein Gesicht entlang. „Das bin ich nicht wert.“, wiederhole ich unter schluchzen. Spontan und fest nimmt mich Amy in die Arme und sagt: „Doch, dass bist du.“
Urplötzlich bin ich der Mittelpunkt eines riesigen Menschenknäuls, der Grund für ein
Gruppenkuscheln, die, die es wert ist sich mit anderen fast zu Prügeln, ein Teil ihres Lebens, in ihrer Gemeinschaft aufgenommen. Diese Dinge haben sie eindrucksvoll bewiesen. Der Teil eines Ganzen, der Teil einer Clique. So wie ich es mir immer gewünscht habe. Nun habe ich es erreicht, was ich immer wollte. Jetzt. In so kurzer Zeit. Und das habe ich geschafft. Fast ganz alleine.
Als ich nach der Pause wieder in die Klasse komme, ist sie ganz ruhig. Die Schüler stehen leise flüsternd zusammen und werfen mir scheue Blicke zu. Sie hassen mich immer noch. So weit kann es sich gar nicht ändern. Doch sie haben auch Angst. Nicht vor mir. Sondern davor, ich könnte es den anderen sagen und meine Clique würde für mich handeln.
Während der folgenden Geschichtsstunde muss ich erneut innerlich lachen. Im Prinzip hatten meine Freunde einen alten Trick angewendet. Ein Kindergartentrick. Wenn man dort geärgert
wurde, gab es einen sehr beliebten Satz: „Ich sag‘ es meinem großen Bruder und der haut dich!“ Manchmal hatte man Erfolg.
Hier haben meine Freunde das gleiche Prinzip angewendet. Dem Gegner Angst machen, damit die kleine Schwester beschützt ist. Nichts anderes. Banal einfach. Wirksam.
Den restlichen Schultag überstehe ich unbeschadet. Bevor ich ins Auto zu Papi steige, treffe ich noch auf Amy und Abdullah. Strahlend nehme ich sie beide in die Arme und bedanke mich. Ich erzähle ihnen noch schnell, wie sich meine Klasse nach dem verbalen Angriff auf mich reagiert hat. Wir lachen. Danach lade ich sie noch zu mir ein. Abdullah kann leider nicht. Er muss arbeiten. Amy kommt gegen drei.
Meinem Vater eröffne ich das neueste beim gemeinsamen Mittagessen. Auch er lacht darüber. Zwar meint er, psychologisch gesehen wäre es nicht sehr ausgereift, aber wenn es
hilft. Soweit sein Kommentar.
Herrlicher Tag heute!
„Ich bin es nicht wert.“ Geradeso waren meine Worte und so meinte ich es auch. Eigentlich bin ich es auch nicht wert. Noch nicht. Vielleicht in ein paar Jahren. Wenn ich richtig in die Clique integriert wäre. Aber aus irgendeinem absurden Grund, den ich beim besten Willen nicht erkennen kann, habe ich es in so kurzer Zeit geschafft so wertvoll zu sein, dass man wegen mir fast eine Prügelei anfängt. Man könnte sagen, in diesem Moment kamen alle Gefühle der Welt auf mich zugestürmt. Alle positiven Gefühle. Jedes Glücksgefühl der Erde, jede Freude fand den Weg zu mir in diesem Augenblick. Gefühlsschock nennt man so etwas, glaube ich. Und das der kleinen Emilie Alou, die eigentlich nicht mehr wollte, als den Traum von ein paar guten Freunden, der große Liebe und von einem ruhigen Leben. Stattdessen bekomme ich gleich eine ganze Horde guter
Freunde, den perfekten Mann für mich, zumindest als Kumpel und einige einigermaßen ruhigen Augenblicke. Unglaublich!
Gegen drei ist Amy dann da. Ganz gemütlich setzen wir uns mit Tee und Keksen in mein Zimmer.
„Das war heute ein Spaß.“
„Ja. Wie ihr sie nieder geredet habt. Ich dachte, ihr wollt euch jeden Augenblick anfangen zu prügeln.“
„I wo, aber ein bisschen Angstmache hatten wir schon eingeplant.“
„Geplant? Ihr habt das alles geplant?“
„Ja, am Tag vorher. Wir konnten es nicht mehr mit ansehen, wie du jeden Tag vor Angst zitternd zu uns in die Pause kamst. Und dann noch das was sie dir gestern angetan haben. Dann habe ich mit einigen gestern telefoniert. Alle waren sofort dabei. Den Rest, den wir gestern nicht erreicht haben, haben wir dann heute Morgen informiert. Auch sie waren
restlos begeistert. Nur deswegen habe ich eigentlich gestern angerufen. Durch Beobachtung wussten wir, wo der Hauptteil deiner Klasse stand. Die restliche Geschichte kennst du ja.“
„Sie waren alle dabei, ich meine, alle haben ja gesagt? Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden?“
„Nein. Wieso? Sollten sie?“
„Nicht doch! Aber wir kennen uns doch erst ein paar Wochen.“
„Man, oh, man, Mimi! Ich muss dir mal was erzählen: Wenn man dich sieht, denkt man erst du wärst eine dummes Mädchen, von Hochmut und Eitelkeit gezeichnet. Das schließen die Meisten daraus, dass du nicht auf andere zugehst. Sie denken dann, du würdest denken, sie wären es nicht wert, mit deiner Anwesenheit beehrt zu werden.“
„Eitelkeit?“
„Ja. Du bist nicht gerade das, was die normale
Gesellschaft als hässlich bezeichnen würde. Nun ja. Ich habe schon gesagt, es ist auch nicht gerade deine Stärke auf andere zuzugehen. Daraus lässt sich leicht ein falscher Schluss ziehen. Auf jeden Fall hast du zusätzlich die Eigenart Fremden eiskalte Blicke zuzuwerfen und ebenso frostige, ich meine damit kurze antworten geben.
Andererseits schaust du so traurig drein, man vergibt dir das Vorherige problemlos und man möchte dich eigentlich nur noch in den Arm nehmen, um dich zu trösten.
Kennst du die Person erst mal besser, bist du so offen und herzlich, unvergleichbar zum Anfang. Für deine Freunde würdest du durch die Hölle gehen, nur um ihnen einen kleinen Nadelstich zu ersparen. Es dauert zwar manchmal, bis diese Wandlung durchgemacht ist. Aber wenn es dann soweit ist, bist du unwiderstehlich!“
„Mhm. Darüber muss ich erst mal nachdenken.“
„Nicht, dass du durch meine Worte jetzt
tatsächlich hochmütig und eingebildet wirst.“
„Nein, nein. Hab deswegen keine Angst um mich.“
Wir sprechen noch ein bis zwei Stunden weiter, dann verabschiedet sich Amy. Es war sehr interessant, was sie so über mich erzählt hat. Amy hat mich genau analysiert. Wie ich es manchmal mit meinen Mitmenschen mache. Hoffentlich fühle ich mich jetzt nicht immer beobachtete.
Zuerst einmal muss ich jetzt Marco anrufen. Leider immer noch aufs Festnetz. Jedes Mal vergesse ich es, nach seiner Handynummer zu fragen.
„Marco Radorn?“
„Hey. Hier ist Emilie.“
„Ach, hey Mimi. Na, wie geht es dir?“
„Ganz gut. Genauer gesagt, ziemlich gut. Und dir?“
„Einigermaßen. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Amiras Werte sind im Moment
einigermaßen stabil. Aufgewacht ist sie trotzdem noch nicht.“
„Das tut mir leid, Marco.“
„Nun ja, da kann man nichts machen. Und du kannst da am allerwenigsten was für. Warum rufst du eigentlich an?“
„Heute ist etwas ganz tolles in der Schule passiert. Du wirst es kaum glauben!“
„Was denn?“
Daraufhin erzähle ich ihm alles bis ins kleinste Detail. Marco ist begeistert von Amys Aktion. Auch davon, wie ich ihnen heute, zumindest im Kopf, die Schuld für meine Situation gegeben habe.
„Da wäre ich gerne bei gewesen. Die dummen Gesichter hätte ich zu gerne gesehen. Ich bin ganz stolz auf dich.“
„Warum?“
„Weil du endlich einsiehst, dass nicht du allein Schuld an allem bist.“ Zum Glück kann er nicht durch das Telefon schauen, sonst würde er mein
hochrotes Gesicht erkennen. Hilfe! Er ist stolz auf mich! Ist man so etwas nicht nur auf seine Kinder oder auf ganz enge Freunde? Diesen Gedanken lässt mich Marco nicht zu Ende ausspinnen.
„Das müssen wir feiern, Mimi. Hättest du Lust mit mir essen zu gehen?“
„Na - Natürlich.“
„Gut. Ich hole dich dann übermorgen so um sieben ab. Alles klar?“
„Ok. Bis Freitag.“ Wir legen auf.
Papa ruft zum Essen. Fragt gleich, wie Marco reagiert hat. Während wir gemeinsam den Tisch aufdecken, berichte ich, was Marco gesagt hat. Von seiner Einladung zum Essen berichte fast flüsternd. Ein bisschen heiser. Es ist mir ein klein wenig peinlich, denn für meinen Papi muss es sich nach einem Rendezvous anhören.
Schon fängt er an mich zu piesacken. Langsam müsse er sich jetzt ja mal eine Schrotflinte besorgen, damit er die Jungs auch wieder
loswürde, die hinter mir her seien. Ob ich mir auch alles gut überlegt hätte. Denn ich würde ja allein mit einem Jungen losziehen, was da nicht alles passieren könnte. Solle er nicht lieber mitkommen? Wie das überhaupt hätte kommen könnte, ich würde gar nicht zu Marcos Leben passen.
Bei diesem Thema wird er erst. Leben. Kann ich mein bisheriges Leben weiter führen? Würde ich weiterhin gute Zeugnisse mit nach Hause bringen, falls es mit Marco klappen sollte?
Hier muss ich ihn dann doch stoppen. Wir wären nicht in einander verliebt. Marco freue sich nur mit mir mit und wolle mir etwas Gutes tun. Belohnungsprinzip. Nach dieser Erklärung lächelt Papi sein leichtes Lächeln und schaut wissend vor sich hin. Ich mag es nicht, wenn er dieses Gesicht aufsetzt. Er tut es dennoch und ich muss damit leben.
Noch am selben Abend beschließe ich Amira zu besuchen. Die Lösung zu einem unbekannten
Problem ist nicht einfach zu finden, zum Glück ist es nichtsdestoweniger möglich. Vielleicht kann ich Marco schon eine Freude machen, indem ich mit ihm essen gehe. In mir steigt ein Gefühl auf, als sei es noch nicht genug. Immer hin bezahlt er. Wahrscheinlich erinnert ihn das dann an die hohen Arztkosten und damit wieder an Amira. So wäre mein Plan, das Lachen wieder in seine Augen zu Zaubern, gescheitert. Nein, ein anderer muss her. Mir kommen bestimmt beim Anblick von Amira Ideen. Marco soll trotz ihres Unfalls lachen können. Noch ist nichts verloren. Sie ist noch nicht tot.
Â
Gleich nach der Schule mache ich mich auf den Weg. Das Krankenhaus, in welchem Amy liegt, ist nicht weit weg von der Schule. Höchstens zwei Kilometer. Außerdem hält sich das Wetter ein bisschen. Daher kann ich den Weg auch laufen. Papa muss sich nicht extra bemühen und kann direkt nach der Arbeit nach Hause fahren.
Also laufe ich los. Den Wind im Gesicht zu spüren ist erfrischend nach der muffigen Schulluft. Vor allem ist wichtig, es wird mit der Zeit nicht zu kalt.
Nachdenklich stapfe ich dahin. An der Rezeption wird bestimmt eine Schwester sitzen. Da muss ich fragen, wo Amira liegt. Ich habe mich bei Marco nicht danach erkundet. Schon jetzt bin ich deswegen ein bisschen nervös. Aber es muss sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit fällt mir hier etwas Passendes ein. Und auf dem Weg bin ich auch schon. Ab jetzt gibt es kein zurück.
Bis wann ich brauche, um im Krankenhaus anzukommen, weiß ich nicht. Die Uhr in der Eingangshalle interessiert mich nicht. Der einzige Gedanke, den ich augenblicklich fassen kann ist, ob die Schwester freundlich sein wird. Unzweifelhaft, sie ist nett. Höflich fragt sie, zu wem ich möchte. Lieb lächelt sie mich an. Unterdessen versuche ich ohne stottern in
Erfahrung zu bringen, in welchem Zimmer Amira untergebracht wurde. Abgesehen von einem mitleidigen Lächeln, sagt sie mir ohne großen Stimmungsumschwung die Zimmer- und Stocknummer.
„Sie wissen, dass Frau Radorn nicht mit ihnen sprechen kann?“
„Ja, es ist mir bekannt. Ich bin auch nicht hier um mit ihr zu reden. Nur sehen will ich sie.“
Guter Dinge nehme ich den Fahrstuhl in den dritten Stock. Amira darf zurzeit nur Besuch empfangen, weil ihre Werte stabil sind. Andererseits dürfte niemand zu ihr.
Man, bin ich froh! Allein habe ich es geschafft, diese Frau anzusprechen und jetzt gehe ich gerade zu einer völlig fremden Person ins Krankenhaus. So etwas hätte ich mir nie zugetraut. Aber ich habe es geschafft. Nur ich!
Vor dem Zimmer angekommen, befällt mich kurz ein mulmiges Gefühl. Falls da Amiras Eltern drinnen sitzen!
Egal. Gedacht, getan. Geklopft, Klinke betätigt und rein. Herzklopfend stehe ich an Amiras Bett. Sollten sich Geschwister nicht zumindest ein bisschen ähnlich sehen? Mit Ausnahme der Haarfarbe und Haarstruktur kann ich keine Übereinstimmung finden. Möglicherweise sind sich die Augen gleich. Die kann heute nicht beurteilen. Im Gegensatz zu Marco ist Amira bleich. Dieser Umstand könnte aber auch am Unfall liegen. Ihre Gesichtszüge sind weich und ungeachtet ihrer Blassheit warm. Sehr feminin. Wäre komisch, hätte ihr Gesicht Ähnlichkeit mit Marcos harten Konturen. Schlank und wohlproportioniert ist sie außerdem auch noch. Ein hübsches Mädchen.
Leise ziehe ich mir einen Stuhl neben ihr Bett. Schweigend betrachte ich ihr Gesicht. Niemals hat sie es verdient so hier zu liegen. Sicherlich wird sie aufwachen. Dessen bin ich sehr sicher. Amira sieht nicht todgeweiht aus. Solche Personen sehen anders aus.
Mir will nichts einfallen. Still und unbeweglich liegt sie da, gibt mir keinen Hinweis auf irgendetwas. Versunken in ihr vergeht die Zeit. Papi hat gesagt ich solle ihn anrufen, falls er mich abholen soll.
Unerwartet legt sich eine Hand auf meine rechte Schulter. Der Arzt, der meine Besuchszeit beenden will? Nein. Marco lächelt zu mir herunter. Sein Blick schweift auf Amira und das lächeln verfällt. Regungslos verharren wir ein paar Minuten, mit dem Blick auf Amira. Von hinten muss es so aussehen, er tröstete mich und nicht umgekehrt. Komischer Gedanke.
Noch immer bin ich zu keiner Idee gekommen. Enttäuscht stehe ich auf. Es bringt nichts mehr hier zu sitzen. Die Sonne ist bereits untergegangen und Marcos Hand ist eisig kalt. Amira liegt da und regt sich nicht. Wie sollte sie auch. Ein trauriger Anblick. Kein Wunder, dass Marco so niedergeschlagen aussieht. Traurig, aber wahr: Solange seine Schwester
hier liegt, ist er immer in Gedanken bei ihr und es wäre ein kindisches unterfangen ihn davon abbringen zu wollen. Zudem noch unmöglich.
„Hey.“, flüstert Marco. Braune Augen sehen mich an. Kein Stückchen von dem sonstigen grün ist darin zu finden.
„Hey.“, flüstere ich zurück.
„Was machst du hier?“
„Ich wollte deine Schwester besuchen. Du wärst doch auch meinen Vater besuchen gekommen, oder nicht?“
„Deinen Vater kenne ich aber.“
„Was hat das damit zu tun? Irgendwann werde ich Amira auch wach kennenlernen.“
Traurig schüttelt Marco den Kopf. Unschön wird mir klar, er glaubt nicht mehr daran, dass Amira aufwacht. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Dabei liegt sie erst eine knappe Woche im Koma.
„Doch, glaub mir Marco.“ Verdammt schwer flüsternd eindrucksvoll zu klingen. Verzweifelt
packe ich ihn an seinen Oberarmen und schüttele sie ein wenig. „Vertrau mir, Marco. Sie wird wieder aufwachen. Ihr Leben ist hier noch nicht zu Ende. Amira hat hier auf Erden noch viel zu erleben. Schon allein, um dir wieder ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, wenn du mit ihr zum Spaß herumzankst. Marco! Deine Schwester wird weiterleben! Bitte, gib die Hoffnung nicht auf!“
Den Blick von ihm vermag ich nicht zu deuten. Trauer, Leid, Verzweiflung und dennoch ein kleiner Schimmer von Hoffnung zeichnet sich darin ab. Auge in Auge stehen wir da. Keine Ahnung wie lange. Ich weiß nur, irgendwann hat mich Marco zu sich herangezogen und dann stehen wir fest umarmt neben Amiras Bett. Später kommen noch Amiras und Marcos Eltern herein. Gerührt davon, dass ich hier bin, schütteln sie meine Hand. Die beiden sind die älteren Ausgaben von den Geschwistern. Diese Ähnlichkeit zwischen Sohn und Vater ist fast
ein bisschen beängstigend. Doch ich muss feststellen, Herr Radorn sieht immer noch ziemlich gut aus. Nie hätte ich ihn älter als vierzig Jahre geschätzt und doch muss er schon Mitte fünfzig sein.
„Ich bringe Emilie nach Hause.“, gibt Marco seinen Eltern bescheid. Wir gehen. Zusammen. Hand in Hand. Nicht wie ein Paar. Eher, um uns gegenseitig festzuhalten. Händchenhaltend fährt mich Marco auch Heim. Nur zum Schalten lässt er meine Hand kurz los. Kein Wort wird gewechselt nur Blicke und Händedrücke. Ein Gefühl ist da, welches wir nicht durch Sprechen vernichten wollen.
Vor der Haustür umarmen wir uns noch einmal.
„Bis morgen.“, ist das einzige, was Marco sagt, bevor er wieder zu Amira fährt.
Â
Kapitel 7
Am besagten Freitag, nach der Dusche, kommt mir ein Gedanke, der einschlägt wie ein Blitz. Was, um Himmelswillen, soll ich anziehen? Wie wird sich Marco kleiden? In was für ein Restaurant werden wir gehen? Nirgendwo kann ich mich orientieren. In heller Verzweiflung rufe ich Amy an. Verblüfft stelle ich fest, wie ruhig sie ist, während ich hier fast verrückt werde.
„Ich komme schnell vorbei.“, sagt sie und legt auf.
Innerhalb von einer Viertelstunde ist sie da. „Dann wollen wir mal schauen, was du alles im Schrank hast.“
„Für jeden Anlass etwas, aber ich weiß nicht, wo Marco mit mir hin will. Deswegen weiß ich nicht, was ich anziehen soll. Ich habe auch keine Ahnung, wie er hierher kommt.“
„Die Verabredung“, dieses Wort betont sie komisch. „ist am Freitagabend. „Date-time“ würde ich sagen. Zudem hat er gesagt, ihr würdet Essen gehen, typisch erstes Date. Also müsstest du etwas Schickeres anziehen. Nicht zu auffällig, doch auch nicht so, als wärst du eine graue Maus.“
„Warum denkt nur jeder es wäre ein Date? Wir sind nur Freunde, die mal etwas miteinander machen. Außerdem hängt er bestimmt noch an Linh. Wir kennen uns erst seit kurzem.“
„Klar. Und weil es ja kein Date ist, machst du auch keinen großen Wirbel um dein Aussehen. Marco hatte genügend Zeit, dich gut kennenzulernen. Nach der Art und Weise, wie ihn Linh die letzter Zeit vor der Trennung behandelt hat und dann, wie sie euch beide beschuldigt hat: Da dürfte kaum noch von Liebe die Rede gewesen sein, eher von Hass oder Vergessen. Und warum sollte er dich nicht daten?“
„Vielleicht, weil ich nicht so schön bin wie Linh?“, werfe ich ihr verdrossen an den Kopf. Muss man immer wieder darauf rumhacken?
„Das hat dir Linh eingeredet, richtig? Damit hat sie so was von unrecht. Wahrscheinlich hatte sie nur davor Angst, du könntest dir irgendwann deiner Schönheit bewusst werden und in Konkurrenz zu ihr treten. Du bist nämlich sehr schön. Mindestens genauso wie Linh, wenn nicht gar hübscher.“ Amy streichelt kurz meine Wange und wendet sich dann wieder meinem Kleiderschrank zu. Zwischen herumliegenden Hosen, Rocken und Blusen frage ich Amy: „Wie hat Linh denn Marco behandelt?“
„Ach, wie einen Butler. Ständig musste er ihr etwas holen, immer auf Abruf bereit sein, wenn sie mal die Gnade hatte anzurufen. Im Groben und Ganzen: Er war ihr persönlicher Leibdiener. Mich wundert es, dass er noch so lange bei ihr geblieben ist. Ha! Das hier hat doch Stil.“ Meine beste Freundin hat eine helle Jeans mit
einer weißen, kurzärmeligen Bluse kombiniert. Die Bluse ist nach oben zugeknöpft und mit kleinen Rüschen am Kragen und den Knopf- und Lochleiste verziert. Insgesamt sieht sie etwas altmodisch aus. Doch zu den beiden Teilen hat Amy noch einen breiten, knallroten Gürtel ausgesucht. Einen nach der Art, die fast ausschließlich aus einem Gummizug bestehen und knapp unter dem Busen sitzen müssen.
Schon halb sieben! Amy hilft mir noch den Schmuck auszusuchen. Wir entscheiden uns für Perlenohrstecker, sowie eine enganliegende Perlenkette, bestehend aus kleineren Perlen. Dazu einen einzigen Armreifen. Danach schminke ich mich dezent mit Amy Hilfe. Meine Haare käme ich gründlich durch, lasse sie aber offen.
Papi kommt herein, um mich „abzusegnen“. Er findet ich kann so gehen. Toll!
„Fühlst du dich so wohl?“, fragt Amy mich. Noch eine kurze Kontrolle, ob ich nicht zu sehr
geschminkt bin. Alles ist perfekt. Ich lächle ihr zu.
„Pudelwohl!“
„Ok. Das ist nämlich das wichtigste. Ach! Fast vergessen! Was für Schuhe ziehst du dazu an?“
„Ich dacht mir, diese einfache Turnschuhe im 80er Jahre Stil, die wir noch gefunden haben.“
„Ja, stimmt. Die passen gut dazu. Alles klar, ich bin dann mal weg. Viel Spaß!“ Bussi links, Bussi rechts. Bald darauf ist Amy wirklich weg.
Allein mit Papa warte ich auf mein Date. Halt! Ist es wirklich ein Date? Wollte ich Amy vorhin nicht vom Gegenteil überzeugen?
Plötzlich fährt ein Auto auf unseren Hof. Eine Person steigt aus und verschwindet vor der Haustüre. Klingeln. Mein Vater geht hin. Leicht zitternd bleibe ich in der Küche mit meinem Mantel zurück. Nicht ein Wort dringt an mein Ohr bis die beiden in der Küche angekommen sind. Kurz bevor sie da sind, stehe ich ruckartig auf und zupfe alles zurecht. Bin ich vielleicht
doch zu sehr aufgestilt?
Marco kommt rein und ich hebe meinen Blick. Direkt vor mir bleibt er stehen. Seine Augen glänzen und das Gesicht strahlt vor Freude. Er sieht ziemlich gut aus.
Zwar trägt er auch helle Jeans, dazu allerdings schicke Schuhe, passend zu einem Anzug. Zudem trägt er ein langärmliges weißes Hemd mit einer schwarzen Weste, die dünne weiße streifen hat. Die Haare sind gekämmt. Trotzdem locken sie sich in gewohnter Manier. Wieder einmal denke ich daran, wie gut er eigentlich aussieht. Interessant und gut.
Einen langen Augenblick sehen wir uns die Augen. Diese Augen! So wunderschön. Jetzt sind sie auch wieder braun-grün! Ganz deutlich sehe ich diese kleinen dunkelgrünen Tupfer.
„Wow!“, ist das erste, was Marco herausbringt. Im Moment denkt er nicht an Amira. Sorgen, die er im Auto vielleicht noch gehabt haben mag, sind wie Seifenblasen geplatzt. Fröhlich lächelt
er mich an. Allzu deutlich spüre ich, wie mein Blut in mein Gesicht steigt.
„Gleichfalls.“, gebe ich das Kompliment leicht heiser zurück.Â
„Na dann. Lass uns mal losfahren.“
„Ok. Tschüß Papi.“ Schnell gebe ich ihm einen Schmatzer auf die Wange, bevor mit Marco gentelmanlike in den Mantel hilft und mich an der Hand zum Auto führt. Im Auto sieht er mich an und sagt: „Du siehst wirklich hammer aus.“
„Danke. Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“
„Besten Dank.“
„Darf ich erfahren, wohin wir die Reise geht?“
„Nein. Ich möchte dich überraschen.“
„Mhm.“ Während er den Wagen rückwärts herausmanövriert stütz er sich am Beifahrersitz ab und berührt leicht meine Schulter.
„Nicht böse sein.“
„Bin ich nicht.“
Marco schaltet ein Gang höher und ich bemerke
einen schlichten silbernen Ring an seinem rechten Ringfinger. Warum sollte ich ihn eigentlich nicht fragen? „Willst du mal heiraten?“
Erschrocken sieht er mich an, schaut auf seine Hand und fängt schallend an zu lachen.
„Ja. Weshalb sollte ich sonst Zeit mit einer Liebschaft verbringen, wenn ich nicht daran denke, diese später zu heiraten? Macht in meinen Augen keinen Sinn. Den trag ich allerdings nur, weil ichs schick fand.“
„Achso.“ Ziemlich ungeschickt von mir, so einen Quatsch zu fragen. Nie wäre er der Mann, der seine Frau betrügt. Kann ich mir zumindest nicht vorstellen.
Vor einem chinesischen Restaurant wird Marco langsamer. Auf dem Parkplatz müssen wir echt suchen, bis wir einen Platz finden. Das Restaurant scheint beliebt zu sein.
„Kriegen wir hier überhaupt noch einen Tisch?“
Schelmisch grinst er mich an. „Klar. Radorns
kriegen alles.“ Und wieder grinst er mich an. „Na komm.“
Aus Gewohnheit sehe ich zweifelnd an mir herunter und prüfend in den Seitenspiegel.
„Ach komm, Mimi. Eher müsste mir Angst und Bange um dich sein. Nein, eher um mich! Ich meine, die werden garantiert auf mich einprügeln, um mich loszuwerden, damit der Weg zu dir frei ist. Danach werden sie sich gegenseitig umhauen, weil sie sich nicht einigen können, wer dich zu Essen ausführen darf. Ich habe Angst um mein Leben, Mimi!“
Mittlerweile sind meine sozialen Erfahrungen soweit gediehen, dass ich diese Aussage als pure Ironie erkenne.
„Du siehst unglaublich aus, Mimi.“ Jetzt ist es an mir zu grinsen. Wie immer grinst er zurück.
„Komm. Wir feiern jetzt.“, mit diesen Worten steigt er aus, geht vorne um das Auto herum und öffnet mir die Wagentüre. „Bitte sehr, My Lady.“
Eine sichere Hand führt meine Finger in seine Armbeuge, nachdem sie die Türe zuschlug. Seite an Seite gehen wir auf das Restaurant zu.
Uns schlägt warme Luft und dichtes Gedränge entgegen. Der Laden ist voll bis oben hin. Ungeachtet dieses Umstandes fällt mir seine wunderschöne Aufmachung auf. Papierlampen hängen an den Decken, geben sanftes Licht. Auf den Tischen herrschen milde Orange- und Brauntöne. Ihre Papiersevierten sind aufwändig gefaltet.
„Ich hatte einen Tisch für zwei reserviert.“ In diesem Augenblick sieht Marco herrisch aus. Einem alten Adelsgeschlecht entsprungen, genau wissend, wen und was er repräsentiert, wie er sich verhalten muss, um seiner Familie und dem Stand zu entsprechen. Viele Romane wurden ihn in diesem Moment als ganzen Mann bezeichnen: Groß, stark, gut aussehen, der Frau an seiner Seite Schutz bietend.
Nachdem der Chinese in seinen Büchern
nachgesehen hat, führt er uns zu einem Tisch am hinteren Ende des Saales. Er ist ganz in eine Ecke gedrängt. Man kann ihn von den restlichen Tisch aus kaum sehn. Hat Marco ihn extra reserviert? Warum grinst er mich so anders an, als sonst? Wir setzen uns.
„Wollen Sie sich vielleicht hier Karte besehen.“, sagt der Kellner.
„Na dann.“, meine ich zu Marco. Bald darauf haben wir uns für ein Gericht bestehend aus edlen und seltenen Fischarten entschieden. Zwischendurch bekommen wir noch eine brennende Kerze auf unseren Tisch gestellt.
„Das wir ja ein richtiges Candle-light Diner.“, witzel ich herum und schaue auf mein Besteck, weil ich bemerkt habe, ins Schwarze getroffen zu haben.
„Lasset die Spiele beginnen.“, seufzt Marco und nimmt meine Hand. Mit ist nicht ganz klar, was ich von diesem Ausspruch halten soll. Doch Marco spricht schon weiter: „Ich muss dir
unbedingt was erzählen. Länger kann ich nicht warten.“
„Na los, sonst platzt du noch.“
„Ok. Halt dich fest.“ Automatisch fasse ich nach seiner anderen Hand und drücke sie beide einmal. „Amira ist wieder aufgewacht!“ Sein Gesicht und seine Augen erstrahlen so unvergleichlich glücklich, dass ich mir kaum vorstellen kann, ob er jemals wegen etwas anderem so ein Glücksgefühl empfinden wird. Egal. Amira geht es wieder einigermaßen gut. Zumindest ist sie aufgewacht.Â
„Jetzt kann es ja nur noch Bergauf gehen.“ Noch einmal drücke ich seine Hände. Unser Essen wird gebracht. Es sieht sehr schön aus. Die Veredelung und Verzierung hat sicherlich viel Arbeit gemacht. Unser weiteres Gesprächsthema ist Amira. Er erzählt sehr viel von ihrem Leben vor dem Unfall. Beim Nachtisch können wir uns dann von dem Thema losreißen und reden noch über dieses und jenes.
Rundherum ein schöner Abend. Das Ende kommt für uns beide viel zu schnell.
Marco hilft mir galant in den Mantel und hält mir wie schon bei der Ankunft den Arm zum einhaken hin. Natürlich nehme ich an. Gemeinsam verlassen wir den warmen Saal.
Am Auto angekommen, ist Marco gerade dabei mir die Türe aufzumachen, als er plötzlich innehält. Ohne Worte nimmt er meine Hände, sieht mir in die Augen. Mich überkommt etwas die Angst vor dem, was er mir vielleicht sagt. Sollte er nicht eigentlich noch Linh hinterher trauern? Nein, korrigiere ich mich. Eigentlich sollte er froh sein. Immer hin hat sie ihm seine persönliche Freiheit beraubt. Aber ich weiß wie er gerade das liebt. Somit ist im Grunde ein Teil von ihm wahrscheinlich sogar froh über die Trennung.
„Ich will dir keine Angst mach, Emilie.“ Behutsam streichelt er meine linke Wange und nimmt dann meine beiden Hände. „Das einzige,
was ich möchte ist, dass du dich mit unserer Freundschaft wohlfühlst. Linh soll nicht zwischen uns stehen und ich möchte auch nicht ständig an sie denken müssen, wenn ich dich ansehe. Kannst du ihr vergeben und dann vergessen?“
„Das erste Ja, aber das zweite nicht, Marco. Sie war zu lange meine beste Freundin. Von meiner Seite aus, steht sie aber gar nicht zwischen uns. Was auch immer das für uns bedeuten mag.“
„Gut.“ Seine Erleichterung ist spürbar. „Ich wollte nur geklärt haben, ob sie für einen von uns beiden noch eine entscheidende Rolle im Leben spielt.“
„Nein, bei mir nicht mehr. Das ist endgültig vorbei.“
„Dann ist alles klar. Ich fahre dich jetzt besser nach Hause.“ Während wer mir die Wagentüre öffnet, schaue ich auf die Pflastersteine. Was sollte das? Wie kommt er auf einmal auf Linh? Hat er mir angesehen, wie ich darüber denke?
Oder war das ehrlich? Bestimmt, versuche ich mich selber zu beruhigen. Alles ist in Ordnung. Bei mir Zuhause angekommen, bleibe ich noch kurz im Auto sitzen, mache ihm ein Kompliment über den Abend, woraufhin er lächeln muss.
„Warum lächelst du jetzt?“
„Erinnert dich diese Situation nicht gerade auch sehr an einen schnulzigen Liebesroman?“
Meine Augen wissen nicht wohin sie schauen sollen.
„Am nächsten Samstag ist bei mir eine Party. Hast du Lust darauf meine weibliche Begleitung zu sein?“
„Natürlich. Warum nicht?“
„Gut.“ Jetzt schaue ich auf meine Hände in meinem Schoß, weiß nicht, was ich machen soll. Wie soll das alles weitergehen? Liebt er mich ebenfalls? Weiß er nichts von meinen Gefühlen? Kann ich sie ihm überhaupt klar machen? „Ich glaube, ich sollte jetzt ins Bett gehen.“
„Ist schon gut. Komm her.“ In einer Sekunde
hat er seine linke Hand auf meinen Nacken gelegt, zieht mich zu sich heran und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. So verharren wir kurz. Mund an Stirn mit geschlossenen Augen. Mir ist, als könnte ich nicht unterscheiden, ob wir noch Freund sind oder schon mehr.
Schon gibt er mich wieder frei. Genauso plötzlich wie seine Anwandlung kam steige ich aus dem Wagen aus, mache die Türe zu. Sehe ihn an. Lächle. Winke. Er lächelt und winkt zurück. Fährt los. Ist weg. Schnell gehe ich ins Haus. Wie spät ist es? Ich muss unbedingt Amy anrufen. Sonntag muss der Kleiderschrank gefilzt werden. Hoffentlich findet sich etwas passendes, sonst muss ich Papi schon wieder um Geld bitten. Nicht so schön.
„Ja? Hallo? Ist da Amy?“
„Ja, hier ist Amy. Gut das du anrufst. Wir wollen alle am Mittwoch ins Kino. Hast du Lust mitzukommen?“
„Klar.“
„Cool. Marco kommt auch mit.“
„Amy, was soll dieser Unterton?“
„Och, nichts.“
Zuerst berichte ich ihr von der Einladung für nächsten Samstag. Sie ist sofort Feuer und Flamme und es ist mir ein Leichtes sie um Hilfe zu bitten. Noch am Telefon sinniert sie, was ich anziehen könnte. Bald kann ich nicht mehr richtig zuhören und sie nicht mehr erzählen. Den Teil übernehme ich dann und erzähle von dem Abend. Amy freut sich mit mir. Einzig den Kuss lasse ich aus. Der gehört mir. Ganz alleine mir. Heute war ein wirklich schöner Tag. Alles hat gepasst. Ich war nicht mal so schüchtern, wie ich erst befürchtet hatte. So lässt es ich gut einschlafen.
Â
Kapitel 8
Der Wind weht eisig um meine kleine, schmale Figur. Zum ersten Mal in diesem Monat sitze ich auf meiner Schaukel. Heute hat er keinen Schnee geschickt, um mich aufzuheitern. Braucht er auch nicht. Dieser Wind ist genau richtig, damit er mich etwas abkühlen kann. Heute ist Freitag. Genau der Freitag vor dem Samstag, an dem Marcos Party ist. Herrje, bin ich aufgeregt! Amy und ich haben schon die richtigen Sachen dafür rausgesucht.
Langsam glaube ich daran, dass Marco und ich richtig gute Freunde geworden sind. Mehr noch, als Amy und ich. Irgendwie unheimlich.
Amy hat zu Anfang unserer Freundschaft gesagt, ich sei ihre beste Freundin, weil ich so unkompliziert wäre. Ich ihre beste Freundin! Die beste! Aber das ich unkompliziert bin?
Meine innere Seele ist ein richtiger Knoten.
Kaum habe ich angefangen neuen Leuten wenigstens teilweise zu vertrauen, erkenne ich mich nicht mehr wieder. Zeitweise mache ich mir selbst richtig Angst. Bin ich das denn noch? Wo sind meine einsamen Stunden geblieben? Woher soll ich die Kraft nehmen, die diese Menschen mir rauben?
Nur bei Marco ist es etwas ruhiger in mir. Bei ihm entspannt sich mein Körper und Geist. Ihm hat es nichts ausgemacht, als ich Mittwoch in seine Arme gefallen bin und einfach alle war. Obwohl wir ins Kino wollten. Dann schauen wir eben auf seinem großen TV-Gerät einen Film. Sollen die anderen doch losziehen. Wir würden uns hier einen schönen Abend machen. Zu zweit. Ich dick eingepackt in eine Wolldecke, an ihn gekuschelt. Er hat so eine Ruhe und Gemütlichkeit ausgestrahlt, da bin ich eingeschlafen. Vorher, allerdings, habe ich geweint, weil ich so ausgelaugt war. Noch bevor die anderen kamen.
Das alles ist so ungewohnt für mich. Plötzlich bin ich eine gefragte Persönlichkeit in der Schule. Auf jede Party werde ich eingeladen. Einige fühlen sich enttäuscht, wenn ich vergesse sie zu Grüßen. Wo nehmen sie alle ihre Ausdauer für das alles her?
Marco ging daraufhin mit mir spazieren. Die Natur um das Haus seiner Familie und der Garten seiner Mutter sind unglaublich schön. Irgendwann blieb er dann stehen und nahm mich in die Arme, sagte mir, wie gut ich bis jetzt durchgehalten hatte und irgendwann würde ich mich schon an diese neue Welt gewöhnen. Dann hätte ich auch einen festen Freund, den ich mir wünschte. Ja, ich habe ihm meine Wünsche erzählt. Marcos Blick wurde bei diesen Worten so traurig.
Seit er zu mir kam, um den Unfall Amiras zu verkraften, denke ich, nein, will ich, dass er mein Freund sein soll. Mein fester! Und das nicht nur, weil er so gut aussieht. So eine
Harmonie wie zwischen uns, ist einfach unglaublich. Selten musste ich ihm bis jetzt meine Situation erklären. Meistens konnte er sie erraten. Ausnahmslos versteht er sie alle. Einmal hat er gedacht es gehe mir vielleicht schlecht und kam zu uns nach Hause. Mit ging es tatsächlich sehr schlecht. Es war an dem Tag, an dem meine Klasse die Kuh gemalt hatte. Linh hatte ihm nie eine SMS geschickt. Normalerweise weiß er, wie er in solchen Situationen mit mir umgehen muss. Ich denke, so etwas ist sehr selten zwischen zwei Menschen in unserem Alter.
Jetzt gerade überlege ich, wie ich ihm für alles danken kann. Ohne ihn hätte ich den großen Bruch mit Linh nicht überlebt. Hätte ich nicht dieses kitzeln im Bauch. Nicht nach seinen Besuchen eine innere Ruhe. Ganz belanglose Sachen werden interessant, wenn er sie sagt. Und unangenehme Aussprachen werden erträglich.
Wie kann ich das alles je wieder gut machen? Mit dem festen Entschluss ihn anzurufen und selber zu fragen, mit was er belohnt werden möchte, gehe ich nach Hause. Inzwischen habe ich auch seine Handynummer.
„Wer da?“ Seine Stimme ist so phänomenal.
„Ich bin es. Mimi.“
„Ach hey. Was gibt es?“
„Ich habe mich gefragt, inwiefern ich mich bei dir bedanken kann. Für alles.“
Da muss er erst mal lachen.
„Du bist so herrlich trocken, Mimi.“
„Mir fällt nichts ein.“
„Ich wüsste schon was.“ Marcos Grinsen kann ich durch die Leitung hören.
„Ja? Was denn? Raus damit.“
„Einen Kuss.“
„Einen Kuss?“
„Ja, Mimi. Einen Kuss. Von dir.“
„Den kann ich dir auch durch den Hörer geben. Das wäre kein Dankeschön.“ Mein Hals wird
ganz trocken. Angespannt versuche ich die Situation zu verstehen.
„Nein, nicht so einen. Ich meine einen richtigen Kuss. Einen Kuss, wo die Lippen aufeinander liegen.“
Dazu muss ich erst mal niesen. Niesen muss ich manchmal, wenn es um Liebesausdrücke geht. „Ich – Ich…“
„Du hast gefragt, Mimi. Ich habe dir nur geantwortet.“ Er klingt enttäuscht und traurig.
„Ja, ich habe dich gefragt. Aber wenn wir uns küssen, Marco…“
„Ja?“
„… hast du nicht Angst – Angst…“
„… mich zu verlieben? Nein, Mimi. Das habe ich schon längst.“
„In wen denn? So eine Neuigkeit hättest du mir doch sicherlich erzählt.“ Schock. Wer ist die Glückliche?
„Tue ich doch gerade. In dich habe ich mich nämlich verliebt. In dich, Emilie Alou.“
Schweigen. „Bist du noch da?“
„Ja. Ich bin noch dran.“
„Du sagst ja gar nichts.“
„Ich habe angst.“
„Warum sollte man vor der Liebe angst haben?“
„Du bist der erste, der sich in mich verliebt hat. Der erste, mit dem ich eine Beziehung führen würde.“
„Der erste, der in dich verliebt ist? Das bestimmt nicht!“ Er lacht wider leise vor sich hin. „In der Schule, so hat es Amy erzählt, sind die Jungs ganz närrisch vor Freude, wenn du sie auch nur anschaust. Mit deinen wunderschönen meerblauen Augen.“
„Ein Meer ist farblos. Durch den Schlamm nimmt es eine ekelige Farbe an.“
„Dann sind sie eben so Himmelblau, wie es sich im Meer spiegelt, wenn gutes Wetter ist.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„Ich komme und hole mir meinen Kuss, in Ordnung?“
„Ok, bis gleich.“
In neuer Rekordzeit ist er an der Haustüre. Noch ganz geschockt von dieser Entwicklung der Dinge bin ich nicht fähig mein Zimmer zu verlassen, um ihm zu öffnen. Papi tut das für mich. Fast andächtig höre ich Marcos feste Schritte auf der Treppe. Langsam öffnet er die Türe und sieht mich eindringlich an. Ich liebe sein Gesicht. Ich liebe seinen Körper. Ich liebe seinen Charakter. Ängstlich lächle ich ihm entgegen. Marco lächelt selbstsicher zurück. Und schließt die Türe. Schnell sitzt er links neben mir auf dem Sofa. Mit seinen tiefdunklen Augen fesselt er mich wie eine Schlange. Als könnte ich daran zerbrechen, legt er seine linke Hand auf meinen rechten Oberschenkel. Keine Begrüßung.
Dann passiert es. Einfach so. Erst spüre ich seine männlichen Lippen auf den meinen. Ganz sanft. Seine Hände legen sich sanft auf meinen Hals. Zärtlich berühren sie meinen Nacken. Ich
mache die Augen zu. Mein ganzer Körper kribbelt, als ich meine Hände ebenfalls um seinen Nacken schließe. Vorsichtig öffnet er seine Lippen und befühlt mit seiner Zunge meine geschlossenen Lippen. Vertrauensvoll öffne ich sie. Für eine kleine Ewigkeit versinken wir in diesem Kuss. Von mir aus hätten wir nie aufgehört. Doch Ruckartig zuckt Marco zurück und nimmt mich fest in die Arme. Liebevoll murmelt er meinen Namen. Immer und immer wieder.
„Wie lange schon?“, frage ich, ohne loszulassen.
„Seit der Motorradtour. Was ist mit dir?“
„Seit dem Mal, wo du bei mir geschlafen hast. Ich bewundere deinen Mut und dein Selbstbewusstsein.“
„Wahrscheinlich glaubst du es nicht, aber die hab‘ ich echt gebraucht, um hier her zu fahren. Dürfte ich heute wieder bei dir übernachten?“
„Natürlich. Aber Papa wird dich ins
Gästezimmer schicken.“
„Er wird nicht ewig wach sein.“ Zärtlich streichelt mir Marco über mein Haar, löst sich von mir und sieht mich an.
Samstagmorgen erwache ich eng umschlungen von Marcos Armen. Wie schon beim ersten Mal liege ich auf seiner Brust und Marco umfasst meinen kleinen Körper. Es ist wunderschön warum unter der Bettdecke. Richtig kuschelig. Vielleicht würde er sich über ein schönes Frühstück freuen. Um ihn nicht aufzuwecken, stehle ich mich ganz leise aus dem Bett. Schnell streife ich mir alles an, was heute Nacht verloren ging. Dann schleiche ich in die Küche. Hier hantiere ich auch möglichst leise herum. Kurze Zeit später stelle ich das fertige Tablett auf meinen Glastisch. Vorsichtig kuschel ich mich wieder an Marco, der mich freudig im Halbschlaf in seine Arme schließt.
„Wo warst du?“, murmelt er in meine Haare. Mit meinem Zeigefinger streichelt über seinen
Nacken und die Brust, spüre wie ihn eine Gänsehaut überkommt. Darüber muss ich ein bisschen kichern.
„Nicht aufhören.“, flüstert er und beginnt ebenfalls meinen Rücken nach meinem Beispiel zu kraulen. „Wo warst du?“
Meine Lippen küssen seine Nasenspitze. „Frühstück machen. Es ist zwar erst zehn Uhr, aber ich dachte mir, es würde dich vielleicht freuen im Bett zu frühstücken. Komm! Zieh dir was an, falls Papi uns überrascht.“
„Wenn du so lieb bittest.“ Marco gibt mir einen innigen Kuss, wendet sich ab und zieht seine Boxershorts an. Danach nimmt er das Tablett, stellt es mir auf den Schoß. Bald darauf sitzen wir lachen, küssend, kichernd, essend auf meinem Bett und ich fühle ich rundum wohl.
„Marco?“
„Ja?“, antwortet er, während er einen Löffel mit Ei in den Mund schiebt.
„Wir sind jetzt ein richtiges Paar? Wir sind
richtig zusammen, oder?“
Schluckt, grinst und lässt mich wieder in einem Kuss die Welt vergessen. Stirn an Stirn flüstert er ein Ja. So entdeckt uns Papa. Der lächelt, Marco grinst und ich hoffe, es möge sich doch der Erdboden öffnen. Doch mein Papi sagt nur „Einen schönen guten Morgen.“, lächelt mir zufrieden zu und schließt die Türe. Das frischgebackene Paar sieht sich verblüfft an. Wir brechen in schallendes Gelächter aus.
„An so einen Morgen könnte ich mich glatt gewöhnen. Du ihn meinen Armen, Frühstück am Bett, draußen ist es bitterkalt und regnerisch, während wir hier drinnen kuscheln. Herrlich! Und gleich kommt noch unsere kleine Tochter herein, die dir so verdammt ähnlich sieht.“ Es folgt ein Kuss voller Liebe und Gefühl. Und schon liege ich wieder in seinen starken Armen.
Nach diesem wunderschönen Tagesbeginn verfrachtet mich Marco samt Schminkkoffer und Partykleid in seinen Flitzer. Mit Amy und
Abdullah müssen wir noch einiges für die Party organisieren. Das gesamte Wohnzimmer muss noch dekoriert werden. Amy und ich haben einen Mordsspaß. Sie zieht mich unaufhörlich mit Marco auf. Heute bin ich so glücklich, nichts kann mich erschüttern. Gefühlt zumindest.
Langsam wird es Abend und der Mond steigt auf. Während sich nach und nach die Gäste einstellen, sind Amy und ich noch dabei uns in Marcos Zimmer Paryfertig zu machen. Gemeinsam haben wir überlegt in Kleidern zu gehen. Bei mir hat noch ein hellblaues Kleid im Schrank gehangen. Nach unten wird der Stoff etwas feiner, fällt in Falten und hat statt dem sattem, eintönigem hellen Blau des Oberteiles zusätzlich weiße Punkte überall verstreut. Das gesamte Kleid geht mir bis zu den Knien. Farblich passende Schuhe leiht mir Amy, die heute im knappen Schwarzen geht. Endlich geschafft.
Unten angekommen brauche ich eine Ewigkeit, um zu Marco vorzudringen. Rechts und Links strecken sich mir Hände entgegen, die geschüttelt werden wollen. Gespräche zwingen sich mir auf, hauptsächlich von gegenseitigen Komplimenten lebend.
Wesentlich weniger beschäftigt steht Linh an der Theke. Sie ist gerade in ein einseitiges Gespräch mit Mel, dem damaligen Barkeeper und ihrem jetzigen Freund, vertieft. Dieser zeigt plötzlich in meine Richtung. Linh dreht sich um. Entdeckt! Furiengleich stürmt sie auf mich zu, so gut es eben geht. Weil die Musik sehr laut ist, verstehe ich nur Wortfetzen, während sie auf mich losgeht. Aber gerade diese sind nicht schmeichelhaft, gar nicht. Beschämt, gekrängt und traurig stehe ich gesenkten Hauptes vor ihr.
Es ist wie noch ein paar Wochen vor unserem Streit. Noch immer traue ich mich nicht, ihr wirkliche Widerworte zu geben.
Doch auf einmal fängt sie an über Marco herzuziehen. Wenn sie mich beleidigen will, ok. Niemals aber soll sie es wagen meinen Freund zu verleugnen. Ich schaue ihr in die Augen. Meine ehemalige beste Freundin erbleicht und verstummt.
„Liebe Linh, mich kannst du auf den Tod beleidigen. Es stört mich nicht im Geringsten. Solltest du es aber auch nur noch einmal wagen, ein einziges Wort gegen Marco, Amy oder sonst über irgendeinen meiner Freunde ein schlechtes Wort zu sagen, zerreiße ich dich in Stücke, hast du das verstanden?“, schreie ich wutschnaubend.
Hinter Linh sehe ich Marco auf mich zukommen. Oder auf Linh? Sofort legt sich wieder eine innere Ruhe über mich.
„Komm uns bloß nicht zu nahe!“, schnauzt er Linh an, würdigt sie keines weiteren Blickes. Seine Augen sehen mich zärtlich an. Ebenso zärtlich fühle ich meine Hand in der seinen und
schon sind wir in der Menge Linhs Blicken entschwunden. Wir tanzen miteinander. Küssen uns vor allen Leuten. Jedes Mal, wenn er das tut, bin ich glücklich. Es zeigt mir seine Liebe und das vor allen. Wunderschön! Unbeschreiblich!
Â
Marco will mir etwas zu trinken holen. Was hat er da mit Linh zu bereden? Alle Aufregung umsonst. Er dreht sich um und geht, nachdem ihn ein anderer junger Mann angesprochen hat. Da kommt er auch schon wieder zu mir. Kopfschüttelnd gibt er mir seinen Unmut über eine mir unbekannte Sache zu verstehen.
„Ich muss mal kurz weg.“, sagt er mir kurz angebunden ins Ohr und gibt mir abwesend einen Kuss. Schon ist er weg. Na gut. Gehe ich eben auf Toilette und danach zu Amy oder Milla.
An der Toilette angekommen trifft mich fast der Schlag. Linh eng umschlungen mit Marco!
Breite Schultern, schwarze halblocken, weißes T-Shirt, Jeans: Das muss er sein. Mir wird schwindelig. Ein hämischer Blick von Linh bringt mich völlig aus der Fassung. Fast schon will mir schwarz vor Augen werden. Amy sehe ich gar nicht. Nach oben ins Bad! Tränenüberströmt renne ich an meiner besten Freundin vorbei. War er das wirklich? ‚Mimi, du hast die beiden nur von hinten gesehen!‘, unternehme ich den kläglichen Versuch mich selber zu beruhigen. Meine Selbstverachtung und Zweifel an meinen Mitmenschen gewinnen jedoch die Oberhand. Es war Marco.
Oben sitze ich auf dem Badewannenrand und kriege kaum noch Luft. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Sonst wäre er jetzt nicht bei Linh.
Im selben Augenblick dieses Gedankens fällt mein Blick auf mein Spiegelbild. Braucht mich irgendjemand auf dieser Welt? Hasserfüllt zerschlage ich mich. Splitter fliegen, bohren
sich in meine Faust, in mein Gesicht. Warum auch nicht. Sollen sie doch heulen. Habe ich denn je etwas anderes getan? Nun sind sie an der Reihe. Plötzlich höre ich den Laut eines erschrockenen Menschen. Eine männliche Hand packt mich an der Schulter und dreht mich zu sich herum.
„Was soll das?“, schreit Marco sichtlich erschrocken. Und genauso sauer. Aber das bin ich auch. „Das könnte ich dich auch fragen!“, beginne ich mit zitternder Stimme. Das Blut läuft mein Bein hinunter und tropft auch auf den schönen Boden „Warum treibst du es mit Linh auf der Toilette? Liebst du mich überhaupt? Oder war das alles für die eine Nacht? Liebst du sie immer noch? Macht es dir Spaß mich damit zu quälen?“ Heiße Tränen rollen mein Gesicht herunter. Meine blutüberströmte Faust holt zum Schlag aus! „Los, sage es! Warum hast du das getan?“
Völlige Entgeisterung bei Marco. „Ich soll
gerade mit Linh geschlafen haben?“
Erst jetzt bemerke ich seine blutige Lippe.
„Hast du nicht?“
„Nein. Jemand sagte, draußen sei eine Prügelei. Da musste ich natürlich hin, als Verantwortlicher für diese Feier.“ Leise sagt er das. Ganz deutlich spüre ich seine Müdigkeit. Irgendeiner muss ihm gesagt haben, ich sei hier oben. Tränenverschmiert. Er muss Angst gehabt haben. Angst mich zu verlieren.
Stürmisch lege ich meine Arme um ihn und drücke mich ganz fest an ihn. „Es tut mir leid.“ Erschöpft werde ich von ihm umarmt.
„Warum hast du geglaubt ich sei es gewesen?“
„Von hinten sah er dir sehr ähnlich. Wer auch immer es gewesen ist, hatte das gleiche an wie du. Ein weißes T-Shirt und Jeans.“
„Ein ganz weißes T-Shirt sagst du?“
„Ja, ganz weiß.“
„Dann kann ich es auf jeden Fall nicht gewesen sein.“ Erleichtert, denn er kann mir seine
Unschuld einwandfrei beweisen, löst er sich aus der Umarmung und dreht sich um. Auf seinem T-Shirt sind hinten Motive aufgedruckt.
Noch mal entschuldige ich mich. Noch mal nehmen wir uns in die Arme und noch mal küssen wir uns. „Ich würde dich nie betrügen. Das weißt du auch. Aber es muss einen weiteren Grund gegeben haben. Sonst wäre es dir niemals eingefallen, sofort an mich zu denken.“
„Es hat sich alles so hochgeschaukelt.“
Sanft setzt mich Marco auf die Tiolettenschüssel und hockt sich vor mir hin. Seine Hände kümern sich sanft um meine wunde Hand.
„Ich habe daran gedacht, dass du sie bestimmt noch liebst, als du vorhin mit ihr geredet hast. Natürlich war ich mir bewusst, wie du mich heute Morgen und gestern angesehen hast. Oh Gott, ich bin so mit Angst und Selbstverachtung zerfressen. Manchmal vergesse ich, dass mich andere Menschen lieben. Das Schlimmste ist, es
wird immer wieder kommen! Es wird nicht aufhören! Die Angst ist mein Wächter. Ich bin in ihr Gefangen.“ Ein inniger Kuss. Viele Sekunden lang, wenn nicht sogar Minuten. So tief, so rein, so voller Liebe.
„Dann lass mich dein Ritter sein. Zusammen werden wir sie besiegen.“
Â
Epilog
Liebster Marco,
jetzt gondelst du schon wieder in der Weltgeschichte herum, während ich Heim und Hof hüten darf. Aber weißt du was? Im Moment, ich glaube es ist das erste Mal, habe ich keine Angst, du würdest nicht zurückkommen. Warum auch? Bist du doch von den letzten Reisen auch, oder?
Ich sehe unsere Kleine draußen in einem Blumenmeer herumtollen mit unserem Pie. Sie ist schon so groß, mein Liebster. Ich bin froh, dass du es rechtzeitig zu ihrem dritten Geburtstag nach Hause schaffst und es voraussichtlich letzte Geschäftsreise in diesem Jahr sein wird.
Erinnerst du dich noch an Linh? Sie war gestern hier. Hat nach dir gefragt. Zuerst hat sie mich gar nicht erkannt. Wahrscheinlich hielt sie mich
für die Haushälterin. Als sie über den Irrtum aufgeklärt war, sah sie richtig erschrocken aus. Ich glaube, sie hat nicht damit gerechnet, dass wir einmal heiraten würden. Sie war so erschrocken, dass sie gleich wieder fuhr ohne zu sagen, warum sie hier war.
Jeden Tag denke ich an unsere Geschichte, die vor neun Jahren begann und hoffentlich hält, bis wir unser Versprechen eingelöst haben. Bis der Tod uns scheidet.
Heute nach dem Besuch von Linh muss ich immer daran denken, wie wir uns kennen lernten, wie du mich verzaubert hast, wie du mir das Leben rettetest, wie mich gestützt hast, wie du mich liebst, wie du dein Versprechen erfüllt hast, mir meine Angst zu nehmen. Womit habe ich dich nur verdient?
Amy und Abdullah sind jetzt endlich in ihr Haus eingezogen. Sie geben übermorgen ihre Einweihungsparty. Hoffentlich hast du bist dahin alle Geschäfte abgeschlossen und kommst
zu uns zurück.
Amira hat, so denken viele hier, doch vor allem deine Eltern, einen neuen Freund gefunden. Viel weiß ich nicht über ihn, hoffe aber, ihn übermorgen vorgestellt zu bekommen.
Wenn du wieder kommst, ist deine Fensterseite frisch geputzt. Ich konnte die Reinemachefrau endlich dazu bewegen sich jede Woche einen Tag dafür freizuhalten, weiß ich doch, wie sehr du den Blick in die Freiheit genießt. Ich glaube, zu gerne würdest du mit der Kleinen und mir davon fliegen.
Solange aber, bis dir Flügel gewachsen sind und es soweit sein könnte, Liebster, warte ich hier in Sehnsucht und Liebe auf dich. Beeile dich zurück zu mir, der Kleinen und Pie zu kommen.
In tiefer Liebe und unendlichem Vertrauen,
deine Emilie
Â
EwSchrecklich Wow *-* Wunderschön geschrieben, besonders die Stelle mit dem Kuss liebe ich. lg |
Andy91 Re: - Zitat: (Original von MiLina am 17.06.2012 - 15:43 Uhr) Haha ich musste einmal so lachen :D "Panik! Panik ende. " Ich hab bisher nur die Hälfte gelesen, aber mir gefällts echt gut :) Werde die Tage dann mal die andere Hälfte lesen ;) schön, es freut mich, das du es gerne liest. viel spaß beim weiteren lesen^^ |
Buecherwurm WOW!!! - Du schreibst gut, dein Stil ist zwar noch nicht perfekt, aber das wird schon noch.. Schau mal bei meiner Geschichte vorbei und gib deine Bewertung an :) ;-)> |