Beschreibung
Abby wurde eigentlich schon als Engel geboren, aber durch unglückliche Umstände beging sie einen fürchterlichen Fehler. Zur Strafe diente sie jahrhundertelang im Vorzimmer zur Hölle, bis der Rat der Engel einen Entschluss fasst: Abby soll als Schutzengel auf die Erde geschickt werden, um dem jungen Finn das Leben zu erleichtern und sich somit ihren Platz im Himmel wieder zu verdienen. Allerdings bringt Abby Finns Leben gehörig durcheinander, der sich von nun an mit allen möglichen Peinlichkeiten, Kleinkriegen zwischen Himmel und Hölle und Abbys eifersüchtigem Verlobten herumschlagen muss.
Das Mädchen im weißen Kleid
Als Finn wieder zu sich kam, blickte er direkt in den mit grauen Wolken bedeckten Himmel, von dem vereinzelte Schneeflocken auf sein Gesicht fielen. Ihm war schlecht. Immer noch hatte er die verzerrten Bilder eines Engels vor sich, der vom Himmel und direkt auf ihn gestürzt war, und er konnte sich einfach nicht erklären, woher diese Wahnvorstellungen auf einmal gekommen waren. Aber wenn er sich alles nur eingebildet hatte, warum war er dann gefallen und ohnmächtig geworden? Es war ein Rätsel. Stöhnend richtete er sich auf und bemerkte, dass er nicht auf dem Boden, sondern auf einer hölzernen Parkbank gelegen hatte. Dementsprechend fühlte sich sein Rücken auch an. „Sei lieber vorsichtig, nicht das du noch mal bewusstlos wirst!“ Vor Schreck wäre Finn fast von der Bank ins Gebüsch gestürzt. An dem Ende der Bank, an dem eben noch sein Kopf gelegen hatte, hockte ein dunkelhaariges Mädchen in einem dünnen, weißen Kleid und sah ihn besorgt an. „Der Engel!“ stieß Finn erschrocken hervor, und das Mädchen wich ängstlich einen Schritt zurück. Sie hatte Tränen in den Augen. „Es tut mir leid, es tut mir furchtbar leid! Was bin ich nur für ein Schutzengel? Noch nicht mal richtig fliegen kann ich. Eine Schande ist es mit mir!“ Traurig vergrub sie das Gesicht in den Händen. Obwohl Finn absolut keine Ahnung hatte, was um Himmels Willen hier vor sich ging, tat sie ihm leid, obwohl sie ihn wahrscheinlich umgerannt hatte. Nur vorsichtshalber fragte er im Flüsterton, während er sich verstohlen im Park umsah: „Dreht ihr hier einen Film?“ Das Mädchen sah ihn verständnislos an. Sie war dunkelhaarig, dunkeläugig und wirklich hübsch, hätte sie nicht so ängstlich und weinerlich ausgesehen. Flügel hatte sie natürlich keine. Ich bin schon ein Idiot, dachte er. Inzwischen hatte sie sich wieder gesammelt und setzte sich neben ihn auf die Bank. „Ich bin Abigail. Aber du kannst mich auch Abby nennen. Mach, wie du möchtest.“ Abigail? Wer nannte sein Kind denn heutzutage noch so? Aber Abby klang ganz okay. Es passte zu dem Mädchen, unschuldig und zerbrechlich. Lächelnd streckte er ihr die Hand hin. „Ich bin Finn. Freut mich.“ Nach einem kurzen Händedruck begann Abby wieder, sich für den Zusammenstoß zu entschuldigen. „Du hast eine riesige Beule am Hinterkopf. Das wollte ich nicht.“ „Ist schon in Ordnung“, versuchte er sie zu beruhigen, fuhr sich aber gleichzeitig mit der Hand durch die Haare. Als er ein hornartiges Gebilde an seinem Kopf berührte, zuckte er vor Schmerz zusammen. Es tat wirklich weh. „Finn? Ich möchte dich gern nach Hause bringen. Ich habe Angst, dass du auf dem Weg umfällst“, sagte Abby leise und stand auf. Finn tat es ihr gleich. Erst wollte er ihr Angebot ablehnen, aber als er merkte, wie ihm schwindelig wurde, stützte er sich dankbar auf sie. „Aber du musst wenigstens, bis wir bei mir sind, meine Jacke anziehen. Wie kommst du bloß auf die Idee, in so einem dünnen Kleid draußen rumzurennen? Wir haben November!“ Sie wollte seinen Mantel nicht, aber er bestand darauf. So bewegten sie sich im Schneckentempo voran. Abby trug seine Jacke, und Abby trug ihn, zumindest ein bisschen. Den ganzen Weg bis zu ihm redete sie kein einziges Wort, er spürte nur, dass sie vor Anstrengung und Kälte zu zittern begann. Sie beschwerte sich nicht. Wahrscheinlich, weil sie Schuld an seiner Verletzung hatte. Schließlich blieb er vor einem alten, kleinen Haus mit der Nummer drei stehen. „Hier wohne ich“, sagte er zu Abby. Es schien sie nicht zu überraschen. „Ich bring dich noch rein. Du musst dich hinlegen.“ Er protestierte nicht, es war besser so. Wenn er auf den Stufen ohnmächtig würde, könnte er sich alles Mögliche brechen, und das konnte er sich in seiner derzeitigen Situation nicht erlauben. Also ließ er sich von ihr die Treppe hinauf helfen, kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss auf. Angenehme Wärme schlug ihm entgegen, und auch wenn kein Licht brannte, fühlte er sich sofort wohl, nach dem Schrecken von eben. „Rebecca? Ich bin wieder da!“ rief er die Treppe hinauf, wobei seine eigene Stimme ihm Kopfschmerzen verursachte. Abby sah sich unsicher um, während er sich die Schuhe auszog. Es war ein komisches Gefühl, eine eigentlich vollkommen fremde Person in sein Haus zu lassen. Trotzdem führte er eben jene Person wenige Sekunden später in sein Wohnzimmer, wo sie sicher ging, dass er sich auf das weinrote Sofa legte. „Brauchst du sonst noch irgendetwas?“ fragte sie unsicher. Sie schien noch nicht davon überzeugt zu sein, dass sie genug getan hatte, und eigentlich war Finn ihre Gesellschaft gar nicht so unangenehm. Aber er konnte sie unmöglich um noch mehr bitten, deshalb schüttelte er ganz vorsichtig den Kopf. Umständlich schälte sie sich aus seinem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Sessel. „Du kannst ihn erstmal mitnehmen und mir später wiederbringen, wenn du dir etwas anderes angezogen hast“, schlug er vor. Sie wurde blass und setzte sich langsam auf die Sessellehne. „Finn, es gibt da etwas, was du wissen solltest. Ich habe dich nicht zufällig getroffen. Ich bin dein Schutzengel und werde dich ab heute begleiten, um dir dein Leben leichter zu machen.“ Schon wieder dieses Engelgerede. Vielleicht war Abby ja ein bisschen wahnsinnig. „Abby, was erzählst du da eigentlich immer von Engeln?“ fragte er, jetzt doch mit einem mulmigen Gefühl. „Na, ich bin einer. Oder war einer. Oder bin jetzt wieder…Auf jeden Fall werde ich ab heute auf dich aufpassen.“ Sehr skeptisch fuhr er sich mit der Hand durch seine kinnlangen, blonden Haare. „Du glaubst mir nicht, oder?“ fragte sie. „Nein“, sagte er wahrheitsgemäß. „Na gut. Dann werde ich es dir eben beweisen.“ Entschlossen kniete sie sich vor ihn, vor das Sofa, und faltete die Hände, als würde sie beten. Erst einmal passierte überhaupt nichts. Dann jedoch zerriss ihr Kleid am Rücken mit einem lauten Ratschen, und gräuliche Flügel wuchsen in die Höhe. Vor Schreck fuhr Finn vom Sofa hoch und knallte mit seinem Kopf gegen die Fensterbank. „Wie…wie hast du…WER UM GOTTES WILLEN BIST DU?“ schrie er panisch, während er spürte, wie eine Beule passend zu der an seinem Hinterkopf auf seiner Stirn zu wachsen begann. Sie blickte hoch, und ihre Augen wirkten anders, gar nicht mehr nervös und ängstlich, sondern erfüllt von etwas Großem, Ruhigem. „Ich bin Abigail und von Gott gesandt, um dich zu beschützen.“ Hinter ihnen ging die Tür auf und Finns vierjährige Schwester Rebecca fragte neugierig und mit weit aufgerissen Augen, ob der Engel nicht zum Essen bleiben könne.