Kurzgeschichte
Türen

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"Türen"
Veröffentlicht am 12. April 2008, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Türen

Türen

Sie war nicht verschlossen. Mehr noch: Sie hatte noch nicht einmal ein Schloss. Nur eine Klinke, kein Schlüsselloch, keinen Riegel, kein Vorhängeschloss. Sie war unscheinbar, in einem verblichenen Weiss, die Klinke leicht verschnörkelt wie so vieles in diesem alten Haus. Aber eines war sie nicht: Verschlossen.

Warum ich sie damals nicht geöffnet habe? Schwer zu sagen. Als ich sehr klein war, hat mich die Türe kaum interessiert. Es gab so unglaublich viel zu sehen in diesem riesigen Haus, so viele Räume und Winkel, die im Dunkeln lagen, mysteriöse Ecken unter Treppenvorsprüngen, ein Dachstock und ein Kellergewölbe. Einiges machte mir Angst, anderes verursachte ein wohliges Schauern. Doch unabhängig davon erforschte ich über die Jahre das gesamte Haus.

Bis auf dieses Zimmer.

Ich erinnere mich, dass sich mein Vater nach einem Streit mit Mutter urplötzlich vom Abendessen erhob und den Raum verliess. Ich blickte ihm nach, sah, wie er sich am Ende der Treppe statt nach oben zu gehen nach rechts wandte. Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete und wieder schloss. Nicht einfach eine Tür. Diese Tür. Mein Vater blieb etwa eine Stunde verschwunden, meine Mutter sass wortlos da. Ihre schmalen, blutleeren Lippen waren ein sicheres Zeichen dafür, dass Fragen meinerseits nicht gut angekommen wären. Ich fragte nichts. Ich sagte nichts. Ich sass ebenfalls nur da und wunderte mich und beschloss, am nächsten Tag diese Tür zu öffnen. Was immer dahinter lag: Es hatte meine Neugier endlich geweckt.

Ich war damals elf oder zwölf Jahre alt. Am nächsten Tag schien die Sonne, und meine Freunde spielten draussen im Wald. Ich hatte die Türe vergessen, kaum hatte ich nach dem Aufwachen die ersten Sonnenstrahlen gesehen. Ich öffnete die Türe nicht. Ich betrat den Raum nicht. Nicht an diesem Tag, und auch nicht in den Wochen und Monaten danach.

Einmal noch spielte sie eine Rolle, diese Tür, solange ich zuhause wohnte. Ich kam von der Schule, niemand war zu Hause. Ich setzte mich ins Esszimmer, breitete meine Bücher aus und begann mit den Schularbeiten. Irgendwann hörte ich es. Ein unterdrücktes Geräusch, eine Art Weinen oder Stöhnen. Ich spürte, wie die Feder in meiner Hand leicht zitterte, ich zwang mich, auf die Formeln im Buch vor mir zu starren, aber die Zahlen verschwammen vor meinen Augen, bis das Geräusch endlich verstummte. Ich war schweissnass. Wenige Minuten später hörte ich, wie sich im Gang draussen eine Tür öffnete, nd wieder geschlossen wurde. Diese Tür. Schemenhaft erkannte ich meine Mutter, wie sie die Treppe nach oben nahm, in gebückter Haltung, eine Hand vor dem Gesicht.

Das alles liegt lange zurück. Es sind Erinnerungen, die mir rückblickend unwirklich vorkommen, mich aber nie ganz verlassen haben. Eine Kindheit lang hat sie kaum je eine Rolle gespielt, diese Tür, doch heute, wo ich wieder in diesem Haus stehe, zwischen den mit Tüchern abgedeckten Möbeln und den Geruch von altem Holz und verwittertem Stoff in der Nase habe, ist sie plötzlich alles, woran ich denken kann. Bin ich tatsächlich nie in diesen Raum gegangen? Habe ich diese Tür wirklich niemals geöffnet? Die Klinke - habe ich sie nie berührt? Habe ich nie mit meinen Fingern die Furchen nachgezeichnet, die das weisse Holz durchzogen?

Ich stehe vor der Tür und mustere sie. So unscheinbar, so unbedeutend, so leer. Was immer dahinter liegt, es kann nicht wichtig sein. Nie hat jemand von diesem Raum gesprochen. Und doch...

Ich lege die Hand auf die Klinke. Hatte ich als Kind Angst vor diesem Zimmer? Gab es eine innere Stimme, die mich damals davon abgehalten hat, es einfach zu tun - die Klinke zu drücken, die Tür aufzustossen, den Raum zu betreten? Hat es mir jemals irgendeiner verboten? Wollte ich es nicht - oder konnte ich es nicht?

Ich drücke die Klinke. Sie ist leicht, viel leichter als in meiner Vorstellung. Sie lässt sich widerstandslos nach unten drücken, mit einem sanften Klicken öffnet sich die Tür einen Spaltbreit. Ich atme tief durch und gebe der Tür einen leichten Schubs. Langsam gibt sie den Blick frei auf den Raum. Dunkelheit ist das erste, das ich erkenne. So lange, bis sich meine Augen daran gewöhnt haben, wie Umrisse beginnen, Form anzunehmen. So lange, bis ich es sehe. Es. Und ich höre mich selbst, wie ich es sage, nicht einfach im Kopf, es sind Worte, wirkliche Worte, welche die Stille durchschneiden, die mir mit einem Mal unerträglich vorkommt, die Stille macht mich rasend, warum sagt niemand etwas, es ist zu leise, hört hier denn niemand, wie leise es ist, sie schmerzt, diese Stille, und deshalb sage ich es jetzt laut heraus. Ich höre mich selbst, klar und deutlich.

Gegrüsst seist Du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebeneidet ist die Frucht Deines Leibes Jesus. Gegrüsst seist Du Maria, voll der Gnade… die Frucht Deines Leibes… gebenedeit ist die Frucht… Gegrüsst seist Du Maria… gebenedeit unter den Frauen… der Herr ist mit Dir…
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MarianneK Tür ... - Wenn man anfängt kann man gar nicht mehr aufhören, denn sie ist spannend geschrieben. Vielleicht reagiert jeder anders der diesen dunklen Raum betreten würde, so wie er sich gerade fühlt.

Liebe Grüße Marianne

Vor langer Zeit - Antworten
millius Re: Re: Re: Türen -
Zitat: (Original von qed am 13.04.2008 - 14:37 Uhr) Es war bei mir nicht mal das, die Ungewissheit - sowas mag ich nämlich eigentlich auch fast lieber -, was mich anfänglich gestört hat, sondern dieses Gebet. Nachdem ich aber deinen Kommentar hier weiter unten gelesen habe, glaube ich die Geschichte, oder das Ende etwas besser verstehen können. Es ist die Flucht des Menschen in die Religion, selbst wenn er nicht gläubig ist und seine Situation auswegslos erscheint. Das hat mich am Anfang etwas gestört, mittlerweile gefällt es mir eigentlich sogar.


Ah so, alles klar. Ja, so war es gemeint, es war also nicht etwa ein Versuch, hier zu missionieren... ;-) Ich bin sehr weit von kirchlichen Dingen entfernt... aber für mich ists ein guter Hinweis, dass es so noch zu wenig klar herauskommt, wie ichs meine. Danke.
Vor langer Zeit - Antworten
qed Re: Re: Türen - Es war bei mir nicht mal das, die Ungewissheit - sowas mag ich nämlich eigentlich auch fast lieber -, was mich anfänglich gestört hat, sondern dieses Gebet. Nachdem ich aber deinen Kommentar hier weiter unten gelesen habe, glaube ich die Geschichte, oder das Ende etwas besser verstehen können. Es ist die Flucht des Menschen in die Religion, selbst wenn er nicht gläubig ist und seine Situation auswegslos erscheint. Das hat mich am Anfang etwas gestört, mittlerweile gefällt es mir eigentlich sogar.

Zitat: (Original von millius am 13.04.2008 - 14:20 Uhr)
Danke. Ich sehe aus Deinen und weiteren Kommentaren, dass offenbar ein völlig eindeutiger Schluss besser angekommen wäre. Das muss ich so akzeptieren. Ich selbst mag Geschichten mit offenem Ausgang, und für mich ist klar, dass das Stossgebet am Schluss beim Betreten des Raumes gleichbedeutend mit einer furchtbaren, tragischen Entdeckung im Zimmer ist. Diese genauer auszuführen hätte mir widerstrebt. Aber das ist natürlich absolut Geschmackssache.
Vor langer Zeit - Antworten
millius Re: Türen -
Zitat: (Original von qed am 13.04.2008 - 12:16 Uhr) Die Geschichte hat einen guten Spannungsaufbau, auch metaphorik, und gefällt mir bis auf den Schluss sehr gut.


Danke. Ich sehe aus Deinen und weiteren Kommentaren, dass offenbar ein völlig eindeutiger Schluss besser angekommen wäre. Das muss ich so akzeptieren. Ich selbst mag Geschichten mit offenem Ausgang, und für mich ist klar, dass das Stossgebet am Schluss beim Betreten des Raumes gleichbedeutend mit einer furchtbaren, tragischen Entdeckung im Zimmer ist. Diese genauer auszuführen hätte mir widerstrebt. Aber das ist natürlich absolut Geschmackssache.
Vor langer Zeit - Antworten
qed Türen - Die Geschichte hat einen guten Spannungsaufbau, auch metaphorik, und gefällt mir bis auf den Schluss sehr gut.
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Fesselnde Geschichte... - Ich konnte mit lesen nicht aufhören, und das ist immer ein gutes Zeichen! :)
*****
vlg, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
Trollbaer Türen - Es war deine Tür, die mich neugierig gemacht hat und mich zum Weiterlesen bewog. Sehr interessant und spannend, allerdings dieses Ende...hm, ungewöhnlich
Gruß Detlev
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franziw2000 ***** - Ja sehr spannend. Habe zwar mit einem anderen, irgendiwe gruseligeren Ende gerechnet. Aber trotzdem *****. LG Franzi
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Rehmann Türen - Spannend und unterhaltsam geschrieben ! *****
LG
H. Rehmann
Vor langer Zeit - Antworten
millius Re: Re: Re: .......... -
Zitat: (Original von AngelofHope am 12.04.2008 - 15:05 Uhr)
schon....Aber es interessiert mich sehr xD


Im Grunde kann es alles sein, was Du Dir vorstellen kannst. In meiner eigenen Vorstellung ist es etwas, das einen Mann, der das üblicherweise wohl nicht tut, zum Beten bringt.
Vor langer Zeit - Antworten
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